KAPITEL 17
Ein verzweifelter Versuch
Kendras Angst vor dem Einbruch der Nacht verhinderte leider nicht, dass es dennoch dunkel wurde. Die Dämmerung verblasste langsam, bis Kendra nur noch das Licht des Halbmonds blieb. Die Nacht wurde kühler, aber nicht kalt. Der Wald war in düstere Schatten gehüllt. Gelegentlich hörte sie beunruhigende Geräusche, aber sie bekam die Wesen, von denen die Laute stammten, nie zu sehen. Sie drehte sich immer wieder um, aber der Weg blieb hinter ihr genauso verlassen wie vor ihr.
Mal ging Kendra, mal lief sie. Ohne Orientierungspunkte war schwer festzustellen, wie weit sie inzwischen gekommen war. Die unbefestigte Straße schien sich bis in alle Ewigkeit zu erstrecken.
Sie machte sich Sorgen um Oma Sørensen. Seit sie Muriel angeschossen und Hugo befohlen hatte, die Kobolde kampfunfähig zu machen, war sie wahrscheinlich nicht mehr durch den Vertrag geschützt. Kendra begann sich zu wünschen, sie hätte Muriels Aufforderung, bei ihrer Familie in der Kirche zu bleiben, angenommen. Das Schuldgefühl, als Einzige davongekommen zu sein, war fast unerträglich.
Es war schwer, die verstrichene Zeit abzuschätzen. Die Nacht zog sich dahin, genauso endlos wie die Straße. Der Mond wanderte langsam über den Himmel. Oder war es die Straße, die die Richtung änderte? Kendra war sicher, dass sie schon seit Stunden unterwegs war, als sie eine große Lichtung erreichte. Im Mondlicht schimmerte ein kaum erkennbarer Pfad, der von der Straße abzweigte. Er führte zu einer hohen, dunklen Hecke.
Der See mit den Pavillons! Endlich ein Orientierungspunkt. Sie konnte nicht mehr als eine halbe Stunde von dem Haus entfernt sein, und von der Morgendämmerung war immer noch nichts zu sehen.
Wie lange würde es dauern, bis Bahumat freikam? Vielleicht war der Dämon bereits frei. Würde sie merken, wenn es geschah, oder würde sie es erst herausfinden, wenn sie von Monstern gejagt wurde?
Kendra rieb sich die Augen. Sie war erschöpft. Ihre Beine wollten nicht mehr weitergehen. Sie merkte, dass sie großen Hunger hatte. Sie blieb stehen und streckte sich. Dann begann sie zu laufen. Sie konnte den Rest des Weges laufen, nicht wahr? Es war nicht mehr allzu weit.
Als sie den schmalen Pfad erreichte, der von der Straße abzweigte, blieb Kendra schlitternd stehen. Der Anblick der Hecke hatte sie auf eine Idee gebracht.
Die Feenkönigin hatte einen Schrein auf der Insel in der Mitte des Sees. War sie nicht angeblich das mächtigste Geschöpf in der ganzen Feenwelt? Vielleicht konnte Kendra versuchen, sie um Hilfe zu bitten.
Kendra verschränkte die Arme. Sie wusste so wenig von der Feenkönigin. Abgesehen von der Information, dass die Königin sehr mächtig war, hatte sie noch gehört, dass es den sicheren Tod bedeutete, auch nur einen Fuß auf ihre Insel zu setzen. Der Einzige, der es jemals versucht hatte, war in eine Wolke von Pusteblumensamen verwandelt worden.
Aber warum hatte er es versucht? Kendra glaubte nicht, dass man ihr einen besonderen Grund genannt hatte, nur dass er ein verzweifeltes Anliegen gehabt hatte. Aber die Tatsache, dass er es versuchte, bedeutete, dass er einen Erfolg zumindest für möglich hielt. Vielleicht war sein Anliegen nicht dringend genug gewesen.
Kendra dachte über ihr Anliegen nach. Ihre Großeltern und ihr Bruder sollten getötet werden. Und Fabelheim sollte zerstört werden. Das wäre doch auch für die Feen schlecht, oder etwa nicht? Oder war es ihnen egal? Vielleicht würden sie einfach irgendwo anders hingehen.
Unentschlossen betrachtete Kendra den undeutlichen Pfad. Welche Waffe hoffte sie im Haus zu finden? Vermutlich gar keine. Also musste sie höchstwahrscheinlich über das Tor steigen und fliehen, bevor Bahumat und Muriel sie einholten und töteten. Und ihre Familie würde sterben.
