KAPITEL 10

Mittsommernacht

Opa stocherte mit einem Schüreisen im Kamin. Eines der Holzscheite barst, und ein Funkenregen stieg in den Kamin auf. Dale schenkte sich eine Tasse dampfenden Kaffee ein und schaufelte drei Löffel Zucker hinein. Lena spähte durch die Fensterläden nach draußen.

»Die Sonne wird gleich untergehen«, verkündete sie.

Kendra saß neben Seth auf dem Sofa und beobachtete, wie Opa das Feuer schürte. Die Vorbereitungen waren in vollem Gang. In den Eingängen des Hauses hingen und standen bereits jede Menge Kürbislaternen. Lena hatte Recht gehabt – Dale hatte mehr als zweihundert Kürbisse ausgehöhlt. Nicht ganz dreißig Feen hatten sich zum Dienst gemeldet, viel weniger, als Opa erwartet hatte, selbst angesichts der momentan angespannten Beziehungen.

Acht von den Feenlaternen waren auf dem Dach vor dem Dachboden platziert worden, vier an jedem Fenster. In den übrigen Kürbissen befanden sich je zwei Leuchtstäbe. Opa Sørensen bestellte sie offensichtlich kistenweise.

»Wird es gleich nach Sonnenuntergang losgehen?«, fragte Seth.

»Die Dinge werden erst richtig in Gang kommen, wenn die Dämmerung vorüber ist«, antwortete Opa und stellte das Schüreisen neben den Kamin. »Aber für euch Kinder ist an der Zeit, euch in euer Zimmer zurückzuziehen.«

»Ich will mit dir aufbleiben«, sagte Seth.

»Das Schlafzimmer auf dem Dachboden ist der sicherste Ort im Haus«, entgegnete Opa.

»Warum bleiben wir dann nicht alle auf dem Dachboden?« , fragte Kendra.

Opa schüttelte den Kopf. »Die Zauber, die den Dachboden schützen, funktionieren nur, wenn Kinder darin sind. Ohne Kinder, oder wenn Erwachsene mit im Raum sind, verlieren die Barrieren ihre Wirkung.«

»Ist nicht eigentlich das ganze Haus sicher?«, wollte Kendra wissen.

»Ich glaube, ja, aber in einem Zauberreservat ist nichts jemals gewiss. Ich mache mir Sorgen, weil sich heute Nachmittag so wenige Feen gemeldet haben. Ich fürchte, es wird eine besonders wilde Mittsommernacht werden. Vielleicht die schlimmste, seit ich hier lebe.«

Ein langgezogenes, klagendes Heulen unterstrich Opa Sørensens Bemerkung. Ein weiteres Heulen erschallte, lauter und näher; es endete in einem Gackern. Kendra bekam eine Gänsehaut.

»Die Sonne ist untergegangen«, meldete Lena vom Fenster aus. Sie kniff die Augen zusammen und schlug sich eine Hand auf den Mund. Lena verriegelte die Fensterläden und trat zurück. »Sie kommen bereits in den Garten.«

Kendra beugte sich vor. Lena wirkte tatsächlich beunruhigt. Sie war sichtlich blass geworden. Ihre dunklen Augen sahen bestürzt aus.

Opa runzelte die Stirn. »Probleme?«

Sie nickte.

Opa klatschte in die Hände. »Auf den Dachboden mit euch.«

Die Anspannung im Raum hinderte Kendra daran, zu protestieren, und Seth schien es genauso zu gehen. Opa Sørensen folgte ihnen die Treppe hinauf durch die Diele und in ihr Schlafzimmer.

»Deckt euch zu«, sagte er.

»Was ist das, das da bei den Betten liegt?«, fragte Seth und untersuchte den Boden.

»Kreise aus besonderem Salz«, antwortete Opa. »Eine zusätzliche Schutzmaßnahme.«

Kendra stieg sorgfältig über das Salz, schlug die Decken auf und stieg ins Bett. Die Laken fühlten sich kühl an. Opa reichte ihr zwei kleine, schwammähnliche Zylinder.

»Ohrenstöpsel«, sagte er und gab Seth auch ein Paar davon. »Ich schlage vor, ihr steckt sie euch in die Ohren, damit ihr schlafen könnt.«

»Man stopft sie sich einfach in die Ohren?«, fragte Seth, während er einen der Stöpsel argwöhnisch beäugte.

»Dafür sind sie gedacht«, antwortete Opa.

Im Garten brach plötzlich schrilles Gelächter aus. Kendra und Seth sahen sich besorgt an. Opa setzte sich auf Kendras Bettkante.

