Kapitel 2

Ich erwachte durch einen Schrei. Meine Haut war wund und ich konnte wieder etwas spüren. Ich konnte alles spüren. Alles. Der leichteste Lufthauch auf meinem Gesicht fühlte sich an wie eine Messerklinge. Die Bettdecke war so schwer wie eine Betonplatte, die Laken waren rau wie Sandpapier und schabten über meine Haut.

Unter all dem Schmerz spürte ich aber noch etwas anderes. Etwas Unnatürliches. Mein Körper schien in alle Richtungen auseinandergerissen zu werden, nach oben, unten, links, rechts, vor, zurück. Als wären die Fasern, die meinen Körper zusammenhielten, durchtrennt worden. Als würde ich auseinanderfliegen. In meinem Kopf schlug eine Trommel, sie dröhnte im Takt meines Herzens. Sie dröhnte und dröhnte, bis ich das Gefühl hatte, als würde mein Schädel dem Druck nicht mehr standhalten und platzen.

Menschen eilten herbei, starrten auf die Blutlache am Boden, auf den frei baumelnden Infusionsschlauch, der meine Medikamente nicht mehr in meinen Körper leitete, und dann schauten sie sich an. Sie bewegten hektisch die Lippen, aber durch mein Schreien konnte ich sie nicht verstehen – bis etwas in meinen Arm stach und alle Gefühle verschwanden. Das Schreien verstummte.

»Warum sollte sie sich den Infusionsschlauch herausziehen? Warum sollte sie sich selbst verletzen und es dann jemand anderem in die Schuhe schieben?«, fauchte meine Mutter draußen auf dem Gang. Leider schrie der Arzt nicht zurück, sodass ich nur die Hälfte des Gesprächs mitbekam.

Die Ärztin, die mir in den Arm gestochen hatte, tat so, als höre sie nichts. Sie machte viele unnötige Geräusche, um den Lärm vor der Tür zu übertönen.

»Sie sagt, sie hat einen Mann gesehen. Sie sagt, er hat sie geschnitten. Meine Tochter lügt nicht.«

Leises Murmeln.

»Woher sollte sie ein Rasiermesser haben? Und warum sollte sie das tun? Wie … wie …«

Scharfes Flüstern.

»Halluzinationen? Durch die Medikamente?«

Mehr sagten sie nicht. Mum, Dad, Dr. Logan und Melinda, die Krankenschwester, kamen ins Zimmer und formten einen Halbkreis um mein Bett. Dr. Logan blickte mich mit einer Mischung aus Sorge und Überheblichkeit an, wie Dad es immer getan hatte, wenn ich nachts aus Angst vor einem Monster geschrien hatte.

»Jemand war in meinem Zimmer«, platzte ich heraus, bevor einer von ihnen etwas sagen konnte.

Dr. Logan nickte und Mum tätschelte mir die Hand. Dad begann durch den Raum zu tigern.

»Hirnverletzungen können oft zu Halluzinationen führen«, erklärte der Arzt.

Eine Träne quoll aus Mums Auge, rann die Wange hinab und tropfte auf ihre Schulter, wo sie einen dunklen Fleck auf ihrer Seidenbluse hinterließ.

Dr. Logan zeigte auf meine Stirn. »Bald werden wir mal nachsehen, was hier oben vorgeht.«

Der Tag schleppte sich dahin. Ich zog in ein anderes Zimmer um. Es lag eine Etage tiefer, hatte hellblau gestrichene Wände und ein eigenes Bad. Ein beruhigendes Gefühl. Helle Wände in einer freundlichen Farbe. Man vermutete offenbar, dass ich bei Bewusstsein war und die Veränderung wahrnehmen würde. Aber ich spürte immer noch dieses seltsame Gefühl, auseinandergerissen zu werden, genau wie letzte Nacht, nur nicht ganz so stark. Ein Ziehen und Zerren an meinem Körper, nach oben, unten, rechts und links. Mal war es stärker, dann ließ es wieder nach. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und drückte die Hände fest auf meine Rippen, aber das Gefühl verschwand nicht.

