KAPITEL 3
Der Efeuschuppen
Seth zwängte sich durch das dichte Unterholz, bis er einen undeutlichen, gewundenen Pfad von der Art erreichte, wie Tiere ihn hinterlassen. In der Nähe stand ein mächtiger, knorriger Baum mit dornigen Blättern und schwarzer Borke. Seth untersuchte sein Hemd auf Zecken, wobei er das Tarnmuster genau beäugte. Bisher hatte er keine einzige gesehen. Natürlich würden ihn wahrscheinlich genau die Zecken erwischen, die er übersah. Er hoffte, das Insektenspray, mit dem er sich eingesprüht hatte, würde etwas helfen.
Er beugte sich vor, sammelte ein paar Steine auf und baute eine kleine Pyramide, um die Stelle zu markieren, an der er den Trampelpfad gekreuzt hatte. Wahrscheinlich war es auch so kein Problem, den Rückweg zu finden, aber Vorsicht war nun mal die Mutter der Porzellankiste. Wenn er zu lange fortblieb, würde Opa vielleicht dahinterkommen, dass er seine Anordnungen nicht befolgt hatte.
Seth stöberte in seiner Müslischachtel und holte einen Kompass hervor. Der Pfad verlief nach Nordosten. Er war in Richtung Osten aufgebrochen, aber das Unterholz war im Laufe seines Marsches immer dichter geworden, und es war sicher leichter, dem Pfad zu folgen, als sich mit einem Taschenmesser den Weg durchs Unterholz zu bahnen. Er wünschte, er hätte eine Machete.
Seth folgte dem Pfad. Die hohen Bäume standen ziemlich dicht und filterten das Sonnenlicht, so dass nur noch ein mit Schatten durchsetzter grüner Schimmer bis zum Unterholz vordrang. Seth stellte sich vor, dass der Wald nach Einbruch der Nacht stockfinster sein musste.
Etwas raschelte im Gebüsch. Er hielt inne und nahm ein kleines Plastikfernglas aus seiner Müslischachtel. Er suchte die Umgebung ab, entdeckte aber nichts, was von Interesse gewesen wäre.
Er ging weiter den Pfad entlang, bis plötzlich keine sieben Meter vor ihm ein Tier aus dem Unterholz kam. Es war ein rundes, borstiges Geschöpf, das ihm nur bis zu den Knien reichte. Ein Stachelschwein. Es schlenderte völlig unerschrocken in seine Richtung. Seth erstarrte. Das Tier war jetzt so nahe, dass er die einzelnen Stacheln erkennen konnte; sie waren lang und spitz.
Als das Stachelschwein weiter auf ihn zugetrottet kam, wich Seth zurück. Sollten Tiere nicht vor Menschen fliehen? Vielleicht hatte es Tollwut. Oder vielleicht hatte es ihn einfach nicht gesehen. Schließlich trug er ein Tarnhemd.
Seth breitete die Arme aus, stampfte mit dem Fuß auf und knurrte. Das Stachelschwein blickte auf, zuckte mit der Nase und wandte sich dann von dem Pfad ab. Seth lauschte, während es im Blätterwerk verschwand.
Er holte tief Luft. Einen Moment lang hatte er wirklich Angst gehabt. Er konnte beinahe spüren, wie die Stacheln sich durch die Jeans in seine Beine bohrten. Es würde ziemlich schwer sein, seinen Ausflug in den Wald zu verheimlichen, wenn er bei seiner Rückkehr aussah wie ein Nadelkissen.
Obwohl er es nur äußerst ungern zugab, wünschte er, Kendra wäre mitgekommen. Sie hätte beim Anblick des Stachelschweins wahrscheinlich geschrien, und ihre Angst hätte ihn umso mutiger gemacht. Er hätte sich über sie lustig machen können, statt sich selbst zu fürchten. Noch nie zuvor hatte er ein Stachelschwein in freier Wildbahn gesehen. Es überraschte ihn, wie schutzlos er sich beim Anblick all dieser spitzen Stacheln gefühlt hatte. Was war, wenn er im Unterholz auf einen trat?
Er sah sich um. Er hatte einen weiten Weg zurückgelegt. Natürlich würde es nicht schwierig sein, zurückzufinden. Er brauchte nur in entgegengesetzter Richtung den Pfad entlangzugehen und dann nach Westen abzubiegen. Aber wenn er jetzt nach Hause ging, würde er den Pfad vielleicht niemals wiederfinden.