»Ich möchte, dass ihr heute Nacht tapfer und verantwortungsbewusst seid«, sagte er.

Sie nickten schweigend.

»Ihr solltet wissen«, fuhr er fort, »dass ich euch nicht einzig und allein deshalb habe herkommen lassen, um euren Eltern einen Gefallen zu tun. Eure Großmutter und ich werden langsam alt. Der Tag wird kommen, an dem andere sich um dieses Reservat kümmern sollten. Wir müssen Erben finden. Dale ist ein guter Mann, aber er hat kein Interesse daran, den Betrieb zu leiten. Ihr habt mich bisher beeindruckt. Ihr seid klug, abenteuerlustig und mutig.

Das Leben hier hat einige unerfreuliche Seiten. Festnächte sind ein gutes Beispiel dafür. Vielleicht fragt ihr euch, warum wir die Nacht nicht einfach alle in einem Hotel verbringen; wenn wir das täten, wäre das Haus bei unserer Rückkehr nur noch eine Ruine. Unsere Anwesenheit ist von größter Wichtigkeit für die Magie, die diese Mauern schützt. Falls ihr jemals etwas mit den Aufgaben in diesem Reservat zu tun haben solltet, werdet ihr lernen müssen, mit gewissen unerfreulichen Realitäten fertigzuwerden. Betrachtet die heutige Nacht als Test. Wenn das chaotische Treiben draußen zu viel für euch ist, dann gehört ihr nicht hierher. Das ist keine Schande. Menschen, die hierhergehören, sind selten.«

»Wir kommen schon zurecht«, meinte Seth.

»Das glaube ich auch. Hört jetzt gut zu, wenn ich euch meine letzten Anweisungen gebe. Sobald ich die Tür hinter mir schließe, verlasst ihr nicht mehr eure Betten, ganz gleich, was ihr hört, und ganz gleich, was geschieht. Wir werden nicht vor dem Morgen zurückkommen, um nach euch zu sehen. Ihr werdet vielleicht denken, dass ihr mich oder Dale oder Lena bitten hört, hereinkommen zu dürfen. Seid gewarnt. Es wird keiner von uns sein.

Dieser Raum ist uneinnehmbar, es sei denn, ihr öffnet ein Fenster oder eine Tür. Bleibt in euren Betten, und es wird euch nichts geschehen. Mit den Feenlaternen an euren Fenstern stehen die Chancen gut, dass sich nichts diesem Teil des Hauses nähern wird. Versucht, den Tumult der Nacht zu ignorieren, und wir werden uns morgen ein ganz besonderes Frühstück gönnen. Irgendwelche Fragen?«

»Ich habe Angst«, sagte Kendra. »Geh nicht weg.«

»Ihr seid ohne mich sicherer. Wir werden die ganze Nacht unten Wache halten. Alles wird gut gehen. Schlaft einfach.«

»Schon okay, Opa«, sagte Seth. »Ich werde ein Auge auf sie haben.«

»Hab auch eins auf dich selbst«, erwiderte Opa streng. »Du gehorchst mir heute Nacht. Das ist kein Spiel.«

»Geht in Ordnung.«

Draußen begann der Wind durch die Bäume zu pfeifen. Der Tag war ruhig gewesen, aber jetzt rüttelte eine heulende Böe an dem Haus. Die Schindeln über ihnen klapperten, und die Bretter knarrten.

Opa ging zur Tür. »Eigenartige Winde heute. Ich gehe jetzt besser nach unten. Gute Nacht, schlaft schön, ich sehe euch bei Sonnenaufgang.« Er schloss die Tür. Der Wind verebbte. Goldlöckchen gackerte leise.

»Du machst Witze, oder?«, sagte Kendra.

»Ich weiß«, erwiderte Seth. »Ich mache praktisch ins Bett.«

»Ich glaube nicht, dass ich heute Nacht auch nur ein Auge zutun werde.«

»Ich weiß, dass ich es nicht tun werde.«

»Wir sollten es besser versuchen«, meinte Kendra.

»In Ordnung.«

Kendra steckte die Stöpsel in die Ohren. Sie schloss die Augen, zog die Beine an und kuschelte sich in ihre Decke. Jetzt brauchte sie nur noch einzuschlafen, um den erschreckenden Geräuschen der Nacht zu entkommen. Sie zwang sich, zu entspannen. Kendra ließ ihren Körper schlaff werden und versuchte, ihre Gedanken freizumachen.

