Kapitel 20

Alles wiederholte sich. Zuerst kam der Schmerz. Nadeln, die mir durch die Haut stachen, meine Eingeweide zogen sich zusammen, alles rollte sich ein, um vor der Kälte zu fliehen. Dann der Lärm. Das Rauschen des Wassers in meinen Ohren und der Schmerz meiner erfrierenden Trommelfelle.

Doch dann kam etwas Neues. Knirschender Kies unter meinen Sohlen. Eine verzerrte Stimme von oben. Ich war nahe genug am Ufer, um meine Füße auf den Seeboden aufzusetzen, die Beine zu strecken und mich nach oben zu drücken. Mein Kopf durchbrach das Eis und ich sog gierig die kalte Luft ein. Meine Schultern tauchten auf und ich grub die Ellbogen in das Eis.

Ich hustete, atmete nochmals tief ein und lachte. Ich warf den Kopf zurück in Richtung Sonne und lächelte wie an einem heißen Sommertag. Decker kauerte neben mir auf dem Eis, grinste und streckte mir eine Hand entgegen. Ich umfasste sie mit beiden Händen und er zog mich hoch.

Wir bewegten uns zentimeterweise zum Ufer und zitterten am ganzen Körper. Ich wegen der Kälte, Decker vielleicht aus Angst. Als wir die Baumgruppe erreichten, hörte ich über uns ein Räuspern.

»Habt ihr das verdammte Schild nicht gesehen?« Ein Polizist stand auf dem Felsvorsprung, die Hände in die Hüften gestemmt. Decker und ich gingen auf ihn zu. Er war nicht allein. Vor seinem Wagen standen ein Feuerwehrauto und dahinter ein Krankenwagen. Da ich bei meinem Anruf keine Details erwähnt hatte, hatte die Notfallzentrale offenbar entschieden, für alle Eventualitäten gerüstet zu sein.

»Es geht nicht um mich«, sagte ich und fuhr mit dem Finger von der Uferlinie zu dem klaffenden Loch in der Mitte des Sees. »Mein Freund ist im Eis eingebrochen.« Dann musste ich aufstoßen und fing das Grauen wieder ein, bevor es überlief.

Der Polizist sah von mir zu Decker. »Er ist okay, wie es aussieht.«

Ich schüttelte den Kopf und flüsterte: »Nicht er.«

Die Augen des Polizisten weiteten sich. Er fuhr herum und rief den Sanitätern und Feuerwehrleuten etwas zu. Sie rannten los, mit Äxten und Seilen und Sprechfunkgeräten. Sie rannten, mit Bojen und Decken und Neoprenanzügen. Decker nahm meine Hände und blies seinen warmen Atem auf meine blau gefrorenen Finger. Das Zittern ebbte ab.

Es war nichts mehr zu machen. Troy war tot.

Ein Auto fuhr auf den Felsvorsprung und hielt dicht hinter dem Krankenwagen an. Ein Mann stieg aus und sondierte die Lage, dann musterte er mich und Decker. Es würden noch mehr Leute kommen. Deshalb gingen wir zu Fuß zu Deckers Haus. Meine Eltern würden es nicht ertragen, mich in diesem Zustand zu sehen.

Als wir durch die Hintertür ins Haus gingen, zitterten meine Hände wieder, dieses Mal vor Kälte. Die eisige Luft klebte auf meiner immer noch feuchten Haut. Ich wollte Decker sagen, dass ich eine heiße Dusche brauchte, doch ich bekam kein Wort heraus. Aber das war auch nicht nötig. Er ging mit mir ins Bad, drehte das Wasser auf und zog mir die steifen Klamotten aus. Dann wartete er bei mir, bis der Raum von Dampf erfüllt war.

Er ging, aber durch den Spalt konnte ich erkennen, wie er auf der anderen Seite der Tür hin- und herlief. Ich blieb so lange unter dem heißen Wasserstrahl stehen, bis meine blauen Finger wieder rosa waren und das Blut unter meiner Haut zu pulsieren begann. Doch die Kälte in meinen Knochen spürte ich noch immer. Sie ist nicht echt, dachte ich und versuchte sie abzuschütteln. Das ist nur die Abwesenheit von Wärme. Wie die Dunkelheit lediglich die Abwesenheit von Licht ist. Wie der Tod die Abwesenheit von Leben.

Vielleicht war auch die Hölle nur die Abwesenheit von irgendetwas. Eine Leerstelle, die darauf wartete, gefüllt zu werden.

Ich stieg aus der Dusche und wickelte mich in ein Handtuch. Decker musste zwischendurch im Bad gewesen sein, denn auf dem Boden direkt vor der Tür lag ein Haufen frischer Klamotten. Ich streifte eines seiner Sweatshirts und eine zu lange Jogginghose über, dazu zog ich graue Wollsocken an. Wie gut, dass er nur Klamotten trug, die ihm zu weit waren.

Ich tappte durch den Flur zu seinem Zimmer. Er saß auf dem Bett und starrte auf die nackte Wand über seinem Schreibtisch. Ich setzte mich neben ihn. Er stand auf, ging zum Fenster und reckte den Hals, um zu sehen, was auf der Straße und am See passierte. Wir wussten beide, dass die Entfernung viel zu groß war, um etwas zu erkennen.

»Was hast du da draußen gemacht?«, fragte er, ohne mich anzusehen.

