Kapitel 17

Ich hatte keine schwarze Hose gefunden, deshalb trug ich eine dunkelgraue. Mum kam in einem pastellfarbenen Oberteil in die Küche, als wäre der 30. Dezember einfach irgendein fröhlicher Tag während der Weihnachtsferien, und nicht der Tag der Beerdigung von Carson Levine. Sie stutzte und hielt einen Moment inne, bevor sie sich ans andere Ende des Esstischs setzte und die Tageszeitung glatt strich, die dort lag.

»Ich wusste nicht, dass du zur Beerdigung gehen willst«, sagte sie, ohne mich dabei anzusehen. »Ich kann leider nicht. Und dein Vater hat ein wichtiges Geschäftsmeeting.«

»Warum kannst du nicht?«

Sie starrte mit leerem Blick auf die Mitte der Zeitung, aber ihre Augen bewegten sich nicht. »Ich habe etwas vor«, antwortete sie.

»Vielleicht solltest du das verschieben?« Es war ja nicht so, als würden bei uns jeden Tag Kinder sterben. Tatsächlich war Carson das erste, jedenfalls soweit ich wusste. Oder das zweite, wenn man mich mitrechnete.

»Das geht leider nicht. Ich treffe mich mit deinem Vater und einigen Kunden in seinem Büro. Es ist aber völlig in Ordnung, wenn du nicht hingehst. Niemand wird dir das übel nehmen.«

»Unglaublich«, sagte ich, aber sie sah immer noch nicht auf.

Ich ging nach oben und bereitete mich auf ein schwieriges Telefongespräch vor.

»Decker«, überfiel ich ihn sofort, nachdem er abgenommen hatte, »ich brauche eine Mitfahrgelegenheit.«

»Wohin?«

»Zur Beerdigung.«

Kurze Pause. »Ich wusste nicht, dass du gehst.«

»Warum sollte ich nicht?« Mir war klar, dass die Situation angespannt war, aber ich dachte immer noch, dass er mich mitnehmen würde.

»Warum fährt deine Mum dich nicht?«

Ich seufzte laut in den Hörer. »Sie will zu meinem Vater ins Büro. Offensichtlich hat sie Wichtigeres zu tun.«

»Meine Eltern kommen auf alle Fälle, obwohl sie heute eigentlich nach Boston fahren wollten. Die jährliche Neujahrsparty bei meiner Tante.«

Ich gab ein solidarisches Grunzen von mir. »Immerhin sind deine Eltern nicht egoistisch.«

»Es ist ganz und gar nicht egoistisch, wenn du nicht hingehst, Delaney. Alle wissen, dass du eine Menge durchgemacht hast. Und immerhin, ich meine, du hast ihn …«

Sterben sehen. Tot. Dachten sie etwa, ich käme mit der Beerdigung nicht klar?

»Ich gehe hin.«

»Okay«, sagte er nach einer kurzen Pause. »Wir … ich wollte danach zu Kevin. Du kannst mit meinen Eltern zurückfahren. Wenn du willst …«

Doch das war keine Frage.

Obwohl wir früh da waren, war der Parkplatz schon ziemlich voll. Schüler aus unserer Schule drängten sich in Dreier- und Vierergruppen an der Treppe. Lehrer standen herum und unterhielten sich leise. Viele hatten Carson seit der Grundschule gekannt. Daneben hielten sich Elternpaare an der Hand und ließen ihre eigenen Kinder nicht aus den Augen.

Deckers Eltern fuhren in die Parklücke direkt neben uns. Seine Mutter umarmte ihn, was ihm sichtlich peinlich war. Er hatte zwar die Arme um ihre Taille gelegt, aber die Hände waren zu Fäusten geballt. Sie trat einen Schritt zurück, strich ihm übers Haar und sah dann mich an, mit Tränen in den Augen. »Bist du sicher, dass du da reingehen willst, Liebes? Ich kann dich gern zurückfahren.«

»Ich bin sicher.«

Sie tauschte einen langen Blick mit Decker, dann betraten wir gemeinsam den geheizten Vorraum. Deckers Eltern gingen weiter in die Leichenhalle, ich schlüpfte aus meinem unangemessenen roten Anorak und wandte mich zur Garderobe.