Es war schwer, nicht daran zu denken, wie es wäre, den Besitz zu erben. Niemals würde sie ihn Seth allein überlassen! Nach fünf Minuten würde alles in die Luft fliegen! Wie es wohl wäre, all die rätselhaften Geheimnisse von Fabelheim zu kennen? Es konnte beängstigend sein, wenn sie allein war. Sie würde das Geheimnis mit ihren Eltern teilen müssen, damit sie bei ihr leben konnten.

Nach einigen Minuten rollte sie sich auf die Seite, um in die andere Richtung zu blicken. Es fiel ihr immer schwer, einzuschlafen, wenn sie zu erpicht darauf war. Sie versuchte, an nichts zu denken, versuchte, sich auf ihren Atem zu konzentrieren. Seth sagte etwas, aber durch die Ohrenstöpsel konnte sie ihn nicht verstehen. Kendra zog sie heraus.

»Was?«

»Ich hab gesagt, die Spannung bringt mich um. Benutzt du die Ohrenstöpsel etwa wirklich?«

»Natürlich. Du nicht?«

»Ich will nichts verpassen.«

»Bist du verrückt?«

»Ich bin kein bisschen müde«, sagte er. »Und du?«

»Nicht besonders.«

»Glaubst du, ich traue mich, aus dem Fenster zu schauen!«

»Red nicht solchen Blödsinn!«

»Die Sonne ist gerade erst untergegangen. Jetzt wäre die beste Zeit!«

»Wie wäre es mit nie?«

»Du bist feiger als Goldlöckchen.«

»Du hast weniger Hirn als Hugo.«

Der Wind schwoll wieder an und nahm stetig an Kraft zu. Zitterndes Stöhnen hallte in der Brise wider, ächzte in verschiedenen Tonlagen und vereinte sich zu gespenstischen, disharmonischen Klängen. Ein langgezogener, vogelähnlicher Schrei übertönte den geisterhaften Refrain; das Geräusch fing auf der einen Seite des Hauses an, zog über das Dach hinweg und verhallte schließlich. In der Ferne begann eine Glocke zu läuten.

Seth schien nicht mehr ganz so mutig zu sein. »Vielleicht sollten wir doch versuchen, etwas zu schlafen«, meinte er und steckte sich die Stöpsel in die Ohren.

Kendra tat das Gleiche. Die Geräusche waren jetzt zwar gedämpft, aber immer noch zu hören: Der heulende Wind klagte, das Haus bebte, und es erklangen immer neue Schreie und wilde Ausbrüche von gackerndem Gelächter. Das Kissen wurde warm, und Kendra drehte es auf die kalte Seite.

Bis jetzt war der Raum vom letzten Tageslicht erhellt worden. Als das Zwielicht verschwand, wurde es dunkel im Zimmer. Kendra presste beide Hände auf die Ohren, um die dämpfende Wirkung der Ohrenstöpsel zu verstärken. Sie sagte sich, dass die Geräusche nur von dem Sturm kamen.

Ein tiefes, rhythxnisches Wummern stimmte in die Kakophonie ein. Es wurde immer lauter und schneller, und darüber erhob sich ein klagender Gesang. Kendra widerstand geisterhaften Bildern von wilden Dämonen auf der Jagd.

Zwei Hände legten sich um ihre Kehle. Sie zuckte zusammen, ruderte wild mit den Armen und schlug Seth mit dem Handrücken auf die Wange.

»Meine Güte!«, beklagte Seth sich und taumelte zurück.

»Das hast du dir selbst zuzuschreiben! Was ist bloß los mit dir?«

»Du hättest dein Gesicht sehen sollen«, lachte er, als er sich von der Ohrfeige erholt hatte.

»Geh wieder ins Bett.«

Er setzte sich auf den Rand von Kendras Bett. »Du solltest deine Ohrenstöpsel rausnehmen. Nach einer Weile ist der Lärm gar nicht mehr so schlimm. Er erinnert mich an diese CD, die Dad immer an Halloween spielt.«

Sie nahm ihr Stöpsel heraus. »Nur dass der Lärm das ganze Haus erschüttert. Und er ist echt.«

»Willst du nicht aus dem Fenster schauen?«

»Nein ! Hör auf, davon zu reden!«

Seth beugte sich vor und knipste die Nachttischlampe an – eine leuchtende Snoopy-Figur. »Ich sehe nicht ein, warum das so eine große Sache sein soll. Ich meine, da draußen kann man wahrscheinlich gerade alle möglichen coolen Sachen sehen. Was ist dagegen einzuwenden, einen kleinen Blick zu riskieren?«

