KAPITEL 7

Gefangene in einem Glas

Die Bodendielen knarrten leise, als Kendra und Seth sich auf Zehenspitzen die Treppe hinunterschlichen. Frühmorgendliches Licht drang durch die geschlossenen Fensterläden und die zugezogenen Vorhänge. Im Haus herrschte vollkommene Stille. Ganz im Gegensatz zur vergangenen Nacht.

Unter ihren Decken auf dem dunklen Dachboden war es Kendra und Seth in der Nacht unmöglich gewesen, zu schlafen, während von unten heulendes Gelächter, Geräusche von splitterndem Glas, zwitschernden Flöten, zuschlagenden Türen und das ständige Getöse geschriener Gespräche an ihr Ohr drangen. Wenn sie die Tür öffneten, um zu spionieren, saß Lena am Fuß der Dachbodentreppe und las ein Buch.

»Geht wieder ins Bett«, sagte sie jedes Mal, wenn sie eine Erkundungsmission starten wollten. »Euer Großvater verhandelt noch.«

Schließlich war Kendra eingeschlafen. Sie glaubte, dass es die Stille war, die sie am Morgen weckte. Als sie sich aus dem Bett rollte, stand Seth ebenfalls auf. Sie stahlen sich die Treppe hinunter, in der Hoffnung, einen Blick auf die Nachwehen der nächtlichen Zecherei werfen zu können.

Der Mantelständer aus Messing war umgestürzt und umgeben von Glasscherben. Ein Gemälde lag mit der Vorderseite nach unten und gebrochenem Rahmen auf dem Boden. jemand hatte mit orangefarbener Kreide ein primitives Symbol an die Wand gekritzelt.

Sie gingen leise ins Wohnzimmer. Tische und Stühle waren umgestürzt. Lampenschirme hingen schief oder waren zerrissen. Leere Gläser, Flaschen und Teller standen im Raum verstreut, mehrere davon zersplittert oder angebrochen. Um die Reste einer Pflanze herum lagen Teile eines Keramiktopfes und ein Häufchen Erde. Überall waren Fußabdrücke – geschmolzener Käse war in den Teppich hineingetreten, Tomatensoße trocknete auf der Armlehne des Sofas, und aus einem zerdrückten Eclair sickerte Eiercreme auf einen Diwan.

Opa Sørensen lag mit einem Vorhang als Decke schnarchend auf der Couch. Die Gardinenstange hing noch dran. Ein hölzernes Zepter hielt er wie einen Teddybären umschlungen. Der seltsame Stab war so geschnitzt, dass sich Weinreben darum zu ranken schienen, der Knauf sah aus wie ein großer Kiefernzapfen. Trotz all des Aufruhrs, den sie in der vergangenen Nacht gehört hatten, war Opa das einzige Zeichen von Leben.

Seth schlenderte zum Arbeitszimmer hinüber. Kendra wollte ihm gerade folgen, als sie einen Umschlag auf dem Tisch neben ihrem Großvater bemerkte. Das dicke Siegel aus blutrotem Wachs war gebrochen, und eine Ecke des zusammengefalteten Papiers ragte einladend heraus.

Kendra sah zu Opa Sørensen hinüber. Er lag mit dem Rücken zum Brief da und machte keine Anstalten, sich zu bewegen.

Wenn er nicht wollte, dass ein Brief gelesen wurde, sollte er ihn nicht offen herumliegen lassen, oder? Es war nicht so, als würde sie ihn ungeöffnet aus seinem Briefkasten stehlen. Außerdem hatte sie mehrere unbeantwortete Fragen, was Fabelheim betraf, und nicht zuletzt wollte sie wissen, was wirklich mit ihrer Oma los war.

Kendra schlich sich mit einem unangenehmen Gefühl im Magen zu dem Tisch hinüber. Spionieren war nicht gerade ihre Stärke. Vielleicht sollte sie Seth den Brief lesen lassen.