Decker kam nach der Schule und setzte sich direkt neben mein Bett. So nah wie es eben ging, ohne mich zu berühren. Wir sahen uns gemeinsam das Nachmittagsprogramm im Fernsehen an und sagten kein Wort, aber es fühlte sich trotzdem gut an. Wir kannten einander lange genug, wir mussten die Stille nicht füllen. Außerdem schien er keine Lust zu haben, sich zu unterhalten.

Später wurde ich zu meinen Tests gebracht, die mir aber gar nicht wie Tests vorkamen, denn ich musste nichts machen, sondern einfach nur daliegen, während Geräte schepperten und dröhnten und Bilder von meinem Gehirn machten.

Auch an diesem Abend kam Melinda und wechselte die Infusionsbeutel. »Heute gibt’s nur eine schwache Dosis, Schätzchen.« Dann legte sie die Schlaftablette auf meine Zunge und hielt mir den Becher an die Lippen, genau wie am Vorabend. Sie flüsterte ein paar beruhigende Worte, strich mir das Haar aus dem Gesicht – und band meine Arme am Bett fest.

Am nächsten Morgen wurden alle Schläuche gezogen. Samstag, dachte ich und versuchte mich zu orientieren. Allmählich spürte ich das Ziehen wieder stärker. Äußerlich und innerlich. Eine andere Krankenschwester, eine, die nicht lächelte, schüttete mir eine Schachtel voller Pillen in den Mund und zwang mich zu trinken und zu schlucken. Ich vermisste die Schläuche.

Als Dr. Logan das Zimmer betrat, nickte er meinen Eltern zu und drückte auf einen Schalter. An der Wand leuchtete ein weißer Bildschirm auf. Trotz der Schmerzmittel taten mir bei jedem Atemzug die Rippen weh. Noch schlimmer aber war das Surren der leuchtenden Wand, als würde im Mittelpunkt meines Gehirns etwas jucken. Dr. Logan schob eine Aufnahme vor den Bildschirm.

»Lass uns mal schauen, Delaney«, begann er, »zuerst die Kernspinaufnahme eines normalen Gehirns.« Er zeigte auf die Schnittbilder des menschlichen Gehirns, drei Reihen aus je drei Bildern. Ich stellte mir vor, auf ihnen Tic Tac Toe zu spielen. Die Abbildungen sahen aus wie Schwarz-Weiß-Fotos von halbierten Früchten, die mit einer alten Kamera aufgenommen worden waren. Alle Bilder hatten verschiedene Grauschattierungen.

Er nahm eine andere Aufnahme und befestigte sie vor dem Bildschirm. »Und das ist deine aktuelle Kernspinaufnahme.« Die Schnittbilder meines Gehirns sahen wesentlich interessanter aus. Kleine helle Flecken durchbrachen in regelmäßigen Abständen die Grauschattierungen. Auf einem Bild war sogar ein schmaler heller Streifen zu erkennen, als hätte jemand das Bild mit einem Pinsel bearbeitet. Ich sagte nichts. Meiner Meinung nach sah mein Gehirn schöner aus, aber es war definitiv nicht normal. Ein atypisches Gehirn war keine gute Nachricht. Meine Mutter quetschte meine rechte Hand. Dads geräuschvolles Einatmen klang wie ein Röcheln.

»Wie man sieht, liegt eine erhebliche Verletzung vor. Diese hellen Flecken sind Zeichen von abnormem Gewebe.« Dr. Logan bewegte seinen Unterkiefer und atmete hörbar aus.