»Opa hat gesagt, wir sollen das Bett nicht verlassen!«

»Opa erlaubt den Leuten, hinzuschauen, wenn sie älter sind«, erwiderte Seth. »Dale hat es mir erzählt. Also kann es nicht so gefährlich sein. Opa denkt lediglich, ich wäre ein Idiot.«

»Ja, und er hat Recht!«

»Denk doch mal nach. In freier Wildbahn würdest du einem Tiger nicht über den Weg laufen wollen. Du würdest dich zu Tode ängstigen. Aber in einem Zoo? Da kann dich der Tiger nicht erwischen. Dieser Raum ist sicher. Wenn wir aus dem Fenster schauen, ist das wie in einem Zoo voller Monster!«

»Es wäre wohl eher wie ein Blick aus einem Käfig, der einen vor den Haifischen schützen soll.«

Ein plötzliches, donnerndes Stakkato erschütterte das Dach, als galoppierte ein Pferdegespann über die Schindeln. Seth zuckte zusammen und hob schützend die Arme über den Kopf. Kendra hörte das Rattern von Wagenrädern.

»Willst du nicht sehen, was das war?«, fragte Seth.

»Versuchst du, mir zu erzählen, das hätte dir keine Angst gemacht?«

»Ich will doch Angst haben. Das ist ja der ganze Sinn der Sache!«

»Wenn du nicht wieder ins Bett gehst«, warnte Kendra ihn, »werde ich es Opa morgen Früh erzählen.«

»Willst du nicht sehen, wer da draußen trommelt?«

»Seth, ich mache keine Witze. Du wirst wahrscheinlich nicht mal etwas sehen können.«

»Wir haben ein Fernrohr.«

Draußen brüllte etwas, ein donnernder Schrei von bestialischer Wildheit. Genug, um das Gespräch zum Verstummen zu bringen. Die Nacht tobte weiter. Das Brüllen war nochmal zu hören, nur noch mit größerer Intensität, und einen Moment lang übertönte es alles andere.

Kendra und Seth musterten einander. »Ich wette, es ist ein Drache«, sagte er atemlos und rannte zum Fenster hinüber.

»Seth, nein!«

Seth zog den Vorhang beiseite. Die vier Kürbislaternen warfen ein sanftes Licht über den Teil des Daches, der direkt unter dem Fenster lag. Einen Moment lang glaubte Seth, in der Dunkelheit am Rand des Lichts etwas kreiseln zu sehen, eine wirbelnde Masse aus schwarzem Seidenstoff. Dann sah er nur noch Dunkelheit.

»Keine Sterne«, vermeldete er.

»Seth, geh da weg.« Kendra hatte sich die Decke bis über die Augen gezogen.

Seth spähte noch einen Moment lang aus dem Fenster. »Zu dunkel; ich kann nichts sehen.« Eine schimmernde Fee schwebte aus einer der Kürbislaternen und blinzelte Seth durch die leicht gewölbte Fensterscheibe an. »He, eine Fee ist herausgekommen.« Die winzige Fee schwenkte einen Arm, und drei weitere gesellten sich zu ihr. Eine schnitt Seth eine Grimasse, und dann flogen alle vier in die Nacht davon.

Jetzt konnte Seth gar nichts mehr sehen. Er schloss den Vorhang und ging rückwärts vom Fenster weg. »Also, jetzt hast du hinausgeschaut«, sagte Kendra. »Bist du nun zufrieden?«

»Die Feen aus den Kürbislaternen sind weggeflogen«, erwiderte er.

»Gut gemacht. Wahrscheinlich haben sie gesehen, wen sie da beschützen.«

»Wahrscheinlich hast du sogar Recht. Eine hat mir eine Grimasse geschnitten.«

»Geh zurück ins Bett«, befahl Kendra.

Das Trommeln ließ nach, ebenso der Gesang. Der geisterhafte Wind wurde still. Das Heulen und Schreien und Lachen wurde leiser und seltener. Etwas klopfte auf das Dach. Dann... Stille.

»Irgendetwas stimmt da nicht«, flüsterte Seth.

»Sie haben dich wahrscheinlich gesehen; geh zurück ins Bett.«

»Ich hab eine Taschenlampe in meiner Notfallausrüstung«. Er ging an den Nachttisch neben seinem Bett und nahm eine kleine Taschenlampe aus der Müslischachtel.