Dabei wäre es so einfach. Der Brief lag direkt vor ihr und ragte einladend aus dem offenen Umschlag heraus. Niemand würde es erfahren. Sie drehte den Umschlag um und stellte fest, dass weder eine Adresse noch ein Absender darauf vermerkt waren. Nichts. jemand hatte ihn persönlich überbracht. Maddox vielleicht? Wahrscheinlich.

Kendra überzeugte sich mit einem letzten Blick, dass Opa immer noch im Koma lag, dann zog sie das cremefarbene Papier aus dem Umschlag und faltete es auf. Die Nachricht war mit einer weit ausladenden Handschrift geschrieben.

Lieber Stanley,

ich hoffe, Du erhältst dieses Schreiben bei bester Gesundheit. Es ist uns zu Gehör gekommen, dass die GAS im Nordosten der Vereinigten Staaten ungewöhnliche Aktivität zeigt. Wir sind uns noch nicht sicher, ob es ihnen gelungen ist, den Standort von Fabelheim zu ermitteln, aber einem unbestätigten Bericht zufolge stehen sie mit einem oder mehreren Individuen in Deinem Reservat in Verbindung. Eine wachsende Zahl von Beweisen lässt darauf schließen, dass das Geheimnis offenbart ist.

Ich brauche Dich nicht an die versuchte Infiltration eines bestimmten Reservats im Inneren von Brasilien im vergangenen jahr zu erinnern, oder an die spezielle Bedeutung dieses Reservats und des Deinen.

Wie Du sehr wohl weißt, hat es seit jahrzehnten keine derart aggressiven Aktivitäten von Seiten der GAS mehr gegeben. Wir sind dabei, Deinem Gebiet zusätzliche Mittel zur Verfügung zu stellen. Wie immer haben Geheimhaltung und Irreführung oberste Priorität. Sei wachsam.

Ich suche weiterhin eifrigst nach einer Lösung für die Situation mit Ruth. Lass die Hoffnung nicht fahren. In immerwährender Treue,

S

Kendra las den Brief noch einmal. Ruth war der Name ihrer Oma, aber von welcher Situation war die Rede? Die GAS musste die Gesellschaft des Abendsterns sein. Wofür stand das »S« am Ende des Briefes? Die ganze Nachricht schien ein bisschen vage zu sein, was wahrscheinlich Absicht war.

»Sieh dir das an«, flüsterte Seth aus der Küche.

Kendra zuckte zusammen, und alle Muskeln in ihrem Körper spannten sich. Opa schmatzte mit den Lippen, er bewegte sich. Eine Mischung von Schuldbewusstsein und Panik machte es Kendra vorübergehend unmöglich, sich von der Stelle zu rühren. Seth sah nicht zu ihr herüber. Er beugte sich über etwas in der Küche. Opa lag jetzt wieder still da.

Kendra faltete den Brief zusammen, schob ihn wieder in den Umschlag und versuchte, ihn so hinzulegen, wie sie ihn vorgefunden hatte. Dann schlich sie zu Seth hinüber, der über einem schlammigen Hufabdruck kauerte.

»Sind die hier drin geritten?«, fragte er.

»Das würde den Lärm erklären«, murmelte Kendra und versuchte, lässig zu klingen.

Lena erschien, bekleidet mit einem Bademantel und wirr abstehenden Haaren, in der Tür. »Seht euch diese Frühaufsteher an«, sagte sie leise. »Ihr habt uns erwischt, bevor wir aufräumen konnten.«

Kendra starrte Lena an und versuchte, eine undurchdringliche Miene aufzusetzen. Die Haushälterin ließ mit nichts erkennen, dass sie gesehen hatte, wie sie heimlich den Brief gelesen hatte.

Seth deutete auf die Hufabdrücke. »Was zum Kuckuck ist denn hier passiert?«

»Die Verhandlungen sind gut gelaufen.«

»Ist Maddox noch hier?«, fragte Seth hoffnungsvoll.