»Bin gleich wieder da«, sagte ich.

Decker lief zu unseren Freunden hinüber. Kevin und Justin saßen nach vorn gebeugt auf einer Bank und starrten ungläubig in den Raum. Selbst auf die Entfernung machte es den Eindruck, als hätte keiner der beiden seit Carsons Tod ein Auge zugemacht. Justin hatte die Unterarme auf die Beine gestützt, sein Blick war auf den Boden gerichtet.

Ich hängte meinen Anorak auf einen Bügel und folgte Decker. Als er sich neben Justin setzte, schaute er auf und klopfte Decker auf den Rücken. Dann entdeckte Justin mich und erstarrte.

Auch Kevin hob den Kopf. Beide starrten mich mit zu Schlitzen verengten Augen an und pressten die Lippen aufeinander. Decker sah zwischen uns hin und her und fuhr sich mit den Fingern durch die wirren Haare. Gerade als er aufstand, um etwas zu sagen, kam Janna aus der Leichenhalle zu uns in den Vorraum.

Sie trug ein weites, langes schwarzes Kleid, ihre Haare waren straff nach hinten gekämmt und zu einem Dutt gedreht. Die Frisur saß perfekt. Tara begrüßte sie zuerst. Sie umfasste Janna fest und wiegte sie hin und her wie damals bei mir. Außer, dass Janna nicht kotzte. Sie erwiderte die Umarmung. Dann ging Janna weiter und griff nach Justins Ärmel. Während sich die beiden in den Armen hielten, entfuhr Tara ein unterdrücktes Schluchzen und Decker legte ihr einen Arm um die Schulter.

Jetzt, wo Janna da war, würden Kevin und Justin doch sicher damit aufhören, mich mit Blicken zu durchbohren. Meine Herzmassage hatte nichts gebracht. Ich hatte ihn nicht zurückgeholt. Aber ich hatte es versucht. Ich war die Einzige, die es versucht hatte. Ich berührte Jannas Arm, sie drehte den Kopf und schaute mich mit tränenfeuchten Augen an.

Und dann wurde sie ganz starr wie Justin eben auf der Bank. Ich trat verwirrt einen Schritt zurück. Sie streckte den Zeigefinger aus und deutete auf mich.

»Du«, sagte sie wütend, »du hast nicht das Recht, hierher zu kommen und ein trauriges Gesicht zu machen.« Justin hielt ihren anderen Arm fest, zog sie aber nicht zurück. »Wer elf gottverdammte Minuten ohne Sauerstoff unter Wasser überlebt hat, hat nicht das Recht, bei der Beerdigung meines Bruders aufzutauchen.« Sie schluchzte und wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. »Du hast kein Recht, hier zu sein, ohne einen einzigen Kratzer, als ob nichts passiert wäre, als du …« Sie stöhnte auf. »Wo zum Teufel seid ihr hingefahren? Ich hatte dir gesagt, dass du die Finger von ihm lassen sollst. Ich hatte es dir gesagt

Ich hielt den Atem an. Durch den Sauerstoffmangel begann mein Blickfeld an den Rändern zu verschwimmen. Ich weiß noch, dass ich Deckers Hände an meinen Armen spürte und seine Stimme hörte, die zu Janna sagte: »Ist gut, ist ja gut.« Dann zog er mich nach draußen.

Ich weiß noch, dass sie mich anstarrten und Decker meinen hellroten Anorak holte und ihn mir über die Schultern hängte, und dass mich alle noch mehr anstarrten, als ich ausrutschte und die Treppe hinunterfiel. Frisches Blut auf altem Schnee.

Decker öffnete die Beifahrertür und schob mich ins Auto.

»Wolltest du deshalb nicht, dass ich komme?«, fragte ich, als ich meine Stimme wiedergefunden hatte. »Hast du es gewusst?« Sie alle hatten mein Leben gerettet, aber ich nicht seins. Es war ein Handel, wie Decker gesagt hatte. Ein Handel, auf den sich außer Decker niemand eingelassen hätte. Niemals.