Aber die Idee mit der Feenkönigin könnte funktionieren. Wenn die Königin so mächtig war, könnte sie vielleicht Muriel und sogar Bahumat aufhalten. Kendra brauchte einen Verbündeten. Trotz ihrer lauteren Absichten konnte sie keine Möglichkeit entdecken, wie sie es allein schaffen sollte.
Seit ihr die Idee gekommen war, fühlte Kendra sich irgendwie anders. Das Gefühl kam so unerwartet, dass es einen Moment dauerte, bis sie es als Hoffnung erkannte. Sie würde keine Kombinationsschlösser knacken müssen. Sie brauchte sich lediglich auf Gedeih und Verderb einem allmächtigen Wesen auszuliefern und um das Leben ihrer Familie zu flehen.
Was war das Schlimmste, das geschehen konnte? Der Tod, aber aus ihrem eigenen Entschluss heraus. Keine blutrünstigen Monster. Keine Hexen. Keine Dämonen. Nur ein großer Knall, und sie wäre eine Wolke Löwenzahnflaum.
Was war die beste Möglichkeit? Die Feenkönigin könnte Muriel in Löwenzahnsamen verwandeln und ihre Familie retten.
Kendra bog auf den Pfad ein. Sie hatte Schmetterlinge im Bauch. Es war eine anstachelnde Art von Nervosität, dem Grauen eines sicheren Fehlschlags bei weitem vorzuziehen. Sie fing an zu rennen.
Diesmal kroch sie nicht unter der Hecke hindurch. Der Pfad führte zu einem Bogengang. Kendra lief hindurch und auf den gepflegten Rasen dahinter.
Im Mondlicht waren die weiß getünchten Pavillons und Wege noch malerischer als tagsüber. Kendra konnte sich jetzt tatsächlich vorstellen, dass auf der Insel in der Mitte des stillen Sees eine Feenkönigin lebte. Natürlich lebte sie nicht wirklich dort. Es war nur ein Schrein. Kendra würde ihre Bitte formulieren und darauf hoffen, dass die Königin antwortete.
Die erste Herausforderung war die Frage, wie sie auf die Insel gelangen sollte. Der See war voller Najaden, die gern Menschen ertränkten, was bedeutete, dass sie ein stabiles Boot brauchte.
Kendra eilte über den Rasen auf den nächsten Pavillon zu. Sie versuchte, die verhuschten Schatten zu ignorieren, die sie vor sich sah – verschiedenste Kreaturen, die alle vor ihr zurückwichen. Sie schob alle Furcht beiseite. Würde Opa sich umdrehen und fliehen? Würde Oma es tun? Oder Seth? Oder würden sie ihr Bestes geben, um sie zu retten?
Sie rannte zu dem Bohlenweg. Ihre Schritte hallten auf den Brettern wider und zerrissen die nächtliche Stille. Kendras Ziel, das Bootshaus, lag drei Pavillons entfernt.
Die Oberfläche des Sees war ein schwarzer Spiegel, der das Mondlicht reflektierte. Einige funkelnde Feen schwebten direkt über dem Wasser. Davon abgesehen deutete nichts auf irgendwelches Leben hin.
Kendra erreichte den dritten Pavillon, lief die Treppe hinunter und stand schließlich vor der Tür des Bootshauses. Sie war natürlich verschlossen. Die Tür war nicht groß, wirkte aber ziemlich stabil.
Kendra versetzte ihr einen heftigen Tritt. Der Schmerz des Aufpralls fuhr durch ihr ganzes Bein, und sie zuckte zusammen. Sie warf sich mit der Schulter gegen die Tür, und wieder fügte sie nur sich selbst Schaden zu, statt der Tür.
Sie macht einen Schritt zurück. Das Bootshaus war im Wesentlichen ein großer Schuppen, der auf dem Wasser schwamm. Es hatte keine Fenster. Sie hoffte, dass überhaupt ein Boot darin war. Wenn ja, dann würde es im Wasser schwimmen, umgeben von Wänden und einem Dach, aber nicht von einem Boden. Wenn sie in den See sprang, konnte sie in dem Bootshaus auftauchen und in das Boot klettern.
Sie beäugte das Wasser. Die schwarze, spiegelnde Oberfläche war undurchdringlich. Es konnten dort hundert Najaden lauern oder keine einzige – es war unmöglich zu erkennen.
Der ganze Plan war sinnlos, wenn sie ertrank, bevor sie die Insel erreichte. Nach dem, was sie von Lena gehört hatte, warteten die Najaden nur darauf, dass sie sich zu nah ans Wasser wagte. Wenn sie hineinsprang, konnte sie ebenso gut Selbstmord begehen.