Kendra trat ihre Decken weg, stürzte sich auf Seth und drückte ihn auf sein Bett. Sie entwand ihm die Taschenlampe und stieß ihn zurück, als er wieder aufstehen wollte. Er versuchte es noch einmal, aber sie benutzte seinen Schwung nur, um ihn wieder aufs Bett zu stoßen.

»Hör auf damit, Seth, oder ich gehe sofort zu Opa!«

»Ich hab nicht angefangen! Seine Miene war der Inbegriff beleidigten Schmollens. Sie hasste es, wenn er sich aufführte wie das Opfer, nachdem er Ärger gemacht hatte.

»Ich auch nicht.«

»Zuerst schlägst du mich, und dann springst du mich an?«

»Du hörst auf, die Regeln zu brechen, oder ich gehe sofort nach unten.«

»Du bist schlimmer als die Hexe. Opa sollte einen Schuppen für dich bauen.«

»Geh ins Bett.«

»Gib mir meine Taschenlampe. Ich hab sie von meinem eigenen Geld gekauft.«

Sie wurden von dem Weinen eines Babys unterbrochen. Es klang nicht verzweifelt, sondern war nur wie ein aufgeregtes Kleinkind. Das Weinen schien von vor dem Fenster zu kommen.

»Ein kleines Baby«, sagte Seth.

»Nein, das ist irgendeine List.«

»Maaamaaaaaa«, jammerte das Baby.

»Klingt ziemlich echt«, sagte Seth. »Lass mich einen Blick darauf werfen.«

»Es ist bestimmt ein Skelett oder so etwas.«

Seth griff nach der Taschenlampe. Kendra gab sie ihm nicht, aber sie hinderte ihn auch nicht daran, sie zu nehmen. Seth lief zum Fenster und drückte sie gegen die Scheibe. Dann schaltete er sie ein.

»Oh mein Gott,« sagte er. »Es ist wirklich ein Baby!«

»Siehst du sonst noch was?«

»Nur ein weinendes Baby.« Das Weinen brach ab. »Jetzt sieht es mich an.«

Kendra konnte nicht länger widerstehen. Sie trat hinter Seth. Dort auf dem Dach, direkt hinter dem Fenster, stand ein tränenüberströmter kleiner Junge, gerade alt genug, um stehen zu können. Das Baby trug Stoffwindeln und sonst nichts. Er hatte flauschige, blonde Locken und ein kleines, rundes Bäuchlein mit einem nach außen stehenden Bauchnabel. Mit tränenerfüllten Augen reckte das Kind die pummeligen Ärmchen zum Fenster.

»Das muss ein Trick sein«, sagte Kendra. »Eine Illusion.«

Von der Taschenlampe angestrahlt, machte der Kleine einen Schritt auf das Fenster zu und fiel auf alle viere. Er zog einen Schmollmund und war offenkundig drauf und dran, von neuem in Tränen auszubrechen. Dann stand er auf und versuchte einen weiteren wackeligen Schritt. Seine Brust und seine Arme waren mit Gänsehaut überzogen.

»Er sieht echt aus«, meinte Seth. »Was, wenn er echt ist?«

»Wie sollte ein Baby auf das Dach kommen?«

Das Baby trottete zum Fenster und drückte eine rundliche Hand auf das Glas. Etwas glitzerte im Licht hinter ihm. Seth drehte die Taschenlampe und leuchtete zwei grünäugige Wölfe an, die sich verstohlen vom Rand des Dachs näherten. Als das Licht auf sie fiel, blieben sie stehen. Sie sahen räudig und mager aus. Einer der Wölfe fletschte die Zähne, und Schaum troff aus seinem Maul. Dem anderen fehlte ein Auge.

»Sie wollen das Baby!«, schrie Seth.

Der Kleine blickte zu den Wölfen hinüber, dann drehte es sich wieder zu Seth und Kendra um und heulte mit erneuter Inbrunst. Frische Tränen strömten ihm über die Wangen, und er schlug mit seinen winzigen Händen gegen die Fensterscheiben. Die Wölfe stürzten los. Der kleine Junge jammerte.

Goldlöckchen gackerte wie wild in ihrem Käfig.

Seth riss das Fenster auf.

»Nein!«, rief Kendra, obwohl sie instinktiv dasselbe tun wollte.