Ich wartete auf das »aber«, wie zum Beispiel: »Aber es hat sich herausgestellt, dass du diese Teile deines Gehirns nicht brauchst.«

Stattdessen sagte er: »Das ist in der Tat sehr überraschend, weil du zu hundert Prozent wach bist, dein Erinnerungsvermögen und dein Sprachzentrum funktionieren. Alle Neuronen feuern, wie wir Ärzte gern sagen.« Er steckte die Hände in die Taschen seines weißen Kittels. »Ich habe keine Ahnung, wie das möglich ist.«

Ich berührte mit den Fingerspitzen meinen Haaransatz. »Ich habe ein beschädigtes Gehirn? Ich habe einen Hirnschaden?«

»Ja und nein. Technisch gesehen, ja. Aber du zeigst nicht die Symptome eines Hirnschadens.«

»Was stimmt denn nicht mit meinem Gehirn?«

Er kratzte sich an einem Büschel seiner grau melierten Haare. »Nach dieser MRT-Aufnahme stimmt einiges mit deinem Gehirn nicht. Du müsstest eigentlich massive Probleme haben, dich zu erinnern, sowohl was das Langzeit- als auch das Kurzzeitgedächtnis angeht. Hast du aber nicht. Du müsstest eigentlich eine Sprachbehinderung, Wahrnehmungsstörungen und Koordinierungsprobleme haben. Hast du aber nicht. Außerdem müsstest du eigentlich noch im Koma liegen oder in einem ähnlichen Stadium sein.«

Panik stieg in mir auf, mein Brustkorb zog sich zusammen, die Rippen taten weh. Aber in diesem Moment hatte ich nichts gegen körperliche Schmerzen einzuwenden. Sie lenkten mich von meinem mentalen Schock ab. Was, wenn das alles nur für den Augenblick so war? Wenn die Natur ihren Fehler bemerken und mich wieder ins Koma zurückversetzen würde? Wie eine leere Muschel?

Vorsichtig berührte ich meinen Kopf an der Schädeldecke und flüsterte: »Werde ich sterben?«

Dr. Logan lehnte sich nach vorn und schüttelte den Kopf. Aber so ganz verneinen konnte er es nicht. »Ehrlich gesagt weiß man noch sehr wenig über das Gehirn. Sehr, sehr wenig.«

Wenn er mich damit beruhigen wollte, hatte er sein Ziel verfehlt. Aus dem Mund eines Neurologen war eine solche Aussage geradezu grauenerregend.

»Also werde ich nicht sterben?«

Dr. Logan klatschte in die Hände und blickte in Richtung Himmel, als ob er von dort eine Antwort erwartete. Als keine kam, seufzte er und sagte: »Heute nicht.«

Ich glaubte ihm kein Wort.

»Ich weiß nicht, wie dein Körper mit dieser massiven Verletzung weiterleben wird«, fuhr Dr. Logan fort. »Es sieht so aus, als würden andere Bereiche deines Gehirns die Funktionen der beschädigten Teile übernehmen.«

Mum klopfte doppelt so schnell mit dem Absatz auf den Boden, wie sie sprach. »Also«, tapp, tapp, tapp, »wird sie wieder gesund.« Tapp, tapp, tapp. Sie legte mir eine Hand auf die Stirn.

Dr. Logan verzog die geschlossenen Lippen zu einem nichtssagenden Lächeln. »Wir beginnen mit der Reha, sobald alle Formalien geklärt sind. Dann werden wir mehr wissen.«

Dad pustete sich ein paar Haare aus den Augen. Er war blond, genau wie ich, und bis jetzt hatte er noch kein einziges graues Haar. Mit seinem Wuschelkopf und den leicht zerknitterten Klamotten sah er fast cool aus. Aber das Bild täuschte.

Ich hatte meinen Vater nur ein einziges Mal mit verwuschelten Haaren gesehen: im Urlaub. Und auch nur deshalb, weil Mum vergessen hatte, das Haargel einzupacken. Sonst gelte er sich jeden Morgen die Haare akkurat nach hinten, zog Slipper und Krawatte an und ging in seine kleine Buchhaltungsfirma. Das war mein richtiger Vater. Dieser unordentlich gekleidete Mann mit dem Wuschelkopf an meinem Krankenhausbett musste ein Betrüger sein.