Seth setzte seinen Weg fort. Auf einigen der Bäume wuchsen Moos und Farne. Um andere schlängelte sich Efeu. Der Pfad gabelte sich. Seth blickte auf seinen Kompass und stellte fest, dass ein Weg nach Nordwesten führte und der andere etwa in östliche Richtung. Getreu seiner anfänglichen Marschrichtung entschied er sich für die Abzweigung nach Osten.
Die Zwischenräume zwischen den Bäumen wurden größer und das Unterholz niedriger. Schon bald konnte er in alle Richtungen viel weiter sehen, und der Wald wurde ein wenig heller. Neben dem Pfad sah er am Rand seines Gesichtsfelds etwas Ungewöhnliches. Es sah aus wie ein großes, zwischen den Bäumen verstecktes, viereckiges Gebilde aus Efeu. Wenn man einen Wald erkundete, ging es schließlich darum, ungewöhnliche Dinge zu entdecken - also verließ er den Trampelpfad und ging auf das Efeuding zu.
Das dichte Unterholz reichte ihm bis zu den Schienbeinen und wickelte sich bei jedem Schritt um seine Knöchel. Während er sich dem ungewöhnlichen Ding näherte, wurde ihm klar, dass es sich um ein Gebäude handelte, das vollkommen von Efeu überwuchert war. Es sah aus wie ein großer Schuppen.
Seth blieb stehen und schaute genauer hin. Der Efeu wuchs so üppig, dass er nicht erkennen konnte, woraus der Schuppen gemacht war. Er ging um den überwucherten Bau herum. Auf der gegenüberliegenden Seite stand eine Tür offen. Als er hineinspähte, hätte Seth beinahe laut aufgeschrien.
Es war tatsächlich ein Schuppen, der um einen großen Baumstumpf herum errichtet worden war. Neben dem Stumpf saß, in grobe Lumpen gekleidet, eine drahtige, alte Frau und nagte an einem Knoten in einem ausgefransten Seil. Runzlig vom Alter hielt sie das Seil in knochigen Händen mit knotigen Fingern. Ihr langes, weißes Haar war verfilzt und hatte eine ungesunde, gelbliche Färbung. Eins ihrer trüben Augen war stark mit Blut unterlaufen. Ihr fehlten etliche Zähne, und auf dem Knoten, an dem sie kaute, war Blut, das offensichtlich aus ihrem Mund stammte. Ihre bleichen, fast bis zu den Schultern nackten Arme waren dünn und faltig, mit bläulich schimmernden Adern und purpurn verschorften Flecken.
Als die Frau ihn sah, ließ sie das Seil sofort fallen und wischte sich rosafarbenen Speichel von den dünnen Lippen. Sie stützte sich an dem Baumstumpf ab und stand auf. Ihm fielen ihre langen, elfenbeinfarbenen Füße auf, die übersät waren von Insektenstichen. Ihre grauen Zehennägel schienen von Pilzen überwuchert zu sein.
»Sei mir gegrüßt, junger Herr. Was führt dich zu meinem Haus?« Ihre Stimme war – was wenig zu ihrer äußeren Erscheinung passte – melodisch und weich.
Einen Moment lang konnte Seth sie nur anstarren. Obwohl sie krumm und gebeugt war, war die Frau groß. Sie roch übel. »Sie wohnen hier?«, fragte er schließlich.
»Das tue ich. Hast du Lust, hereinzukommen?«
»Eher nicht. Ich mache nur einen Spaziergang.«
Die Frau kniff die Augen zusammen. »Ein eigenartiger Ort für einen jungen allein.«
»Ich erkunde gern die Gegend. Dieses Land gehört meinem Großvater.«
»Es gehört ihm, sagst du?«
»Weiß er, dass Sie hier sind?«, fragte Seth.
»Es kommt darauf an, wer er ist.«
»Stan Sørensen.«
Sie grinste. »Er weiß es.«
Das Seil, an dem sie gekaut hatte, lag auf dem Lehmboden. Außer dem Knoten, an dem sie genagt hatte, befand sich noch ein weiterer Knoten darin.
»Warum haben Sie auf dem Seil herumgekaut?«, fragte Seth.
Sie musterte ihn argwöhnisch. »Ich habe nicht viel übrig für Knoten.«
»Sind Sie eine Eremitin?«
»Das könnte man so sagen. Komm herein, und ich werde dir einen Tee machen.«
»Lieber nicht.«
Sie blickte auf ihre Hände herab. »Ich muss schrecklich aussehen. Erlaub mir, dir etwas zu zeigen.« Sie drehte sich um und hockte sich hinter den Baumstumpf. Eine Ratte wagte sich einige Schritte aus einem Loch in der Ecke des Schuppens. Als die Frau wieder hinter dem Stumpf hervorkam, versteckte sich die Ratte.