Sie setzte sich hin und begann mit beiden Füßen gegen die Tür zu treten, die gleiche Methode, die Seth benutzt hatte, um in die Scheune einzubrechen. Sie machte eine Menge Lärm, aber die Tür rührte sich kein bisschen. Je heftiger sie dagegentrat, desto mehr schmerzten ihre Beine.
Sie brauchte ein Werkzeug. Oder einen Schlüssel. Oder Dynamit.
Kendra lief zurück zum Pavillon und suchte nach etwas, mit dem sie die Tür aufstemmen konnte. Sie fand nichts. Wenn doch nur irgendwo ein Vorschlaghammer herumliegen würde.
Sie versuchte, sich zu beruhigen. Sie musste nachdenken! Wenn sie sie weiter bearbeitete, würde die Tür irgendwann nachgeben. So etwas wie Erosion. Aber bisher hatte die Tür sich keinen Zentimeter bewegt, und sie hatte nicht die ganze Nacht Zeit. Es musste eine bessere Lösung geben. Aber ihr wollte einfach nichts einfallen. Nichts, das ihr geholfen hätte. Und sie war mutterseelenallein. Bis auf einige schattenhafte Kreaturen, die sich versteckten, sobald sie näher kam.
»Okay, hört mal her!«, rief sie. »Ich weiß, dass ihr mich hören könnt. Ich muss in das Bootshaus. Eine Hexe will Bahumat freilassen, und ganz Fabelheim wird zerstört werden. Ich bitte niemanden, sich Bahumat in den Weg zu stellen. Ich brauche lediglich jemanden, der die Tür zum Bootshaus aufbricht. Mein Großvater ist der Verwalter hier, und ich gebe euch die Erlaubnis dazu. Ich werde mich umdrehen und die Augen schließen. Wenn ich die Tür brechen höre, werde ich zehn Sekunden warten, bevor ich die Augen wieder aufmache.«
Kendra drehte sich um und schloss die Augen. Sie hörte nichts. »Ihr könnt die Tür jetzt aufbrechen. Ich verspreche, ich werde nicht hinsehen.«
Sie hörte ein leises Platschen und ein Klimpern.
»Okay! Es klingt so, als hätten wir einen Kandidaten! Brich einfach die Tür auf.«
Sie hörte nichts. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sich etwas aus dem Wasser gestohlen haben und sie beobachten könnte. Außerstande, noch länger zu widerstehen, drehte sie sich um und riskierte einen Blick.
Es waren keine tropfenden Kreaturen in Sicht. Alles war still. Die Oberfläche des zuvor spiegelglatten Sees kräuselte sich ein wenig. Und auf dem Steg vor dem Bootshaus lag ein Schlüssel.
Kendra eilte die Treppe hinunter und hob den Schlüssel auf. Er war nass, verrostet und länger als ein gewöhnlicher Schlüssel. Er sah altmodisch aus.
Sie wischte ihn an ihrer Bluse ab, ging damit zum Bootshaus und schob ihn in das Schlüsselloch. Er passte. Sie drehte den Schlüssel, und die Tür schwang nach innen auf.
Kendra schauderte. Eine beunruhigende Schlussfolgerung drängte sich ihr auf. Anscheinend hatte eine Najade ihr den Schlüssel hingelegt. Sie wollten sie draußen auf dem Wasser haben.
Das Bootshaus war fast völlig dunkel, erhellt einzig von dem Licht, das durch die Tür fiel. Blinzelnd konnte Kendra drei Boote erkennen: Zwei große Ruderboote, von denen eins eine Spur breiter war als das andere, und ein kleines Tretboot. Kendra war einmal auf einem See in einem Park mit einem solchen Boot gefahren.
An einer Wand hingen mehrere Ruder von verschiedener Länge. In der Nähe der Tür befanden sich eine Kurbel und ein Hebel. Kendra versuchte, die Kurbel zu drehen, aber sie rührte sich nicht. Sie zog an dem Hebel. Nichts geschah. Sie versuchte es noch einmal mit der Kurbel, und diesmal ließ sie sich drehen. Eine Schiebetür am anderen Ende des Bootshauses öffnete sich und ließ mehr Licht ein. Kendra kurbelte weiter, erleichtert, dass sie direkt aus dem Bootshaus auf den See würde hinausfahren können.