Dad hatte früher für eine große Wirtschaftsprüfungskanzlei gearbeitet und war den größten Teil der Woche unterwegs gewesen, um Rechnungsprüfungen zu machen. Als ich in der Grundschule war, verließ er die Firma und gründete im Nachbarort eine eigene Kanzlei. Nur er und seine Sekretärin. Niemand hier in unserer Gegend verdiente genug, um ihn zu einem reichen Mann zu machen, aber es genügte, um die Rechnungen zu bezahlen. Und Dad kam jeden Abend nach Hause. Er war zufrieden.

»Wird das alles von der Versicherung übernommen?«, fragte er. Das klang schon eher nach dem Vater, den ich kannte.

»Das müssen Sie mit der zentralen Rechnungsstelle klären.« Dr. Logan nahm die MRT-Bilder und stapelte seine Unterlagen auf dem Tresen.

Ich spürte an der Seite meines Kopfes ein Jucken und kratzte mich. War das die Stelle, an der mein Hirn beschädigt war? Oder hatten sich dort die Nervenzellen neu vernetzt? Vielleicht war es das Summen. Vielleicht war aber auch alles so kaputt, dass die Neuronen nur nach dem Zufallsprinzip feuerten und mir suggerierten, dass da etwas juckte, was aber gar nicht stimmte.

»Ich bin okay«, sagte ich, obwohl mein Körper in alle Richtungen auseinandergezogen wurde, obwohl es auf meinem Hirnscan leuchtete wie bei einem Feuerwerk am Unabhängigkeitstag.

»Ich bin okay«, sagte ich noch einmal. Vielleicht würde es wahr werden, wenn ich es nur oft genug wiederholte.

Mum klopfte weiter mit dem Absatz auf den Boden, Dad starrte aus dem Fenster, wahrscheinlich rechnete er. Dr. Logan schaute mich an, aber er schaute mir nicht in die Augen. Er blickte etwas höher, dorthin, wo sich die neurologische Anomalie eingenistet hatte. Dann verließ er das Zimmer.

Kaum war der Arzt draußen, kam Decker herein und schüttete den Inhalt seines Rucksacks am Fußende meines Bettes aus. Dad fasste Mum am Ellbogen und zog sie aus dem Zimmer, dabei flüsterte er ihr etwas ins Ohr.

Die Spannung im Raum schien Decker gar nicht zu bemerken. »Gute-Besserungs-Karten«, sagte er und warf mir eine Handvoll davon in den Schoß.

»Was zu essen.« Er legte drei Burger und zwei Portionen Pommes auf die schwenkbare Tischplatte des Nachttischs und drehte sie zu mir.

Ich wandte den Blick von dem inzwischen ausgeschalteten Bildschirm ab, der mich als beschädigt ausgewiesen hatte. Decker hatte es nicht gesehen.

Ich lächelte ihn an. »Für wen ist der dritte?«, fragte ich.

Er grinste und schob den Burger ein wenig weiter in seine Richtung.

»Und, deinem Wunsch entsprechend, die Hausaufgaben.« Er legte drei Bücher in der Nähe meiner Füße auf das Bett. »Nur damit das klar ist: Ich glaube, du spinnst. Niemand erwartet, dass du Hausaufgaben machst.«

Decker hatte Recht. Als potenzielle Tote, die eigentlich im Koma liegen müsste und als medizinisches Wunder gilt, war man mehr als nachsichtig mit mir. Ich konnte aber immer noch Jahrgangsbeste werden. Ich hatte erst eine Schulwoche verloren. Das könnte ich aufholen.

»Was sind das für Hausaufgaben?«

Decker zuckte mit den Schultern und biss herzhaft in seinen Burger. »Janna kommt später.«

»Oh.« Es war eine Überraschung, dass ausgerechnet Janna aus meiner Klasse kommen wollte. Sie und ich waren zwar seit der Grundschule in einer Clique und saßen beim Mittagessen am gleichen Tisch, aber wir waren nur »befreundet«, weil wir die gleichen Freunde hatten.