Die alte Frau setzte sich mit dem Rücken zu dem Baumstumpf auf den Boden. Sie hielt eine etwa zwanzig Zentimeter große Puppe aus dunklem Holz in der Hand. Sie hatte keine Kleider an, und auch ihr Gesicht war nicht bemalt. Nur eine schlichte menschliche Figur mit winzigen, goldenen Häkchen, die als Gelenke fungierten. Aus dem Rücken ragte ein dünner Stock. Die Frau schob eine kleine Schaufel unter die Füße der Puppe und ließ sie tanzen, indem sie den Stock und die Schaufel bewegte. Der Tanz hatte etwas sehr Rhythmisches.
»Was ist das für ein Ding?«, fragte Seth.
»Eine Stockpuppe«, antwortete sie.
»Was?«
»Eine Marionette. Ein Kasper. Ich nenne ihn Mendigo. Er leistet mir Gesellschaft. Komm herein und du kannst es selbst einmal probieren.« zu
»Lieber nicht«, sagte er noch einmal. »Ich begreife nicht, wie Sie hier draußen leben können, ohne verrückt zu werden.«
»Manchmal werden gute Menschen der Gesellschaft anderer überdrüssig.« Sie klang ein wenig verärgert. »Bist du zufällig hierher gekommen? Bist du auf einer Erkundungstour?«
»Nein, ich verkaufe Schokoladenriegel für meine Fußballmannschaft. Es ist für eine gute Sache.«
Sie starrte ihn an.
»Am besten klappt es in reichen Gegenden.«
Sie starrte ihn weiter an.
»Das war ein Scherz. Ich mache Witze.«
Ihre Stimme wurde streng. »Du bist ein unverschämter kleiner Kerl.«
»Und Sie leben mit einem Baumstumpf zusammen.«
Sie funkelte ihn an. »Also schön, mein arroganter junger Abenteurer. Warum stellen wir deinen Mut nicht auf die Probe? Jeder Entdecker verdient eine Chance, zu beweisen, aus welchem Holz er geschnitzt ist.« Die alte Frau zog sich in den Schuppen zurück und hockte sich wieder hinter den Baumstumpf. Als sie an die Tür kam, hielt sie eine grobe, schmale Schachtel aus ungehobeltem Holz, Draht und langen, herausstehenden Nägeln in Händen.
»Was ist das?«
»Leg die Hand in die Schachtel, um deine Kühnheit zu beweisen, und du bekommst eine Belohnung.«
»Da würde ich noch lieber mit der gruseligen Marionette spielen.«
»Greif einfach hinein und berühre die Rückseite der Schachtel.« Sie schüttelte die Schachtel, und etwas klapperte leise. Die Schachtel war so lang, dass er den Arm bis zum Ellbogen würde hineinschieben müssen, um die Rückseite zu berühren.
»Sind sie eine Hexe?«
»Ein Mann mit einer mutigen Zunge sollte auf seine kühnen Worte ebensolche Taten folgen lassen.«
»Kommt mir wie etwas vor, das nur Hexen sagen würden.«
»Steh zu deinem losen Mundwerk, junger Mann, oder du wirst keinen angenehmen Heimweg haben.«
Seth wich zurück, wobei er die Frau genau im Auge behielt. »Ich geh dann mal besser. Und lassen Sie sich das Seil gut schmecken.«
Sie schnalzte mit der Zunge. »So eine Frechheit.« Ihre Stimme blieb beruhigend und sanft, aber jetzt schwang ein drohender Unterton darin mit. »Warum kommst du nicht herein und trinkst einen Tee mit mir?«
»Beim nächsten Mal.« Seth bewegte sich um den Schuppen herum, ohne den Blick von der zerlumpten Frau in der Tür abzuwenden. Sie machte keine Anstalten, ihm zu folgen. Bevor er aus ihrer Sichtweite verschwand, hob die Frau eine knorrige Hand; Zeige- und Mittelfinger hatte sie gekreuzt und die anderen seltsam gespreizt. Ihre Augen waren halb geschlossen, und Seth hatte den Eindruck, dass sie etwas murmelte. Dann war sie nicht mehr zu sehen.