Lena schüttelte den Kopf. »Er ist vor etwa einer Stunde mit einem Taxi weg.«

Opa Sørensen kam mit Boxershorts, Socken und einem mit braunem Senf bekleckerten Unterhemd in die Küche geschlurft. Er blinzelte sie an. »Warum seid ihr zu dieser gottlosen Stunde schon alle auf den Beinen?«

»Es ist nach sieben«, sagte Seth.

Opa verdeckte ein Gähnen mit der Faust. In der anderen Hand hielt er den Umschlag. »Ich fühle mich heute ein wenig angeschlagen – vielleicht lege ich mich für ein Weilchen hin. Bis dann.« Er kratzte sich am Oberschenkel und schlurfte davon.

»Vielleicht könnt ihr heute Morgen draußen spielen«, sagte Lena. »Euer Großvater war bis vor vierzig Minuten noch wach. Er hatte eine lange Nacht.«

»Es wird mir schwerfallen, Opa ernst zu nehmen, wenn er uns erzählt, dass wir die Möbel mit Respekt behandeln sollen«, bemerkte Kendra. »Es sieht aus, als wäre er mit einem Traktor hier durchgefahren.«

»Von Pferden gezogen!«, ergänzte Seth.

»Maddox weiß ein Fest zu schätzen, und dein Großvater ist ein entgegenkommender Gastgeber«, erwiderte Lena. »Ohne eure Großmutter, die dem Frohsinn immer gewisse Schranken auferlegt, sind die Dinge ein wenig zu festlich geworden. Und die Satyre haben alles natürlich nur noch schlimmer gemacht.« Sie deutete auf die schlammigen Hufabdrücke.

»Satyre?«, fragte Kendra. »So was wie Ziegenmänner?«

Lena nickte. »Manch einer würde sagen, dass sie eine Party allzu sehr in Schwung bringen.«

»Das sind Ziegenabdrücke?«, fragte Seth.

»Satyrabdrücke, ja.«

»Ich wünschte, ich hätte sie gesehen«, klagte Seth.

»Deine Eltern wären froh, dass du sie nicht gesehen hast. Satyre würden dir nur schlechte Manieren beibringen. Ich glaube sogar, sie haben sie erfunden.«

»Ich bin traurig, dass wir die Party verpasst haben«, sagte Kendra.

»Das musst du nicht sein. Es war keine Party für junge Leute. Als Verwalter würde dein Großvater niemals trinken, aber für die Satyre kann ich mich nicht verbürgen. Wir werden eine richtige Party feiern, bevor ihr wieder fahrt.«

»Werden Sie Satyre einladen?«, fragte Seth.

»Wir werden sehen, was dein Großvater dazu sagt«, antwortete Lena zweifelnd. »Vielleicht einen.« Lena öffnete den Kühlschrank und schenkte zwei Gläser Milch ein. »Trinkt eure Milch und dann lauft. Ich habe schwere Aufräumarbeiten vor mir.«

Kendra und Seth nahmen ihre Gläser. Lena öffnete die Speisekammer, nahm einen Besen und eine Kehrschaufel heraus und verließ den Raum. Kendra trank ihre Milch mit mehreren tiefen Schlucken und stellte ihr leeres Glas auf die Theke. »Hast du Lust, schwimmen zu gehen?«, fragte sie.

»Ich komme nach«, sagte Seth. Er hatte noch Milch in seinem Becher.

Kendra ging.

Nachdem er seine Milch ausgetrunken hatte, spähte Seth in die Speisekammer. So viele Regale, auf denen sich so viel Essbares stapelte! Auf einem Regal befand sich nichts als große Gläser mit Eingekochtem. Bei näherer Erkundung zeigte sich, dass die Gläser in Dreierreihen hintereinanderstanden.

Seth ging rückwärts aus der Speisekammer und sah sich um. Dann trat er wieder ein, nahm sich ein großes Glas Brombeeren und zog eines aus der zweiten Reihe nach vorne, um die Lücke zu verbergen. Ein halb leeres Glas aus dem Kühlschrank würden sie vielleicht vermissen. Aber eins von vielen ungeöffneten Gläsern aus einer überfüllten Speisekammer? Unwahrscheinlich.