Ich schüttelte den Kopf und kniff die Augen fest zusammen. »Ich wollte ihn retten.«

»Und was hat er da draußen gemacht?«

Ich öffnete die Augen wieder und sah Decker an. Ich wollte ihm sagen, dass ich es nicht wusste, um der Frage auszuweichen. Aber damit hätte ich ihn angelogen und das hatte er nicht verdient. Deshalb beschloss ich, ihm die Wahrheit zu erzählen oder zumindest einen Teil davon. »Er hat versucht, mich zu retten. Jedenfalls dachte er das.«

Decker warf die Hände in die Luft. »Echt? Das ist deine ganze Antwort?« Er deutete mit dem Zeigefinger auf das Fenster. »Sie werden zu uns kommen, das weißt du. Sie werden fragen, was wir dort gemacht haben. Und dann solltest du eine bessere Antwort parat haben.«

»Decker …«

Er winkte ab. »Sieh mal, ich bin froh, dass dir nichts passiert ist. Mehr als froh. Aber ich kann mir deine Lügen nicht mehr anhören.«

Ich fragte mich, ob er mir die ganze Wahrheit glauben würde. Ob er mir glaubte, zu wem ich geworden war. Ob er verstand, zu was ich fähig war. Und dann wurde mir klar, dass ich mir unnötig Gedanken machte. Decker hatte schon immer das Unglaubliche für möglich gehalten. Dass ich leben konnte, obwohl ich tot war, dass es im August schneien konnte, dass es reichte, mich zu lieben.

»Ich werde dich nicht mehr belügen«, sagte ich. Das war ein Versprechen für ihn und für mich.

»Darum geht es nicht. Es geht um das, was du nicht sagst. Das ist viel schlimmer.«

Das stimmte. Ich hatte ihm nicht gesagt, dass ich ihn liebe, und jetzt war es vielleicht zu spät.

»Er war krank«, flüsterte ich.

»Ja, das hab ich kapiert.«

»Nein, ich meine körperlich. Er musste bald sterben, das wussten wir beide. Und er dachte … er dachte, ich müsse auch sterben. Dass er mir einen Gefallen tun würde. Dass es mir schlecht ginge, weil du mich damals nicht hast sterben lassen.«

Decker blinzelte und versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. Er wirkte verletzt. »Geht es dir denn schlecht?«

Ich stand auf, ging zum Fenster und starrte mit ihm nach draußen, auf alles, was wir nicht sehen konnten. Zu Troy mitten im See und dem Loch im Eis. Zu Carson, der am Straßenrand gestorben war.

Ich wusste nicht, wie ich das mit uns wieder in Ordnung bringen konnte. Wie wir Troy und Carson und Tara vergessen konnten. Wie ich das Rad zurückdrehen und all das ungesagt machen konnte, was ich gesagt hatte. Und ihm all die Dinge sagen konnte, die ich nicht gesagt hatte. Und nach all dem, was bliebe dann noch? Gab es noch etwas, das es sich zu retten lohnte?

Ich legte meine Stirn an die Fensterscheibe. Das Glas beschlug durch meinen Atem und ich konnte nichts mehr sehen. »Decker«, sagte ich. Ich hob den Kopf und blickte ihn an, denn endlich hatte ich verstanden, dass außer ihm nichts und niemand wichtig war.

»Decker«, wiederholte ich.

Er drehte sich vom Fenster weg und sah mich an.

»Wenn du noch einen Tag zu leben hättest, was würdest du tun?«

Er lehnte sich gegen die Wand, ließ mich aber nicht aus den Augen. »Das ist eine sinnlose Frage.«

Ich sprach jetzt ganz langsam, dieses Mal war ich meiner Sache sicherer. »Wenn du noch einen Tag zu leben hättest, was würdest du tun?«

Er legte den Kopf schief. »Ich beantworte keine hypothetischen Fragen.«

Aber das war keine hypothetische Frage. Eigentlich war es überhaupt keine Frage. Decker wusste nicht, welcher Tag sein letzter sein würde. Carson hatte es auch nicht gewusst, genauso wenig wie Troy. Ich wusste es nicht. Es hätte sogar heute sein können. Deshalb sagte ich: »Tu’s einfach.«

Und er tat es. Er packte mich an meinem Sweatshirt – seinem Sweatshirt –, zog mich an sich und küsste mich. Was einfach perfekt war, denn genau das hätte ich auch gemacht. Und als er mich küsste, fühlte es sich nicht an wie eine Frage (wie damals an dem rauen Baumstamm). Jetzt fühlte es sich an wie eine Antwort.

Nach dem Kuss ließ er mich nicht wieder los. Alles war so hell und klar – Dunkelheit, Kälte und Leere waren vergessen. Ich sah nur sein Gesicht und dahinter das strahlend helle Morgenlicht. Ich fühlte nichts als die Wärme, die von uns beiden ausging.

Es fühlte sich an wie das genaue Gegenteil von Hölle. Schon seltsam, wie sich von einem Augenblick auf den anderen alles ändern kann. Vom Tod zum Leben. Von der Leere zur Erfüllung. Von der Dunkelheit zum Licht.

Vielleicht hatte ich einfach nicht gut genug hingeschaut. Ich hatte nicht verstanden, dass ein Licht auch ein Gefühl, dass ein Geräusch auch eine Farbe und dass ein Kuss sowohl eine Frage als auch eine Antwort sein konnte. Und dass der Himmel auch ein Mensch oder dieser Moment oder etwas ganz anderes sein konnte.

Aber heute war der Himmel ein Zimmer mit Holzfußboden, blau gestrichenen Wänden, einem unaufgeräumten Schreibtisch und Decker, der mich nicht losließ. Der mich festhielt.

Mich, das Wunder, die Anomalie, den Fehler. Mich und alles, was ich war und noch werden konnte. Mich, Delaney Maxwell. Am Leben.