Während sie in dem düsteren Bootshaus stand und durch die geöffnete Tür auf den See hinausblickte, kamen Kendra Zweifel. Ihr war schlecht vor Angst. War sie wirklich bereit, in den Tod zu gehen? Sich von Najaden ertränken zu lassen oder einem Zauber zum Opfer zu fallen, der eine verbotene Insel schützt?
Opa und Oma Sørensen waren ziemlich gewieft. Vielleicht waren sie bereits entkommen. Machte sie das alles hier vielleicht ganz umsonst?
Kendra erinnerte sich an einen Tag vor drei Jahren im Freibad. Sie hatte sich verzweifelt gewünscht, ganz oben vom Sprungturm zu hüpfen. Ihre Mom hatte sie gewarnt, dass er höher sei, als er aussah, aber nichts hatte sie von ihrem Vorhaben abbringen können. Viele Kinder sprangen, etliche davon in ihrem Alter oder jünger.
Sie stand in einer Schlange am Fuß der Leiter. Als die Reihe an sie kam, machte sie sich auf den Weg nach oben und war erstaunt, wie viel höher sie mit jedem Schritt zu kommen schien. Oben angekommen hatte sie das Gefühl, auf einem Wolkenkratzer zu stehen. Sie wollte sich umdrehen, aber dann hätten alle Kinder in der Schlange gewusst, dass sie Angst hatte. Außerdem sahen ihre Eltern zu.
Sie ging über das Sprungbrett. Es wehte eine leichte Brise. Ob die Menschen auf dem Boden den Wind auch spüren konnten? Vom Ende des Brettes starrte sie auf das sich kräuselnde Wasser hinunter, bis auf den Grund des Pools. Hinunterspringen schien mit einem Mal gar kein so verlockendes Erlebnis mehr.
Dann wurde ihr klar, dass sie umso mehr Aufmerksamkeit erregen würde, je länger sie zögerte. Also hatte sie sich schnell umgedreht und war die Leiter hinuntergestiegen, unter strenger Vermeidung jeden Blickkontakts mit denen, die unten in der Schlange gewartet hatten. Seither war sie auf keinem Sprungturm mehr gewesen. In Wahrheit ging sie selten irgendwelche Risiken ein.
Wieder einmal stand sie vor etwas Furchterregendem. Aber diesmal war es anders. Diesmal würde wahrscheinlich ihre Familie sterben, wenn sie nicht handelte. Sie musste ungeachtet der Konsequenzen zu ihrer früheren Entscheidung stehen und ihren Plan ausführen.
Kendra betrachtete die Riemen. Sie hatte noch nie ein Boot gerudert und konnte sich leicht vorstellen, wie sie sich würde quälen müssen, vor allem, wenn böse Najaden ihr zusetzten. Sie begutachtete das Tretboot. Es war für einen Insassen bestimmt, aber breiter, als es dafür nötig gewesen wäre. Vermutlich, um dem Boot zusätzliche Stabilität zu verleihen. Es war nicht annähernd so groß wie die beiden Ruderboote, und sie wäre sehr nahe am Wasser, aber zumindest hatte Kendra das Gefühl, dass sie es manövrieren konnte.
Kendra seufzte. Sie kniete sich hin, band das kleine Boot los und warf die Leine auf den Sitz. Das Boot schaukelte, als sie einstieg, und sie musste in die Hocke gehen und sich mit den Händen abstützen, um nicht ins Wasser zu fallen.
Nachdem sie sich hinter das Lenkrad gesetzt hatte, schlug sie das Ruder scharf nach einer Seite ein und trat rückwärts in die Pedale. Langsam löste sich das Boot von dem kleinen Steg. Dann drehte Kendra das Steuer in die andere Richtung und fuhr vorwärts. Langsam glitt das Boot aus dem Bootsschuppen.
Es war nicht allzu weit bis zu der Insel, vielleicht achtzig Meter, und Kendra trat jetzt schneller. Sie kam ihrem Ziel immer näher, bis sie plötzlich merkte, dass sich das Boot wieder von der Insel wegbewegte.
Sie trat noch fester in die Pedale, aber das Boot fuhr weiter schräg nach hinten. Irgendetwas hatte sie in Schlepp genommen. Dann fing das Boot an sich zu drehen. Sie konnte am Lenkrad drehen und treten, wie sie wollte, es nützte nichts. Jetzt neigte sich das Boot plötzlich gefährlich zur Seite. Irgendjemand versuchte es zum Kentern zu bringen!