Seth kämpfte sich durch das wild wuchernde Unterholz zurück zu dem Pfad und blickte sich dabei immer wieder um. Die Frau verfolgte ihn nicht. Doch allein der Anblick des efeufarbenen Schuppens machte ihm eine Gänsehaut. Die alte Vettel sah so erbärmlich aus und roch so widerwärtig. Nie und nimmer würde er die Hand in ihre unheimliche Schachtel stecken. Nachdem sie ihn dazu herausgefordert hatte, konnte Seth nur noch an eine Sache denken, die er in der Schule gelernt hatte: dass Haifischzähne nach innen gebogen waren, damit Fische zwar hinein, aber nicht mehr heraus konnten. In seiner Fantasie war die selbstgemachte Schachtel voller Nägel oder Glasscherben, die wahrscheinlich einem ganz ähnlichen Zweck dienten.
Obwohl die Frau ihn nicht verfolgte, fühlte Seth sich nicht mehr sicher. Den Kompass in der Hand, eilte er den schmalen Trampelpfad entlang nach Hause. Ohne Vorwarnung traf ihn etwas am Ohr, so leicht, dass er es kaum spürte. Ein Kiesel von der Größe eines Fingerhuts fiel zu seinen Füßen auf den Weg.
Seth fuhr herum. Jemand hatte den kleinen Stein nach ihm geworfen, aber er konnte niemanden sehen. War die alte Frau ihm vielleicht doch heimlich gefolgt? Sie kannte den Wald wahrscheinlich ziemlich gut.
Jetzt traf ihn ein weiterer kleiner Gegenstand im Nacken. Er war nicht so hart oder schwer wie ein Stein. Als er sich umdrehte, sah er eine Eichel auf sich zu sirren, und er duckte sich. Die Eicheln und der Kieselstein waren von verschiedenen Seiten des Pfads gekommen. Was ging hier vor?
Von oben kam das Geräusch von splitterndem Holz, und ein gewaltiger Ast fiel hinter ihm auf den Weg. Einige Blätter und Zweige streiften ihn, bevor der Ast auf dem Boden aufschlug. Wenn er zwei oder drei Meter weiter hinten auf dem Pfad gestanden hätte, hätte der Ast, der dicker war als Seths Bein, ihn auf den Kopf getroffen.
Er schaute nur einmal kurz auf den schweren Ast, dann jagte Seth den Pfad entlang, so schnell er konnte. Er glaubte, ein Rascheln aus den Gebüschen zu beiden Seiten des schmalen Weges zu hören, verlangsamte sein Tempo aber nicht, um der Sache auf den Grund zu gehen.
Etwas packte ihn am Knöchel, und er fiel zu Boden.
Seth lag der Länge nach auf dem Bauch. Eine Schnittwunde an einer Hand und Dreck im Mund, hörte er, wie etwas durch das Blätterwerk hinter ihm raschelte, und ein eigenartiges Geräusch, das entweder Gelächter war oder fließendes Wasser. Ein trockener Zweig barst mit einem Knall wie ein Schuss. Aus Furcht vor dem, was er vielleicht sehen würde, blickte Seth sich nicht um, sondern rappelte sich wieder hoch und rannte den Pfad entlang.
Was immer ihn zu Fall gebracht hatte, war keine Wurzel gewesen, und auch kein Stein. Es hatte sich angefühlt wie ein dickes Seil, das über den Pfad gespannt worden war. Ein Stolperdraht. Zuvor war ihm keine derartige Falle aufgefallen. Aber die alte Frau konnte das unmöglich bewerkstelligt haben, selbst wenn sie in dem Moment, als er außer Sicht war, losgerannt wäre.
Seth stürmte an der Stelle vorbei, an der sich der Pfad gabelte. Er sprintete den Weg zurück, über den er gekommen war, und hielt nach hinterlistigen Drähten oder anderen Fallen Ausschau. Sein Atem ging stoßweise, aber er wurde nicht langsamer. Die Luft fühlte sich mit einem Mal viel heißer und feuchter an als davor. Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn und tropfte ihm übers Gesicht.
Seth hielt wachsam Ausschau nach der kleinen Steinpyramide, die die Stelle markierte, an der er den Pfad verlassen sollte. Als er einen knorrigen kleinen Baum mit schwarzer Borke und dornigen Blättern erreichte, blieb er stehen. Er erinnerte sich an den Baum. Er war ihm aufgefallen, als er den Pfad gekreuzt hatte. Mit dem Baum als Orientierungspunkt fand er die Stelle, an der er die Steinpyramide aufgehäuft hatte, aber die Steine waren fort.