Er konnte listiger sein, als Kendra ahnte.

Die Fee balancierte auf einem Zweig, der aus einer niedrigen Hecke neben dem Pool herausragte. Die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt, ging sie über den winzigen Ast und passte sich an seine Bewegungen an. Je weiter sie kam, desto wackliger wurde sie. Die Miniaturschönheitskönigin hatte platinblondes Haar, ein silbernes Kleid und glitzernde, durchschimmernde Flügel.

Seth sprang vor und ließ den Käscher niedersausen. Das blaue Netz umfing den Zweig, aber die Fee huschte im letzten Moment davon. Sie schwebte in der Luft und drohte Seth mit dem Finger. Er schwang den Käscher abermals, und die flinke Fee entging zum zweiten Mal einer Gefangennahme und flog außer Reichweite.

»Das solltest du nicht tun«, sagte Kendra vom Pool aus.

»Warum nicht? Maddox fängt sie doch auch.«

»Aber draußen in freier Wildbahn«, korrigierte Kendra ihn. »Diese hier gehören bereits Opa. Es ist so, als würdest du in einem Zoo Löwen jagen.«

»Vielleicht wäre es eine gute Übung, im Zoo Löwen zu jagen.«

»Am Ende wirst du es nur so weit bringen, dass die Feen böse auf dich sind.«

»Es macht ihnen nichts aus«, sagte er und schlich sich an eine Fee mit breiten, gazeähnlichen Flügeln an, die einige Zentimeter über einem Blumenbeet flatterte. »Sie fliegen einfach davon.« Langsam brachte er den Käscher in Position. Die Fee war direkt unter dem Netz, einen halben Meter entfernt von der Gefangenschaft. Mit einer schnellen Drehung seiner Handgelenke ließ er den Käscher hinunterschnellen. Die Fee wich ihm aus und glitt davon.

»Was willst du machen, wenn du eine fängst?«

»Wahrscheinlich lasse ich sie wieder frei.«

»Welchen Sinn hat das Ganze dann?«

»Ich will sehen, ob ich es kann.«

Kendra hievte sich aus dem Wasser. »Nun, offensichtlich kannst du es nicht. Sie sind zu schnell.« Tropfnass ging sie zu ihrem Handtuch hinüber. »Oh, meine Güte, sieh dir die hier an.« Sie zeigte auf den Fuß eines blühenden Buschs.

»Wo?«

»Genau da. Warte, bis sie sich bewegt. Sie ist praktisch unsichtbar.«

Er starrte den Busch an, unsicher, ob sie ihn aufzog oder nicht.

»Siehst du! Sie ist durchsichtig wie Glas.«

Seth schlich sich näher heran, den Käscher fest umklammert.

»Seth, nicht.«

Plötzlich stürmte er los, nachdem er sich diesmal für einen schnellen Angriff entschieden hatte. Die transparente Fee flog davon und verschwand vor dem Himmel. »Warum halten sie nicht still!«

»Sie sind magisch«, antwortete Kendra. »Es macht einfach nur Spaß, sie anzuschauen und all die vielen Arten zu sehen.«

»Toller Spaß. Ungefähr so toll, wie wenn Mom uns zwingt, mit ihr Autofahrten zu unternehmen, um zu sehen, wie die Blätter ihre Farbe wechseln.«

»Ich hol mir erst mal Frühstück. Ich bin halb verhungert.«

»Dann geh. Vielleicht hab ich ja mehr Glück, wenn du nicht da bist und dauernd rumkreischst.«

Kendra ging, eingehüllt in ihr Handtuch, zum Haus. Sie trat durch die Hintertür und sah, wie Lena einen zerbrochenen Couchtisch in die Küche schleppte. Ein großer Teil der Oberfläche des Tisches war aus Glas. Das meiste davon war zerbrochen.

»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte Kendra.

»Ich komme gut zurecht.«

Kendra griff nach der anderen Seite des Tisches. Sie stellten ihn in eine Ecke der geräumigen Küche. Andere zerbrochene Gegenstände hatten ebenfalls den Weg dorthin gefunden, einschließlich der scharfkantigen Bruchstücke des Keramiktopfes, der Kendra zuvor aufgefallen war.