Kendra lehnte sich in die andere Richtung, aber dann neigte das Boot sich sofort auf eben diese Seite. Rasch verlagerte Kendra ihr Gewicht wieder und versuchte verzweifelt, das Gleichgewicht zu halten. Sie sah, wie nasse Finger ihr Boot an der Seite gepackt hielten, und schlug nach ihnen, was mit einem Kichern quittiert wurde.
Das Boot begann sich zu drehen. »Lasst mich in Ruhe!«, schrie Kendra. »Ich muss zu der Insel.« Die Antwort war ein langer Chor von Gekicher.
Kendra trat in die Pedale, so schnell und kräftig sie konnte, ohne etwas damit zu erreichen. Das Boot drehte sich weiter und wurde in die falsche Richtung geschleppt. Dann begannen die Najaden wieder, das Boot aufzuschaukeln. Dank des niedrigen Schwerpunktes des Bootes reichte es, wie Kendra nach einer Weile herausfand, sich zur richtigen Seite zu lehnen, um ein Kentern des Bootes zu verhindern, aber die Najaden waren erbarmungslos in ihren Bemühungen. Sie versuchten, sie abzulenken, indem sie von unten gegen den Bootsrumpf schlugen oder ihr zuwinkten. Das Boot neigte sich ein wenig, schaukelte und wurde herumgewirbelt, und dann machten die Najaden plötzlich wieder Ernst und versuchten erneut, es zu kentern. Sie hatten es darauf abgesehen, sie in einem Augenblick der Unaufmerksamkeit zu überraschen. Doch jedes Mal reagierte Kendra sofort und verlagerte ihr Gewicht, und die Versuche, das Boot zum Kentern zu bringen, scheiterten. Bisher stand der Kampf unentschieden.
Die Najaden zeigten sich nicht. Kendra hörte sie lachen und sah ihre Hände, aber kein einziges Gesicht.
Dann beschloss sie, mit dem Treten aufzuhören. Es nützte ohnehin nichts, und sie verschwendete damit nur ihre Kraft. Sie wollte ihre ganze Aufmerksamkeit darauf richten, ein Kentern des Bootes zu verhindern.
Die Angriffe der Najaden ließen in ihrer Häufigkeit nach. Kendra sagte nichts, reagierte nicht auf das herausfordernde Kichern und ignorierte die Hände an den Seiten des Bootes. Sie verlagerte einfach nur ihr Gewicht, wie es gerade nötig war. Langsam bekam sie Übung darin, und das Boot geriet erst gar nicht mehr in allzu ernsthafte Schräglage.
Dann hörten die Versuche ganz auf. Nachdem etwa eine Minute lang nichts passiert war, begann Kendra wieder zu treten und Kurs auf die Insel zu nehmen. Doch kurz darauf wurde sie wieder belästigt. Sofort stellte sie das Treten ein, und die Najaden drehten das Boot wieder ein paar Mal im Kreis und schaukelten es hin und her.
Kendra wartete. Nach einer weiteren Minute der Ruhe paddelte sie wieder. Wieder zogen die Najaden sie zurück. Aber nicht mehr so eifrig wie am Anfang. Sie spürte, dass sie kurz davor waren, aufzugeben. Sie langweilten sich.
Als sie diese Technik zum achten Mal anwandte, verloren die Najaden anscheinend endgültig das Interesse. Die Insel kam näher. Zwanzig Meter. Zehn Meter. Kendra wartete darauf, dass die Najaden sie im letzten Augenblick aufhalten würden, doch sie taten es nicht. Der Bug ihres Bootes schrammte ans Ufer. Alles blieb still.
Der Augenblick der Wahrheit war gekommen. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder würde sie sich in eine Wolke Löwenzahnsamen verwandeln, sobald sie einen Fuß auf die Insel setzte, und davonwehen, oder eben nicht.
Inzwischen war es ihr beinahe gleichgültig, und sie sprang einfach ans Ufer. Es schien nichts Magisches oder sonst irgendwie Besonderes zu geschehen, und sie wurde auch nicht verwandelt.
Allerdings ertönte hinter ihr schallendes Gelächter. Kendra drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um ihr Tretboot von der Insel wegtreiben zu sehen. Es war bereits zu spät, um etwas zu unternehmen, ohne ins Wasser zu springen. Sie schlug sich mit dem Handballen auf die Stirn. Die Najaden hatten nicht aufgegeben – sie hatten nur ihre Strategie geändert! Die Aussicht darauf, in Löwenzahnsamen verwandelt zu werden, hatte sie dermaßen abgelenkt, dass sie das Boot nicht aus dem Wasser gezogen hatte. Sie hätte zumindest das Seil festhalten können!