Außerdem war sie Carsons jüngere Schwester. Beide hatten einiges gemeinsam: grüne Augen, blonde Locken, schelmisches Lächeln. Doch zu Jannas Pech waren ihre Augen etwas kleiner als die ihres Bruders, ihre Locken waren nicht zu bändigen und ihre Vorderzähne standen zu weit auseinander. Aber im Gegensatz zu Carson, der nur in unserer Klasse war, weil er eine Ehrenrunde drehte, war Janna klug. Richtig klug. Die-Zweitbeste-in-der-Klasse-klug. Was auch die Erklärung sein könnte, warum wir nie enge Freundinnen geworden waren.

Aber vielleicht ab jetzt.

Decker sagte, dass alle, die ich kannte – und sogar viele, die ich nicht kannte –, mich besucht hatten, während ich bewusstlos gewesen war. Sie hatten geweint und sich auf dem Flur umarmt. Offensichtlich war ich wesentlich spannender, wenn ich technisch gesehen tot war. Aber seit ich aus dem Koma erwacht war, durften mich nur die Kids vom See und die Mädchen aus meiner Klasse besuchen – und streng genommen besuchten sie nur meine Eltern, denn ich war damit beschäftigt, untersucht und gescannt zu werden. Mittlerweile hatte der Reiz des Neuen nachgelassen. Ich war seit drei Tagen wieder wach und nur Decker kam noch zu mir in die Klinik. Und Janna, wie es schien. Außerdem war Wochenende. Es gab samstags und sonntags ohne Zweifel aufregendere Möglichkeiten, sich die Zeit zu vertreiben, als an einem Krankenhausbett zu sitzen. Oder bei mir.

»Decker«, sagte ich. Ich legte meinen Burger auf die Tischplatte und wartete, bis er dasselbe tat. Ich bekam seit Tagen nur nichtssagende oder ausweichende Antworten. »Was ist da draußen passiert?« Ich machte eine Geste in Richtung Fenster und hoffte, dass das grob die Richtung zum See war.

»Du bist hingefallen … Ich habe dich alleingelassen und du bist hingefallen«, antwortete Decker. Er umklammerte das Geländer meines Bettes so fest, dass seine Knöchel weiß wurden – und dann stürmte er aus dem Zimmer. Seinen zweiten Burger ließ er liegen.

Während ich meine Pommes und Deckers zweiten Burger aß, kam Mum.

»Sag mir, was am Falcon Lake los war«, drängte ich.

»Du bist hingefallen und Decker hat dich rausgezogen«, erwiderte sie und meinte, ich sollte besser nichts mehr sagen. Bald, versprach sie, tapp, tapp, tapp, dürfte ich nach Hause.

Da war diese Lücke in der Zeit und niemand wollte sie füllen.

Janna erzählte es mir an diesem Abend. Sie saß auf meiner Bettkante und hielt meine Hand. Ich bin nicht einmal sicher, ob sie wusste, dass sie das tat. Aber ich ließ sie gewähren und sie erzählte.

Nach meinem Sturz war Decker sofort aufs Eis gerannt. Aber der eher mutige Kevin Mulroy und der eher feige Justin Baxter packten ihn, bevor er zu nahe ans Loch kam, und zogen ihn zurück ans Ufer. Decker schrie die ganze Zeit meinen Namen. Er wehrte sich so sehr gegen den Griff der anderen, dass dabei drei seiner Fingernägel abbrachen.

Janna rief den Notruf an: »Delaney Maxwell ist im Falcon Lake ins Eis eingebrochen. Und sie ist nicht wieder nach oben gekommen.«

Janna und Carson rannten zum Haus der McGoverns, das am nächsten lag, aber es war niemand da. Carson schlug mit einem Holzscheit das Garagenfenster ein, kletterte hindurch und nahm das Seil, das James McGovern immer zum Eisfischen mitnahm, für den Fall, dass etwas passiert.