Sobald das Fenster geöffnet war, wehte Wind in den Raum, als hätte die Luft selbst darauf gewartet, zuzustoßen. Das Baby sprang durchs Fenster und rollte sich mit einem geschickten Purzelbaum auf dem Boden ab. Dann verwandelte es sich auf groteske Weise, und an die Stelle des Kindes trat ein hämisch grinsender Kobold mit gelben Schlitzen als Augen, einer runzeligen Nase und einem Gesicht wie eine getrocknete Melone. Der Kopf war kahl und verschorft, umrahmt von langem, spinnennetzartigem Haar. Die krummen Arme waren schlaksig, die Hände lang und ledrig und mit Krallen bewehrt. Rippen, Schlüsselbein und Becken ragten schauerlich hervor. Überall zeichneten sich Adern unter dem braunen Fleisch ab.

Mit übernatürlicher Schnelligkeit kamen auch die Wölfe durch das Fenster gesprungen, noch bevor Seth sich bewegen konnte, um es wieder zu schließen. Kendra stieß Seth beiseite und schlug das Fenster gerade noch rechtzeitig zu, um nicht auch noch einer in wallende, schwarze Gewänder gehüllten Frau Eintritt zu gewähren. Das dunkle Haar der kalten Schönheit wogte wie Dunst in einer Brise. Ihr bleiches Gesicht war durchschimmernd. Als Kendra in diese leeren, sengenden Augen blickte, erstarrte sie. Plapperndes Wispern erfüllte ihren Geist. Ihr Mund fühlte sich trocken an. Sie konnte nicht schlucken.

Seth riss die Vorhänge zu und zog Kendra zum Bett. Was immer sie vorübergehend versteinert hatte, löste sich auf. Orientierungslos rannte sie neben Seth her zum Bett und spürte nur, dass etwas sie verfolgte. Als sie auf die Matratze sprangen, flammte hinter ihnen ein grelles Licht auf, begleitet von einem Krachen wie von Sylvesterknallern.

Kendra fuhr herum. Der Kobold stand nicht weit vom Bett und hielt sich die knochige Schulter. Das finster dreinblickende Geschöpf war ungefähr so groß wie Dale. Zögernd streckte es eine knochige Hand nach ihr aus, und ein weiterer leuchtender Blitz warf die Kreatur auf den Rücken.

Der Kreis aus Salz! Im ersten Moment hatte sie nicht begriffen, warum Seth sie zum Bett gezerrt hatte. Wenigstens konnte einer von ihnen noch klar denken! Als Kendra auf den Boden blickte, sah sie, dass der fünf Zentimeter hohe Wall aus Salz tatsächlich die Barriere war, die der Kobold nicht überqueren konnte.

Ein über vier Meter langer Tausendfüßler mit drei Flügelpaaren und klauenbewehrten Füßen schlängelte sich durch die Luft. Ein plumpes Ungeheuer mit deutlichem Unterbiss und Panzerplatten über dem Rücken schleuderte einen Schrank durchs Zimmer. Die Wölfe hatten ihre Tarnung also ebenfalls abgestreift.

Der kastanienbraune Kobold hüpfte im Raum herum, stieß Bücherregale um, leerte Spielzeugtruhen aus und brach das Horn des Schaukelpferds ab. Er packte Goldlöckchens Käfig und schleuderte ihn gegen die Wand. Die zierlichen Riegel zerbrachen, und die Tür sprang auf. Das zu Tode erschreckte Huhn flatterte in einer Wolke goldener Federn unbeholfen durch die Luft.

Goldlöckchen torkelte auf das Bett zu. Der geflügelte Tausendfüßler schlug nach der aufgeregten Henne und verfehlte sie knapp. Der braune Dämon machte einen akrobatischen Satz und packte das Huhn an beiden Beinen. Goldlöckchen gackerte und zappelte in Todesangst.

Seth sprang vom Bett. Er hockte sich hin, griff sich zwei Hände voll von dem Salz und griff den drahtigen Kobold an. Der hohngrinsende Kobold hielt das Huhn jetzt in einer Hand und stürzte sich ihm entgegen. Einen Augenblick, bevor die ausgestreckte Hand des Dämons ihn erreichte, schleuderte Seth ihm eine Handvoll Salz entgegen. Der Dämon ließ Goldlöckchen los, prallte zurück und wurde von einer grellen Flamme versengt.

Das Huhn hielt direkt auf das Bett zu, und Seth streute den Rest des Salzes in einem hohen Bogen durch die Luft, um ihren Rückzug zu decken, wobei er den fliegenden Tausendfüßler versengte. Das riesige Geschöpf versuchte, das Bett vor Seth zu erreichen, kam aber zu spät und erhielt einen heftigen Schlag, als es gegen die unsichtbare Barriere prallte. Zurück auf dem Bett, hielt Seth Goldlöckchen fest umklammert, und seine Arme zuckten wie von Krämpfen geschüttelt.