Nun, ein weiterer Gefallen, um den sie die Feenkönigin bitten musste.
Die Insel war nicht groß. Kendra brauchte nur etwa siebzig Schritte, um sie zu umrunden. Der Schrein stand wahrscheinlich irgendwo in der Mitte.
Es gab keine Bäume auf der Insel, aber es wuchsen viele Sträucher, manche davon größer als Kendra. Es gab auch keine Pfade, und es war mühsam, sich durch die Büsche zu zwängen. Wie würde der Schrein aussehen? Sie stellte sich ein kleines Gebäude vor, aber nachdem sie die Insel einige Male abgesucht hatte, musste sie feststellen, dass es kein derartiges Gebäude gab.
Vielleicht war sie nur deshalb nicht in Löwenzahnsamen verwandelt worden, weil die Geschichte über die Insel nur ein übler Scherz war? Oder vielleicht war der Schrein nicht mehr hier. So oder so, sie saß auf einer winzigen Insel fest in der Mitte eines Sees voller Geschöpfe, die sie ertränken wollten. Wie sich Ertrinken wohl anfühlte? Würde sie tatsächlich Wasser einatmen oder einfach ohnmächtig werden? Oder würde der Dämon sie vorher holen?
Nein! Sie war schon so weit gekommen. Sie würde noch einmal suchen, und diesmal noch gründlicher. Vielleicht war der Schrein etwas Natürliches, ein besonderer Busch oder ein Baumstumpf.
Sie schritt noch einmal langsam den äußeren Rand der Insel ab. Sie bemerkte ein dünnes Rinnsal. Es war eigenartig, auf einer so winzigen Insel einen Bach zu finden, wie klein er auch sein mochte. Sie folgte dem Bach zur Mitte der Insel, bis sie die Stelle fand, an der er aus der Erde sprudelte.
Dort, an der Quelle, stand eine fünf Zentimeter hohe, schön geschnitzte Feenstatue. Sie ruhte auf einem weißen Sockel, der sie noch ein paar Zentimeter größer machte. Davor stand eine kleine Silberschale.
Natürlich! Feen waren so winzig, dass es nur schlüssig war, wenn der Schrein ebenso klein war!
Kendra ließ sich neben der Quelle direkt vor der kleinen Figur auf die Knie fallen. Alles war vollkommen still. Als sie zum Himmel aufblickte, sah sie, dass der östliche Horizont sich bereits purpurn färbte. Die Nacht näherte sich ihrem Ende.
Kendra fiel nichts anderes ein, als mit größter Aufrichtigkeit ihr Herz auszuschütten. »Hallo, Feenkönigin. Danke, dass du mich hast herkommen lassen, ohne mich in Löwenzahnsamen zu verwandeln.«
Kendra schluckte. Es war irgendwie seltsam, zu einer winzigen Statue zu sprechen. Es hatte so gar nichts Magisches an sich. »Wenn du mir helfen kannst, bitte tu es, ich brauche deine Hilfe wirklich. Eine Hexe namens Muriel will einen Dämon namens Bahumat freilassen. Die Hexe hält meine Großeltern gefangen, Opa und Oma Sørensen, außerdem meinen Bruder Seth und meine Freundin Lena. Wenn dieser Dämon freikommt, wird er das ganze Reservat in Schutt und Asche legen, und ohne deine Hilfe kann ich das auf keinen Fall verhindern. Bitte, ich liebe meine Familie, und wenn ich nichts unternehme, wird dieser Dämon, er wird...«
Die Realität dessen, was sie sagte, traf sie wie ein Hammerschlag, und Tränen quollen aus ihren Augen. Zum ersten Mal wurde ihr die Tatsache, dass Seth sterben würde, vollauf bewusst. Sie dachte an all die Erlebnisse mit ihm, schöne wie ärgerliche, und begriff, dass es nichts von alledem je wieder geben würde.
Sie schluchzte so heftig, dass sie zitterte. Heiße Tränen strömten ihr über die Wangen. Sie ließ sie fließen. Sie brauchte die Erleichterung, sie konnte all das Grauen nicht länger unterdrücken. Die Tränen, die sie während ihrer Flucht aus der Vergessenen Kapelle vergossen hatte, waren Tränen des Schreckens und des Entsetzens gewesen. Jetzt flossen Tränen der Erkenntnis.
Die Tränen rollten über ihr Kinn und fielen in die Silberschale. Sie schluchzte und schluchzte und kam kaum noch zu Atem. »Bitte, hilf mir«, brachte sie schließlich heraus.