»Warum stellen Sie alles hier herein?«

»Weil hier die Wichtel hinkommen.«

»Wichtel?«

»Komm mit und sieh es dir an.« Lena führte Kendra zur Kellertür und deutete auf eine zweite kleine Tür am unteren Ende; sie war ungefähr so groß, dass eine Katze hindurchpasste. »Die Wichtel haben eine spezielle Luke, durch die sie in den Keller gelangen, und durch diese Tür kommen sie in die Küche. Sie sind die einzigen magischen Geschöpfe, die das Haus betreten dürfen, wie es ihnen beliebt. Die Wichteltore werden durch Magie gegen alle anderen Geschöpfe des Waldes geschützt.«

»Warum lassen Sie sie herein?«

»Wichtel sind nützlich. Sie reparieren Dinge. Sie machen Dinge. Sie sind bemerkenswerte Handwerker.«

»Werden sie die kaputten Möbel reparieren?«

»So gut sie können.«

»Warum?«

»Es ist ihre Natur. Sie wollen keine Belohnung.«

»Wie nett von ihnen«, sagte Kendra.

»Erinnere mich heute Abend daran, einige Kochzutaten draußen stehen zu lassen. Dann werden sie uns bis zum Morgen etwas Köstliches backen.«

»Was werden sie zubereiten?«

»Das weiß man nie. Man äußert keine Bitten. Man lässt einfach die Zutaten draußen stehen und wartet ab, was sie daraus machen.«

»Hört sich lustig an!«

»Ich werde eine ganze Menge draußen lassen. Ganz gleich, was für seltsame Kombinationen man stehen lässt, sie erfinden immer etwas Köstliches.«

»Es gibt so Vieles, was ich nicht über Fabelheim weiß«, meinte Kendra. »Wie groß ist es?«

»Das Reservat erstreckt sich über viele Kilometer. Es ist viel größer, als man vermuten würde.«

»Und gibt es überall magische Wesen?«

»Fast überall«, antwortete Lena. »Aber wie dein Großvater schon gesagt hat, einige dieser Kreaturen können tödlich sein. Es gibt viele Orte auf dem Besitz, wo nicht einmal er sich hinwagt.«

»Ich möchte mehr wissen. Alle Einzelheiten.«

»Hab Geduld. Lass die Dinge sich entfalten.« Sie drehte sich zum Kühlschrank um und wechselte das Thema. »Du musst Hunger haben.«

»Ein wenig.«

»Ich werde ein paar Eier in die Pfanne hauen. Will Seth auch etwas essen?«

»Wahrscheinlich«, sagte Kendra und lehnte sich an die Anrichte. »Eins wollte ich immer schon mal wissen: Ist alles aus der Mythologie wahr?«

»Erklär mir, was du meinst.«

»Ich habe Feen gesehen und Beweise dafür, dass es Satyre gibt. Existieren die anderen Wesen auch alle?«

»Keine Mythologie oder Religion, die ich kenne, enthält alle Antworten. Die meisten Religionen gründen sich auf Wahrheiten, aber sie sind auch verwässert durch die Philosophien und Fantasien der Menschen. Ich nehme an, dass deine Frage sich auf die griechische Mythologie bezieht. Gibt es ein Pantheon voll peinlicher Götter, die sich ständig zanken und sich in das Leben der Sterblichen einmischen? Ich weiß nichts von solchen Wesen. Steckt in all diesen alten Geschichten und Glaubensvorstellungen ein wahrer Kern? Offenkundig, ja. Schließlich sprichst du gerade mit einer ehemaligen Najade. Gerührt?«

»Was?«

»Die Eier.«

»Klar.«

Lena schlug Eier in einer Pfanne. »Viele der Wesen, die jetzt hier sind, lebten in Würde, als die Menschen noch in Stämmen lebten und durch die Wälder streiften. Wir haben sie die Geheimnisse von Feuer, Brot und Ton gelehrt. Aber die Menschen wurden im Laufe der Zeit blind für uns. Begegnungen mit Sterblichen wurden selten. Und dann begann die Menschheit uns einzuengen. Durch Bevölkerungsexplosion und Technologie haben wir viele unserer uralten Lebensräume verloren. Die Menschheit meinte es nicht wirklich böse mit uns, wir verblassten lediglich zu bunten Witzfiguren aus Mythen und Fabeln.