»Es tut mir leid«, sagte er. Er beugte sich über mich, um den Schlüssel ins Zündschloss zu stecken und die Heizung aufzudrehen, während ich dem Drang widerstand, meine Hand auszustrecken und ihn zu berühren. Ihn zu bitten, bei mir zu bleiben. Er stand neben der offenen Fahrertür, eine Hand auf dem Dach, und schaute zwischen der Leichenhalle und mir hin und her. Dann seufzte er und schlug die Tür zu.

Während sie drinnen gemeinsam trauerten, dachte ich an all das, was ich hätte tun sollen, aber nicht getan hatte. Ich hätte Carson dazu bringen sollen, sich auf den Boden zu legen. Ich hätte den Notarzt rufen sollen, bevor wir losfuhren. Ich hätte weiter zu Kevin fahren sollen, wo alle hätten helfen können. Dann hätten wir die Schuld gemeinsam tragen können. Hätte irgendetwas davon einen Unterschied gemacht?

Deshalb waren meine Eltern nicht gekommen. Sie hatten nichts Wichtigeres zu tun. Sie waren keine Egoisten. Sie wussten Bescheid. Es wäre ihre Rolle gewesen zu trauern, Beileidsbekundungen entgegenzunehmen. Sie hätten die mit dem toten Kind im Sarg sein sollen.

Ich öffnete Deckers Notfallbox, denn das war ein Notfall. Ich warf Chipstüten und Schokoriegel auf die leere Rückbank und schleuderte eine Limodose gegen das Heckfenster. Offensichtlich bohrte irgendetwas ein Loch in die Aluminiumhülle, denn danach war ein konstantes Zischen von entweichender Luft zu hören. Ich schob die Signalfackeln beiseite und fand meine fast schon vergessenen Schmerztabletten. Ich drückte eine aus der Folie heraus, steckte sie in den Mund und schluckte. Ich konnte spüren, wie sie langsam die Speiseröhre hinunterrutschte.

Ich wartete auf die Wirkung, aber es kam keine. Es würde auch keine kommen. Das war etwas anderes als eine gebrochene Rippe oder starke Kopfschmerzen oder eine Verbrennung an der Hand.

Troy hatte es längst richtig erkannt. Ich konnte sie nicht retten. Das Beste, auf das ich hoffen konnte, war, ihr Leiden zu erleichtern.

Deshalb rutschte ich über die Notfallbox auf den Fahrersitz, stellte ihn auf meine Beinlänge ein und rollte aus der Parklücke.

Ich fuhr aus der Stadt heraus in das Tal, dorthin, wo ich das Ziehen gespürt und die alte Frau gesehen hatte. Ich fuhr die schmale Straße hinunter bis zu dem gelben Haus mit den weißen Vorhängen. Ich hielt an und stieg aus. Ich würde ihr Leiden lindern.

Als ich die Straße überquerte, roch ich den feuchten Asphalt. Ich stieg die angefaulten Holzstufen hoch auf die Veranda, die sich rund um das Haus zog, und hörte meine Schritte im Hohlraum darunter widerhallen. Die Schaukelstühle bewegten sich nicht, obwohl ein leichter Wind wehte. Als würden sich die darauf sitzenden Geister nach vorn lehnen und mich beobachten.

Die weißen Vorhänge waren zugezogen. Kein eingefallenes Gesicht am Fenster, das mich beobachtete. Von diesem Haus ging keine Energie aus. Ich blieb vor der braunen Tür stehen und presste die Hände flach dagegen. Dann drückte ich auf den Klingelknopf. Das Summen drang durch das ganze Haus. Aber ich wusste, dass mir niemand öffnen würde.

Dann kniff ich die Augen zu, denn ich spürte, dass jemand hinter mir die Stufen hochstieg – und ich wusste genau, wer es war.

»Sie wurde vor einer halben Stunde abgeholt«, sagte Troy.