Eine wohlriechende Brise wehte über die Insel. Sie duftete nach fruchtbarer Erde und frischen Blüten, und ein Hauch von Meeresluft lag darin.
Sie hörte auf zu weinen und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen von den Wangen.
Die Miniaturstatue war nass. Kam das von Kendras Tränen? Nein! Wasser sickerte aus den Augen der Statue in die Silberschale.
Die Luft regte sich abermals und der Duft wurde stärker. Kendra spürte die Gegenwart eines anderen Wesens. Sie war nicht länger allein.
Ich nehme deine Opfergabe an und weine mit dir. Sie konnte die Worte nicht hören, aber in ihrem Denken spürte Kendra sie so deutlich, dass sie nach Luft schnappen musste. Etwas Derartiges hatte sie noch nie erlebt. Immer noch sickerte klare Flüssigkeit von den Augen der Statue in die Schale.
Aus Tränen, Milch und Blut bereite einen Trank, und meine Dienerinnen werden dir helfen.
Das mit den Tränen war klar. Die einzige Milch, die Kendra sich für diesen Zweck vorstellen konnte, war die Violas. Aber wessen Blut? Ihr eigenes? Das der Kuh? Die Dienerinnen mussten Feen sein.
»Warte, was soll ich tun?«, fragte Kendra. »Wie komme ich von der Insel?«
Als Antwort kreiselte der Wind für einen Moment, entwickelte sich zu einer Bö und ließ wieder nach. Der angenehme Duft verschwand. Die kleine Statue hörte auf zu weinen, und die übersinnliche Gegenwart des anderen Wesens war nicht mehr zu spüren.
Kendra griff nach der Schale. Sie war ungefähr so groß wie ihre Handfläche und fast zu einem Drittel gefüllt. Sie hatte gehofft, dass die Feenkönigin die Situation für sie regeln würde. Stattdessen hatte sie ihr eine Möglichkeit gewiesen, das Problem selbst zu lösen. Die telepathische Botschaft kam ihr ebenso präzise vor wie gesprochene Worte. Ihre Familie war immer noch in Gefahr, aber der Hoffnungsfunke war jetzt eine Flamme.
Wie sollte sie von der Insel kommen? Kendra stand auf und ging zum Ufer. Unglaublicherweise driftete das Tretboot in ihre Richtung. Es kam stetig näher, bis es die Insel erreichte.
Kendra stieg ein. Es legte von allein ab, wendete und nahm Kurs auf den weißen Bootssteg.
Kendra sagte nichts. Sie trat nicht. Sie hatte Angst, irgendetwas zu tun, das die Fahrt zum Steg unterbrechen könnte. Sie hielt die Schale auf ihrem Schoß, sorgfältig darauf bedacht, auch nicht einen Tropfen zu verschütten.
Dann sah sie eine dunkle Gestalt auf dem Steg, die bereits auf ihre Rückkehr wartete. Eine Marionette von der Größe eines Menschen. Mendigo.
Kendras Kehle schnürte sich vor Angst zusammen. Sie hatte auf der Insel Magie gewirkt! Die Tränen von der Statue – das war Magie, nicht wahr? Ihr Schutz würde nicht mehr funktionieren. Und Mendigo war gekommen, um sie zu fangen.
»Könnt ihr mich irgendwo anders absetzen?«, fragte sie.
Das Boot bewegte sich stetig vorwärts. Was sollte sie tun? Selbst wenn sie sie irgendwo anders absetzten, würde Mendigo ihr einfach folgen.
Das Boot war nur noch zwanzig Meter vom Steg entfernt, dann zehn. Sie musste den Inhalt ihrer Schale schützen. Und sie durfte sich nicht von Mendigo fangen lassen. Aber wie konnte sie ihn aufhalten?
Das Tretboot legte am Steg an. Mendigo machte keine Anstalten, sie zu packen. Er schien darauf zu warten, dass sie an Land kam. Kendra stellte die Schale auf den Steg und stand auf. Jemand schien das Boot für sie festzuhalten.
Als sie auf den Steg trat, bewegte Mendigo sich vorwärts, aber wie zuvor schien er sie nicht greifen zu können. Mit halb erhobenen Armen und zitternden Fingern stand er da. Kendra hob die Schale auf und ging um die Marionette herum. Mendigo folgte ihr den ganzen Steg entlang.
Warum hatte Muriel Mendigo hinter ihr hergeschickt, wenn er sie nicht ergreifen konnte? Wusste Muriel, dass sie sich mit der Feenkönigin in Verbindung gesetzt hatte? Wenn ja, war die Anwesenheit der Marionette wahrscheinlich eine Vorsichtsmaßnahme.