Es gibt stille Winkel auf der Welt, in der Unseresgleichen noch immer ungestört leben kann. Und doch wird unweigerlich der Tag kommen, an dem der einzige Raum, der uns noch verbleibt, diese Refugien sind, ein kostbares Geschenk von erleuchteten Sterblichen.«

»Das ist alles so traurig«, sagte Kendra.

»Du brauchst nicht traurig zu sein. Meinesgleichen verweilt nicht bei solchen Sorgen. Sie vergessen die Zäune, die die Reservate umschließen. Ich sollte nicht darüber sprechen, was früher einmal war. Mit meinem sterblichen Verstand sehe ich die Veränderungen viel deutlicher, als sie es tun. Ich spüre den Verlust schmerzlicher.«

»Opa hat gesagt, es steht uns eine Nacht bevor, in der alle Geschöpfe hier verrücktspielen.«

»Mitsommernacht. Die Festnacht.«

»Wie ist das so?«

»Das sollte ich lieber nicht sagen. Dein Großvater möchte nicht, dass ihr euch deswegen schlaflose Nächte macht, bevor es so weit ist. Er hätte euren Besuch lieber auf einen anderen Termin gelegt, damit ihr in der Mitsommernacht nicht hier seid.«

Kendra versuchte, möglichst unbekümmert zu klingen. »Werden wir in Gefahr sein?«

»Jetzt machst du dir doch Sorgen. Es wird euch nichts passieren, wenn ihr die Anweisungen befolgt, die euer Großvater euch gibt.«

»Was ist mit der Gesellschaft des Abendsterns? Maddox schien ihretwegen besorgt zu sein.«

»Die Gesellschaft des Abendsterns war schon immer eine Bedrohung«, gestand Lena. »Aber diese Reservate existieren seit Jahrhunderten, manche seit Jahrtausenden. Fabelheim ist gut geschützt, und euer Großvater ist kein Narr. Du brauchst dir wegen dieser Gerüchte nicht den Kopf zu zerbrechen. Ich werde nichts mehr zu dem Thema sagen. Möchtest du Käse in deinen Eiern?«

»Ja, bitte.«

 

Als Kendra fort war, holte Seth die Ausrüstung hervor, die er in sein Handtuch gewickelt hatte, einschließlich seiner Notfallausrüstung und des Glases, das er aus der Speisekammer geschmuggelt hatte. Das Glas war jetzt leer; er hatte es im Spülbecken im Badezimmer ausgewaschen. Er nahm sein Taschenmesser heraus und stach Löcher in den Deckel.

Schließlich schraubte er den Deckel auf, sammelte ein paar Grashalme, Blütenblätter, einen Zweig und einen Kiesel zusammen und legte sie in das Glas. Dann wanderte er vom Pool aus in den Garten, aber diesmal ohne den Käscher. Wenn Geschicklichkeit versagte, musste er eben List anwenden.

Er fand eine gute Stelle nicht weit von einem Springbrunnen entfernt, nahm den kleinen Spiegel aus seiner Müslischachtel und legte ihn in das Glas. Nachdem er das Glas auf eine Steinbank gestellt hatte, hockte er sich mit dem Deckel in der Hand ins Gras.

Die Feen brauchten nicht lange. Mehrere huschten um den Springbrunnen herum. Einige umkreisten träge das Glas. Nach wenigen Minuten landete eine kleine Fee mit Flügeln wie eine Biene auf dem Rand des Glases und starrte hinein. Anscheinend zufrieden, ließ sie sich in das Glas fallen und begann, sich in dem Spiegel zu bewundern. Schon bald gesellte sich eine weitere dazu. Und noch eine.