Janna war nicht sicher, was zwischenzeitlich am See passiert war, aber als sie mit Carson zurückkam, hatte Justin eine aufgeplatzte Lippe und Kevin hielt Decker im Schwitzkasten. Er ließ ihn los, als Carson mit dem Seil kam.

Es gibt gewisse Dinge, die wir von klein auf wissen müssen, je nachdem, wo wir aufwachsen. Als ich im letzten Sommer mit meinen Eltern in Manhattan war, sah ich Kinder, die halb so alt waren wie ich, ganz selbstverständlich die U-Bahn benutzen, während mein Vater auf die Streckenkarte an der Wand starrte und die Linien mit dem Finger nachfuhr. Jugendliche in der Wüste können wahrscheinlich Wasser aus einem Kaktus pressen. Keine Ahnung. Aber hier im Norden von Maine wissen wir, wie man mit Unterkühlung umgeht und Erfrierungen verhindert – und wie man jemanden rettet, der ins Eis eingebrochen ist.

Es funktioniert folgendermaßen: Jemand bindet sich ein Seil um die Taille und legt sich flach auf den Bauch, dann robbt er langsam und vorsichtig bis zum Opfer. Wenn man kein Seil hat, bildet man eine Menschenkette. Das ist aber viel gefährlicher und meistens sind dafür nicht genügend Leute vor Ort.

Decker band sich das Seil um die Taille, und Carson, Justin und Kevin hielten das andere Ende fest, die Füße fest am Ufer verankert. Aber Decker legte sich nicht auf den Bauch. Er bewegte sich auch nicht langsam und vorsichtig. Er rannte, als ob er festen Boden unter den Füßen hätte. Das Eis hielt nicht. Als er fast am Loch war, gab es nach. Decker stürzte.

Mein leuchtend roter Anorak rettete mir das Leben. Das ist die einzig mögliche Erklärung. Als Decker hinfiel, zogen die Jungs sofort am Seil. Sie holten ihn zurück ans Ufer und sein Körper hinterließ eine Spur auf dem Eis. Aber in diesem Moment hatte er mich schon gepackt. Noch bevor sie ihn zurückziehen konnten, hatte er mich entdeckt. Das allein war schon ein Wunder.

Janna rief noch einmal den Notruf an. »Sie haben sie gefunden«, sagte sie. Und dann begann sie zu weinen.

Sie weinte auch jetzt und erzählte mir dabei, wie sie weinte, als sie mich damals gesehen hatte.

Ich war blau. Nicht das Blassblau des Himmels an einem kühlen Herbsttag oder das satte Dunkelblau einer wolkenlosen Nacht. Nein, es war ein marmoriertes Blau wie bei einer Leiche in der Leichenhalle. Ich war tot und alle wussten das.

Aber Decker packte mich an den Schultern und schüttelte mich, als würde er an ein Wunder glauben oder als wäre er komplett wahnsinnig geworden. Er riss meinen Anorak auf und begann mit der Herzdruckmassage, die Hände auf die Mitte meines Brustkorbs gepresst, wie wir es in der Schule gelernt hatten. Er hörte nicht auf, obwohl er vor Kälte zitterte. Er hörte nicht auf, als Wasser aus meinen Mundwinkeln sickerte. Er hörte nicht auf, als er mir zwei Rippen brach. Er hörte nicht auf, als drei Minuten später der Notarztwagen kam. Er hörte erst auf, als die Sanitäter ihn wegzogen und das Pressen übernahmen. Und er sprang hinten in den Krankenwagen und niemand hatte den Mut, ihn wieder rauszuschmeißen. Nach Jannas Meinung ließen sie ihn mitfahren, weil er selbst medizinisch versorgt werden musste.

Ich war tot. Genau das hatte sie gesagt. Mein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Das Blut stand still. Mein Körper war blau angelaufen. Aber ich kam zurück.

Janna ließ meine Hand los und nahm ihr Handy aus der Tasche. Sie scrollte die Anrufliste herunter.

»Hier.« Sie zeigte auf die beiden ausgehenden Notrufe.