Trotzdem stellte Mendigo ein Problem dar. Anscheinend hatte Kendra auf der Insel keinen wirklichen Zauber gewirkt; sie hatte lediglich eine Zutat geholt. Aber wenn sie das Elixier mischte, das die Feenkönigin beschrieben hatte, und es den Feen gab, war das gewiss Magie. Sobald sie ihren Schutz verlor, würde Mendigo sich auf sie stürzen.
Das kam nicht in Frage.
Kendra stellte die Silberschale auf die Stufen, die zu dem Pavillon hinaufführten. Dann drehte sie sich um und stellte sich Mendigo. Die Marionette war mehr als einen halben Kopf größer als sie. »Ich denke, du funktionierst wie Hugo. Du hast kein Gehirn und tust nur, was man dir sagt. Ist das richtig, Mendigo?«
Die Puppe stand reglos da. Kendra versuchte, ihre Angst niederzukämpfen. »Ich glaube zwar nicht, dass du mir gehorchen wirst, aber einen Versuch ist es wert. Mendigo, steig auf einen Baum und bleib für immer dort sitzen.«
Mendigo rührte sich nicht. Kendra ging direkt auf ihn zu. Er versuchte, die Arme zu heben, um sie zu ergreifen, konnte es aber nicht. Als sie direkt vor ihm stand, streckte sie zaghaft einen Finger aus und berührte seinen hölzernen Leib. Er reagierte nicht, schien aber weiter gegen die Macht anzukämpfen, die ihn davon abhielt, sie zu packen.
»Du kannst mich nicht berühren. Ich habe nichts Böses getan und keine Magie benutzt. Aber ich kann dich berühren.« Sie strich sachte über seine beiden Arme. Mendigo zitterte, so sehr versuchte er, sie zu ergreifen.
»Willst du sehen, was ich als Nächstes tun werde?«, fragte Kendra. Mendigo bebte, und seine Haken klirrten, aber er war immer noch nicht imstande, sie zu packen. Sie biss sich unbewusst auf die Unterlippe, ergriff seine beiden Arme direkt unter den Schultern, hakte sie aus und rannte davon. Kendra hörte, wie Mendigo ihr nachjagte, während sie zum Rand des Sees rannte und die hölzernen Arme ins Wasser warf.
Etwas schlug Kendra auf die Schulter und warf sie zu Boden. Es drückte ihr auf den Rücken und hielt sie unten. Kendra bekam kaum Luft. Sie hob den Kopf und sah, dass Mendigo sie mit einem Fuß auf den Boden gedrückt hielt. Wie konnte ein Geschöpf, das so zerbrechlich aussah, so stark sein? Die Stelle, wo er sie an der Schulter getroffen hatte, brannte heftig – sie würde bestimmt einen blauen Fleck bekommen.
Kendra griff nach seinem anderen Bein und hoffte, den Unterschenkel aushaken zu können, aber die Marionette wich ihrer Hand tänzelnd aus. Einen Augenblick lang wirkte Mendigo unentschlossen. Kendra erwartete seinen Angriff.
Wenn sie nur ein Bein aushaken könnte!
Stattdessen eilte Mendigo auf den Steg hinaus. Seine beiden Arme trieben auf dem Wasser. Einer war inzwischen fast außer Reichweite. Mendigo ging in die Hocke, balancierte vorsichtig auf einem Fuß und streckte ein Bein nach dem näheren Arm aus.
Gerade als seine Zehen das Wasser berührten, schnellte eine weiße Hand hervor, packte Mendigo am Knöchel und zog ihn mit einem Platschen in den See. Kendra hielt den Atem an und wartete. Die Marionette kam nicht wieder an die Oberfläche.
Sie rannte zurück und hob die Schale auf. Mit der Schale in der Hand konnte sie jedoch nicht mehr laufen und ging stattdessen mit schnellen Schritten, sorgfältig darauf bedacht, nichts von ihrer kostbaren Fracht zu verschütten. Eilig ging sie zu dem Torbogen in der Hecke und dann den Pfad hinunter zurück zur Straße.
Das Licht der Sterne am östlichen Himmel war noch schwächer geworden. Kendra eilte die Straße entlang. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie nicht länger unter dem vollen Schutz der Gründungsverträge stand. Aber auch wenn sie Unheil angerichtet hatte, es hatte sich zumindest gelohnt. Sie hatte jedoch das Gefühl, dass es nicht das letzte Unheil bleiben würde, das sie in dieser Nacht stiftete.