Seth schlich langsam näher, bis er das Glas in Reichweite hatte. Alle Feen kamen wieder herausgeflattert. Er wartete. Einige flogen davon. Neue kamen herbei. Eine kroch in das Glas, schnell gefolgt von zwei weiteren.

Seth machte einen Satz nach vorn und klatschte den Deckel auf das Glas. Die Feen waren so schnell! Er hatte gedacht, er könnte alle drei fangen, aber zwei sirrten heraus, kurz bevor der Deckel die Öffnung verschloss. Die im Glas verbliebene Fee drückte mit überraschender Kraft von innen gegen den Deckel. Er schraubte ihn zu.

Die Fee war nicht größer als sein kleiner Finger. Sie hatte feurig rotes Haar und schillernde Libellenflügel. Die erzürnte Fee hämmerte geräuschlos mit ihren winzigen Fäusten gegen das Glas. Überall um ihn herum hörte Seth das Klimpern von winzigen Glöckchen. Die anderen Feen deuteten auf die Gefangene und lachten. Die Fee in dem Glas schlug noch heftiger gegen das Glas, doch vergeblich.

Seth hatte es schließlich doch noch geschafft.

 

Großpapa tunkte den Plastikring in die Flasche und hob ihn an die Lippen. Als er sanft hindurchblies, bildeten sich mehrere Seifenblasen und schwebten über die Veranda.

»Man weiß nie, wovon sie sich faszinieren lassen«, sagte er. »Aber mit Seifenblasen klappt es fast immer.«

Opa saß in einem großen Bastschaukelstuhl. Kendra, Seth und Dale saßen um ihn herum. Die untergehende Sonne färbte den Horizont purpurrot.

»Ich versuche, keinen unnötigen modernen Schnickschnack hierherzubringen«, fuhr er fort und tunkte den Stiel mit dem Ring abermals in das Fläschchen. »Aber Seifenblasen kann ich einfach nicht widerstehen.« Er blies, und weitere Seifenblasen kamen zum Vorschein.

Eine Fee, die im verblassenden Tageslicht sanft leuchtete, näherte sich einer der Seifenblasen. Nachdem sie sie einen Moment lang betrachtet hatte, berührte sie sie, und die Blase färbte sich hellgrün. Eine weitere Berührung, und sie wurde tintenblau. Noch eine, und sie war golden.

Opa machte immer mehr Seifenblasen, und weitere Feen kamen auf die Veranda. Schon bald wechselten alle Seifenblasen die Farben. Die Schattierungen wurden immer leuchtender, während die Feen miteinander wetteiferten. Irgendwann zerplatzten die Seifenblasen in strahlendem Licht.

Eine Fee sammelte Seifenblasen, bis sie einen ganzen Strauß beisammen hatte, der aussah wie ein bunter Traubenstock. Eine andere Fee glitt in ihre Seifenblase hinein und blies sie von innen auf, bis sie auf die dreifache Größe angeschwollen war und mit einem violetten Blitz zerplatzte. Eine Seifenblase in Kendras Nähe schien voller blinkender Glühwürmchen zu sein. Eine verwandelte sich direkt vor Opas Nase zu Eis, fiel auf die Veranda und zerbarst.

Die Feen scharten sich um Opa, erpicht auf die nächsten Seifenblasen. Er machte immer neue, und die Feen stellten weiter ihre Kreativität zur Schau. Sie füllten Blasen mit schimmerndem Nebel. Sie verbanden sie zu Ketten. Sie verwandelten sie in Feuerbälle. Die Oberfläche einer Blase warf das Licht zurück wie ein Spiegel. Eine andere nahm die Form einer Pyramide an. Wieder eine andere knisterte elektrisch.