Ich fuhr herum und stemmte meine Fäuste in die Hüften. »Was hast du gemacht?«, stieß ich hervor.

Eine eisige Windböe fegte über die Veranda und Troy krümmte sich zusammen. »Spielt das eine Rolle?« Er legte den Kopf schief. »Was machst du eigentlich hier, Delaney? Was hattest du vor?«

Seine Augen wirkten noch blauer als sonst, als ob er etwas eigentlich Unsichtbares sehen würde. Hoffnung vielleicht. Aber dann wurde mir klar, dass er nur darauf hoffte, dass ich genau so werden würde wie er. Und ich wusste nicht, wie ich erklären sollte, was ich gerade vorgehabt hatte, und mit welchem Ziel.

Deshalb sagte ich: »Ich hatte vor, dich aufzuhalten.« Dann schob ich ihn zur Seite, rannte die wackligen Stufen hinunter und sprang ins Auto. Doch anstatt nach Hause, fuhr ich noch einmal um den Block, parkte hinter dem Haus und wartete. Irgendetwas rief immer noch nach mir. Ich saß da und schaute nach draußen, aber es passierte nichts. Und irgendwann spürte ich die Leere. Alles im Haus war tot.

Die Sonne ging gerade unter, als ich zurück zu Decker fuhr. Ich parkte in der Einfahrt und versuchte, den Fahrersitz wieder zurückzustellen. Dann kroch ich auf die Rückbank und begann, die Unordnung zu beseitigen. Die Limo war vom Heckfenster auf den Boden gelaufen und hatte eine kleine Pfütze hinterlassen. Ich war gerade dabei, den Müll aufzuheben, als Decker die Beifahrertür öffnete. Ich erstarrte, einen Schokoriegel in der einen, eine verbeulte Limodose in der anderen Hand.

»Du hast mein Auto geklaut!«

Ich stopfte den Schokoriegel und die Dose in meine Anoraktaschen. Ich wollte nicht über diese Beerdigung sprechen. »Von wegen Auto. Das ist ein Minivan. Das verdrängst du nur.«

Er bemühte sich, nicht zu lächeln, was ihm aber nicht ganz gelang. »Und eingesaut hast du es auch.«

»Woher willst du das wissen? Wann hast du diesen Müllhaufen das letzte Mal sauber gemacht?«

Wir warteten ab, denn keiner von uns wusste, was er sagen sollte.

»Dann hol doch mal ein paar Putztücher und Sprühreiniger und hilf mir«, ergriff ich schließlich das Wort.

Und Decker gehorchte, entweder erleichtert oder enttäuscht von unserer fehlenden Bereitschaft, miteinander zu reden.

Er sprühte, ich wischte. Als ich ihm ein dreckiges Papiertuch ins Gesicht warf, lächelte er sogar.

»Hör zu«, begann ich, »was habe ich gestern gesagt?«

»Du musst das nicht machen.«

Aber ich tat es. Ich wusste nur nicht, wie ich es wieder rückgängig machen konnte. Wie ich es ungeschehen machen konnte. Wie ich ihm sagen konnte, was ich gefühlt hatte. Und während ich darüber nachdachte, sagte Decker: »Mir geht es gut, Delaney.«

Und das war der Punkt. Es ging ihm gut mit Tara und mit uns, wie es gerade war. Es würde ihm auch ohne mich gut gehen.

Deshalb stieg ich aus. »Da bin ich froh«, sagte ich nur und ging. Ich blieb im Dunklen auf der Türschwelle stehen und sah Decker zu, wie er im Licht der Laterne das Auto weiter sauber machte. Ich ließ meinen Blick die Straße hinunterwandern, hinein in die Dunkelheit. Ich wusste, dass Troy dort war. Ich wusste, dass er auf mich wartete.

Ich ging ins Haus, machte die Tür hinter mir zu und drehte den Schlüssel zweimal um. Ich schloss auch meine Zimmertür ab, nur zur Sicherheit. Und dann sah ich so lange aus dem Fenster, bis Decker wieder im Haus war. Nur zur Sicherheit.