Die Zeit zwischen den Anrufen, die Zeit unter Wasser, die Zeit ohne Sauerstoff: elf Minuten.

In elf Minuten kann viel passieren. Decker kann in elf Minuten ohne Probleme zwei Meilen rennen. Ich habe mal in zehn Minuten einen Aufsatz geschrieben. Echt wahr. Und Gott weiß, dass Carson Levine in der Hälfte der Zeit ein Mädchen verführen kann.

Unter Wasser können elf Minuten eine Ewigkeit sein. In Bio haben wir gelernt, dass man schon nach drei Minuten ohne Sauerstoff ohnmächtig wird. Ab vier Minuten kommt es zu dauerhaften Hirnschäden. Dann zum Herzstillstand. Der Tod tritt etwa nach fünf Minuten ein. Spätestens nach sieben. Definitiv nach zehn.

Decker hat mich nach elf Minuten rausgezogen.

»Ich sollte nicht am Leben sein«, sagte ich zu Decker, als er später am Abend noch einmal vorbeikam.

»Du warst in eiskaltem Wasser«, erwiderte Decker, »das verlangsamt den Stoffwechsel. Dann verbraucht der Körper nicht so viel Sauerstoff. Oder so.«

Decker gehörte in der Schule nicht gerade zu den Besten, aber er war auf eine andere Art klug. Aus Scherz hatte er einmal gesagt, er würde ein erfolgreicher Unternehmer werden und ich seine beste Angestellte. Damals hatte ich ihm mein Notizbuch auf den Kopf gehauen, aber tief in mir drin wusste ich, dass er Recht hatte.

Ich blickte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

Decker lächelte verlegen. »Ich habe es nachgeschlagen. Nachdem du … bevor du … Ich habe es nachgeschlagen. Ich musste einfach wissen, ob es eine Chance gab. Ob es überhaupt möglich war. Irgendwie.« Dann zog er einen losen Faden aus dem Ärmel seines Sweatshirts und schaute zu, wie das Gewebe sich auflöste.

»Warum benehmen sich dann alle so, als sollte ich gar nicht am Leben sein?«

»Weil es so selten ist. Ich meine, richtig, richtig selten. So wie Schnee im August.«

»Das gab’s noch nie.«

»Nein, ich glaube nicht. Aber unmöglich ist es nicht, oder?«

Am Sonntag kam Decker mit seinen Eltern. Aber sie verbrachten den Großteil der Zeit damit, meine Eltern zu trösten, was merkwürdig war, immerhin war ich diejenige, die in einem Krankenhausbett lag. Ich machte mir Sorgen, weil ich noch eine Woche in der Schule fehlte. Doch für die Ärzte war das Ausmaß meiner vermeintlichen Hirnschädigung wichtiger. Deshalb verbrachte ich den Tag mit Röntgen, Ultraschall und weiteren Untersuchungen. Als das Ergebnis immer noch das gleiche war, das heißt nicht besser, aber auch nicht schlechter, zuckte Dr. Logan mit den Schultern. Wirklich. Er zuckte mit den Schultern. Und jeder tat so, als wäre alles okay mit mir, was für mich auch okay war.

Doch ich bemerkte, wie Dr. Logan mich musterte, als niemand hinschaute. Als wüsste er tief in sich drin, dass mit mir gar nichts okay war.

Am Montagmorgen begann ich mit der Reha, während die Welt sich normal weiterdrehte. Es dauerte nicht lange, denn es stellte sich heraus, dass ich eigentlich gar keine Reha brauchte. Schon seltsam: Ich brauchte die Reha, um zu merken, dass ich keine Reha brauchte. Eine Zwickmühle. Wie in »Catch-22«. Hatten wir in der Klasse schon mit dem Buch angefangen, während ich im Koma gelegen hatte? Keine Ahnung. Auf alle Fälle stand es ganz oben auf meiner To-do-Liste.