Als Opa die Seifenlösung beiseitestellte, zerstreuten die Feen sich allmählich. Die Sonne war fast untergegangen. Einige Feen tollten zwischen den Windspielen umher und machten leise Musik. »Obwohl es die meisten in der Familie nicht wissen«, sagte Opa, »haben mich einige eurer Vettern und Cousinen hier besucht. Keiner von ihnen ist auch nur ansatzweise dahintergekommen, was hier wirklich vor sich geht.«

»Hast du ihnen keine Hinweise gegeben?«, erkundigte sich Kendra.

»Nicht mehr oder weniger, als ich euch gegeben habe. Sie hatten nicht die richtige Einstellung.«

»War Erin dabei?«, fragte Seth. »Sie ist eine taube Nuss.«

»Sei nicht so gehässig«, tadelte Opa. »Was ich sagen will, ist Folgendes: Es imponiert mir, wie schnell ihr euch auf diesen ungewöhnlichen Ort eingestellt habt.«

»Lena sagte, wir könnten eine Party mit Ziegenleuten feiern«, meinte Seth.

»Ich würde mich an eurer Stelle nicht allzu sehr darauf freuen. Hat sie von den Satyren erzählt?«

»Wir haben Hufabdrücke in der Küche gefunden«, erklärte Kendra.

»Die Dinge sind gestern Nacht ein wenig außer Kontrolle geraten«, gestand Opa. »Glaub mir, Seth, das Letzte, was ein Junge deines Alters braucht, ist Umgang mit Satyren.«

»Warum hast du dann Umgang mit ihnen?«, fragte Seth.

»Ein Besuch von einem Feenhändler ist ein bedeutendes Ereignis und mit gewissen Erwartungen verbunden. Ich gebe zu, dass Frohsinn manchmal an Torheit grenzt.«

»Darf ich mal Seifenblasen machen?«, fragte Seth.

»Ein anderes Mal. Ich plane für morgen einen besonderen Ausflug für euch. Am Nachmittag muss ich zum Kornspeicher, und ich habe vor, euch mitzunehmen und euch mehr von dem Land hier zu zeigen.«

»Wir werden etwas anderes sehen als Feen?«, fragte Seth.

»Wahrscheinlich.«

»Das freut mich«, sagte Kendra. »Ich möchte alles sehen, das du uns zu zeigen bereit bist.«

»Alles zu seiner Zeit, meine Liebe.«

 

So wie Kendra atmete, war Seth sich ziemlich sicher, dass sie schlief. Er richtete sich langsam auf. Sie bewegte sich nicht. Er hüstelte leise. Sie zuckte nicht einmal.

Er schob sich aus dem Bett und ging durch das Zimmer zu seiner Kommode. Vorsichtig zog er die dritte Schublade von unten auf. Da war sie. Zweig, Gras, Kieselstein, Blumenblätter, Spiegel und alles. In der Dunkelheit erhellte ihr inneres Leuchten die ganze Schublade.

Ihre winzigen Hände gegen das Glas gepresst blickte sie verzweifelt zu ihm auf. Sie zirpte etwas in einer zwitschernden Sprache und bedeutete ihm, den Deckel zu öffnen.

Seth blickte über die Schulter. Kendra rührte sich nicht.

»Gute Nacht, kleine Fee«, flüsterte er. »Mach dir keine Sorgen. Morgen Früh werde ich dir etwas Milch geben.«

Er drückte die Schublade langsam zu. Die Fee schien in Panik zu geraten und verdoppelte ihre verzweifelten Anstrengungen. Es sah aus, als würde sie gleich zu weinen anfangen. Seth stutzte. Vielleicht würde er sie morgen freilassen.

»Es ist alles gut, kleine Fee«, sagte er sanft. »Schlaf jetzt. Wir sehen uns morgen Früh.«

Sie faltete die Hände und schüttelte sie mit einer flehentlichen Geste, ihre Augen bettelten ihn an. Sie war so hübsch mit ihrem feurigroten Haar und der cremeweißen Haut. Das perfekte Schoßtier. Viel besser als eine Henne. Welches Huhn konnte schon Seifenblasen in Brand stecken?

Er schloss die Schublade endgültig und ging zurück in sein Bett.