Der braune Dämon knurrte. Sein Gesicht und seine Brust waren von dem Salz versengt, und Rauchfäden stiegen über den Brandwunden auf. Er drehte sich um, zog ein Buch aus dem Regal und riss es in zwei Hälften.

Die Tür flog auf, und Dale richtete eine Schrotflinte auf das Ungeheuer mit dem Unterbiss. »Ihr bleibt, wo ihr seid, ganz gleich, was geschieht!«, rief er. Alle drei Ungeheuer stürzten auf die Tür zu. Dale zog sich auf die Treppe zurück. Der geflügelte Tausendfüßler jagte über die Köpfe der anderen hinweg zur Tür hinaus.

Sie hörten einen Schuss aus der Halle. »Schließt die Tür und bleibt, wo ihr seid!«, brüllte Dale.

Kendra rannte durchs Zimmer und schlug die Tür zu, dann spurtete sie zurück zu ihrem Bett. Seth, dem die Tränen über die Wangen strömten, hielt Goldlöckchen im Arm. »Ich wollte nicht, dass das passiert«, wimmerte er.

»Es wird schon gut gehen.«

Von unten erklangen wiederholt Schüsse. Knurren, Brüllen, Kreischen, splitterndes Glas, berstendes Holz. Draußen setzte der kakophonische Lärm wieder ein, diesmal lauter denn je. Buschtrommeln, ätherische Chöre, Stammesgesänge, heulendes Wehklagen, kehliges Knurren, widernatürliches Heulen und durchdringende Schreie vereinten sich zu einem ohrenbetäubenden Inferno.

Kendra, Seth und Goldlöckchen saßen auf dem Bett und warteten auf die Morgendämmerung. Kendra musste ständig gegen Bilder von der Frau mit den wogenden, schwarzen Gewändern ankämpfen. Sie bekam die Erscheinung nicht aus dem Kopf. Als sie in diese seelenlosen Augen geblickt hatte, war sie davon überzeugt gewesen, dass es kein Entkommen gab, obwohl die Frau hinter dem Fenster gewesen war.

Spät in der Nacht ebbte der Radau schließlich ab, und an seine Stelle traten noch beunruhigendere Geräusche. Wieder begannen Babys hinter dem Fenster zu weinen und nach Mama zu rufen. Als dies keine Reaktion herbeiführte, flehten die Stimmen kleiner Kinder um Hilfe.

»Kendra, bitte, beeil dich, sie kommen!«

»Seth, Seth, mach auf, hilf uns! Seth, lass uns nicht hier draußen!«

Nachdem sie die Rufe eine Weile ignoriert hatten, hörten sie Knurrlaute und Schreie, als würden die jungen Bittsteller getötet. Dann flehten wieder andere Stimmen um Rettung.

Am schlimmsten aber war vielleicht der Augenblick, als Opa sie zum Frühstück hinunter bat. »Wir haben es geschafft, Kinder, die Sonne geht auf! Kommt, Lena hat Kuchen gebacken.«

»Woher wissen wir, dass du unser Opa bist?«, fragte Kendra, mehr als ein wenig argwöhnisch.

»Weil ich euch liebe. Beeilt euch, das Essen wird kalt.«

»Ich glaube nicht, dass die Sonne schon aufgegangen ist«, erwiderte Seth.

»Es ist nur ein wenig neblig heute Morgen.«

»Geh weg«, sagte Kendra.

»Lasst mich einfach herein; ich möchte euch einen Guten-Morgen-Kuss geben.«

»Unser Opa küsst uns nie, du Spinner«, brüllte Seth. »Verschwinde aus unserem Haus!«

Auf den Wortwechsel folgte ein wildes Hämmern an der Tür, das geschlagene fünf Minuten anhielt. Die Angeln zitterten, aber die Tür hielt.

Die Nacht dauerte an. Kendra saß gegen das Kopfteil ihres Betts gelehnt, während Seth an ihrer Seite döste. Trotz des Krachs wurden ihre Lider langsam schwer.

Plötzlich schreckte sie aus dem Schlaf auf. Graues Licht sickerte durch die Vorhänge. Goldlöckchen wackelte über den Dachboden und pickte an den Körnern aus ihrem umgestoßenen Futtereimer.

Als die Vorhänge unverkennbar Sonnenlicht durchließen, stieß Kendra Seth an. Er sah sich blinzelnd um, dann schlich er zum Fenster hinüber und spähte hinaus.