Zuerst kam die Psychotherapeutin zu mir. Sie war dünn und hatte fast kein Kinn. Sie stand eines Morgens am Fußende meines Bettes und hielt Bildkarten in der Hand. Ohne irgendeine Einleitung sagte sie: »Identifiziere die folgenden Objekte.«

Ich folgte der Anweisung. Nacheinander zählte ich auf: »Apfel. Haus. Flugzeug. Tisch. Katze.« Dann machte ich eine Pause. Ich blinzelte und streckte den Kopf vor.

»Siehst du alles?«, fragte die Therapeutin.

»Ja.« Ich neigte den Kopf nach rechts.

Die Augen der kinnlosen Frau glänzten. »Es ist in Ordnung, wenn du dich nicht erinnerst.«

»Ich weiß nicht genau, ob es eine Gurke oder eine Zucchini ist«, erklärte ich.

Sie atmete tief aus, unterschrieb ein paar Zettel und ging aus dem Zimmer. Ich sah sie nie wieder.

Die Physiotherapie begann auch in meinem Zimmer. Ich wurde gedehnt und gestreckt und gebeugt und gezogen, bis meine Muskeln sich daran erinnerten, wie sie den Befehlen meines Gehirns gehorchen sollten. Was unheimlich war, denn anfangs gehorchten sie nicht, reagierten aber trotzdem. Nur anders. Meine Fußzehen standen nach oben anstatt nach unten, meine Knie beugten sich, anstatt sich zu strecken, und wenn ich mit meinen Füßen bestimmte Buchstaben nachzeichnen sollte, machten sie etwas ganz anderes. Buchstaben, die ich nicht lesen konnte. Als würde etwas anderes die Befehle geben. Etwas, das stärker war.

Obwohl ich am nächsten Morgen problemlos gehen konnte, bestand die diensthabende Schwester auf einem Rollstuhl, mit dem sie mich zu den Therapiestunden brachte. Der Physioraum verunsicherte mich. An der einen Wand standen Laufbänder und Fahrräder, in der Mitte des Raums waren diverse Fitnessgeräte aufgebaut. Zum Glück verlangte niemand von mir, sie zu benutzen.

Wieder führte ich Anweisungen aus und machte Koordinationsübungen. Mit meiner rechten Hand berührte ich meinen linken Hüftknochen, mit der linken die Nase. Ich wackelte mit den Zehen. Ich tanzte idiotisch herum. Während mein Physiotherapeut sich Notizen machte, sah ich mich um. Ein Mann versuchte krampfhaft, sich an einem Gerät aufrecht zu halten, das wie ein Barren aussah. Sein Unterkörper steckte in einem Stützkorsett und folgte nur widerwillig. Ich schwang meine Beine in den Rollstuhl, der eher ein Requisit als ein Hilfsmittel war. Ich blickte zu Boden, während ich zurück in mein Zimmer rollte.

Als Melinda mich zu meiner ersten und gleichzeitig letzten Ergotherapiestunde brachte, schob eine andere Schwester gerade eine Frau im Rollstuhl aus dem Zimmer.

Ich winkte und rief: »Und, hat es geholfen?« Krankenhaushumor.

Als wir auf gleicher Höhe waren, bemerkte ich, dass ihr Kopf bandagiert war und Sabber aus ihrem Mund lief. Sie drehte den Kopf leicht in meine Richtung, aber ich wandte den Blick ab.

Ich fragte mich, ob sie mich beneidete. Und dann fragte ich mich, ob sie überhaupt noch imstande war, neidisch zu sein. Vielleicht wusste sie gar nicht, wie behindert sie war. Und in einem Moment der Panik fragte ich mich, ob es bei mir genauso war.

Ich berührte mit der Hand mein Kinn, nur zur Sicherheit. Kein Sabber. Nein, ich war das Wunder. Der Glücksfall. Die Anomalie. Ich, die unkoordinierte, grobmotorische, potenzielle Klassenbeste. Ich, fast ertrunken, unterkühlt, mit gebrochenen Rippen. Ich, Delaney Maxwell, noch am Leben.