»Die Sonne ist offiziell aufgegangen«, verkündete er. »Wir haben es geschafft.«

»Ich habe Angst, nach unten zu gehen«, flüsterte Kendra.

»Es ist niemand was passiert«, sagte Seth lässig.

»Warum sind sie uns dann nicht holen gekommen?«

Seth gab keine Antwort. Kendra hatte ihn während der Nacht absichtlich verschont. Die Folgen seiner Fensteraktion waren brutal genug gewesen. Und Seth hatte sich wirklich reuig gezeigt. Aber jetzt wurde er langsam wieder zu dem Idioten, der er war.

Kendra funkelte ihn an. »Dir ist doch klar, dass du sie vielleicht alle umgebracht hast.«

Er verzog das Gesicht und drehte sich weg; seine Schultern wurden von Schluchzern geschüttelt. Dann vergrub er sein Gesicht in den Händen. »Es geht ihnen wahrscheinlich gut«, quiekte er. »Dale hatte ein Gewehr und alles. Sie wissen, wie sie mit so etwas fertigwerden.«

Als Kendra sah, dass Seth sich offenkundig ebenfalls Sorgen machte, fühlte sie sich miserabel. Sie ging zu ihm und versuchte, ihn zu umarmen. Er stieß sie weg. »Lass mich in Ruhe.«

»Seth, was immer passiert ist, es ist nicht deine Schuld.«

»Natürlich ist es meine Schuld!« Seine Nase war jetzt völlig verstopft, und er schniefte.

»Ich meine, sie haben uns überlistet. Irgendwie wollte ich auch das Fenster aufmachen, als ich diese Wölfe gesehen habe. Du weißt schon, für den Fall, dass es doch kein Trick war.«

»Ich wusste, dass es eine List sein könnte«, schluchzte er. »Aber das Baby sah so echt aus. Ich dachte, sie hätten es vielleicht gekidnappt, um es als Köder zu benutzen. Ich dachte, ich könnte es retten.«

»Du hast versucht, das Richtige zu tun.« Sie machte abermals Anstalten, ihn zu umarmen, aber er stieß sie wieder weg.

»Lass das«, blaffte er.

»Ich wollte dir keine Vorwürfe machen«, sagte Kendra. »Du hast dich nur so benommen, als wäre es dir völlig egal.«

»Natürlich ist es mir nicht egal! Glaubst du, ich hätte keine Angst, nach unten zu gehen und zu sehen, was ich angerichtet habe?«

»Du hast gar nichts angerichtet. Sie haben dich überlistet. Wenn du es nicht getan hättest, hätte ich das Fenster geöffnet.«

»Wenn ich im Bett geblieben wäre, wäre nichts von alledem passiert«, jammerte Seth.

»Vielleicht geht es ihnen gut.«

»Klar. Und sie lassen ein Monster ins Haus und bis zu unserer Tür kommen. Ein Monster, das so tut, als wäre es Opa.«

»Vielleicht mussten sie sich im Keller oder irgendwo verstecken.«

Seth weinte nicht mehr. Er griff nach einer Puppe und wischte sich an ihrem Kleid die Nase ab. »Ich hoffe es.«

»Nur für den Fall, dass tatsächlich etwas Schlimmes passiert ist, du darfst dir keine Vorwürfe machen. Du hast nur ein Fenster geöffnet. Wenn diese Ungeheuer etwas Schlimmes getan haben, ist es ihre Schuld.«

»Zum Teil.«

»Opa, Lena und Dale wissen alle, dass es riskant ist, hier zu leben. Ich bin sicher, dass es ihnen gut geht, aber wenn es ihnen nicht gut geht, darfst du dir keine Vorwürfe machen.«

»Vielleicht.«

»Ich meine es ernst.«

»Ich mag es lieber, wenn du lustig bist.«

»Weißt du, was toll war?«, fragte Kendra.

»Was?«

»Wie du Goldlöckchen gerettet hast.«

Er lachte und prustete ein wenig durch seine verstopfte Nase. »Hast du gesehen, wie übel das Salz diesen Kerl verbrannt hat?« Er griff abermals nach der Puppe und wischte sich noch einmal die Nase an ihrem Kleid ab.

»Das war wirklich mutig.«

»Ich bin nur froh, dass es funktioniert hat.«

»Das war ein echter Geistesblitz.«

Seth blickte zur Tür und dann wieder zurück zu Kendra. »ich glaube, wir sollten runtergehen und uns den Schaden ansehen.«

»Wenn du es sagst.«