Hinter ihm knirschten Blätter. Seth blickte auf seinen Kompass, um sich davon zu überzeugen, dass er nach Westen unterwegs war, und rannte in den Wald. Zuvor war er diesen Weg in einem gemächlichen Tempo gegangen und hatte dabei Giftpilze und ungewöhnliche Steine untersucht. Jetzt jagte er in vollem Tempo durch den Wald, das Unterholz kratzte ihm die Beine auf, und Zweige peitschten ihm ins Gesicht und auf die Brust.
Endlich, als seine Panik langsam abflaute, erhaschte er zwischen den Bäumen atemlos einen Blick auf das Haus. Von seinem Verfolger war nichts mehr zu hören. Als er auf den Hof ins Sonnenlicht trat, fragte sich Seth, wie viel von dem, was er gehört hatte, tatsächlich von einem etwaigen Verfolger gekommen war und wie viel er sich in seiner aufgewühlten Fantasie nur eingebildet hatte.
Kendra hielt ein blaues Buch mit goldenen Buchstaben in der Hand. Tagebuch der Geheimnisse stand darauf geschrieben. Das Buch wurde von drei kräftigen Schließen zusammengehalten, und jede davon war mit einem Schlüsselloch versehen. Der letzte Schlüssel, den Opa Sørensen ihr gegeben hatte, passte in keins davon, aber der goldene Schlüssel, den sie in dem Puppenhausschrank gefunden hatte, passte in das unterste. Ein Schloss würde sie also schon mal aufbekommen.
Sie hatte das Buch gefunden, als sie die Bücherregale nach einem Öffnungsmechanismus zu einem Geheimgang durchsucht hatte. Mit Hilfe eines Hockers war Kendra sogar bis an die höheren Regalbretter gekommen, aber bisher war die Suche vergeblich gewesen. Es gab keine Spur von einer Geheimtür. Als sie dann das verschlossene Buch mit dem faszinierenden Titel fand, gab sie die Suche auf und probierte ihre Schlüssel aus.
Nachdem die untere Schließe aufgesperrt war, versuchte Kendra, eine Ecke des Buchdeckels anzuheben und hineinzuspähen. Aber der Deckel war solide und die Bindung fest. Sie musste die anderen Schlüssel finden.
Sie hörte, wie jemand die Treppe heraufgetrampelt kam, und wusste, dass es sich nur um eine Person handeln konnte. Hastig schob sie das Buch wieder in das Regal und steckte die Schlüssel ein. Sie wollte nicht, dass ihr neugieriger Bruder seine Nase in ihr Rätsel steckte.
Seth stürmte durch die Tür und ließ sie hinter sich zuknallen. Sein Gesicht war rot, und er schnaufte keuchend. Seine Jeans war völlig verdreckt und sein Gesicht fleckig von Schweiß, Erde und Blättern. »Du hättest mitkommen sollen«, seufzte er und ließ sich auf sein Bett fallen.
»Du machst die Tagesdecke schmutzig.«
»Es war total unheimlich«, sagte er. »Es war so cool.«
»Was ist passiert?«
»Ich habe einen Pfad gefunden und eine komische alte Dame getroffen, die in einem Schuppen lebt. Ich glaube, sie ist eine Hexe. Eine echte.«
»Wie auch immer.«
Er rollte sich auf die Seite und sah sie an. »Ich meine es ernst. Du hättest sie sehen sollen. Sie war total vergammelt.«
»Genau wie du.«
»Nein, irgendwie total verschorft und eklig. Sie hat an einem alten Seil gekaut. Und sie hat versucht, mich dazu zu bringen, eine Hand in irgendeine Schachtel zu stecken.«
»Und hast du’s getan?«
»Nie und nimmer. Ich bin abgezogen. Aber sie hat mich gejagt oder irgendetwas. Sie hat Steine nach mir geworfen und einen großen Ast abgerissen. Der hätte mich umbringen können!«
»Dir muss ziemlich langweilig sein.«
»Ich lüge nicht!«
»Ich werde Opa Sørensen fragen, ob er irgendwelche Obdachlosen in seinem Wald wohnen lässt«, verkündete Kendra.
»Nein! Dann weiß er, dass ich die Regeln gebrochen habe.«
»Meinst du nicht, er würde es wissen wollen, wenn eine Hexe einen Schuppen in seinem Wald gebaut hat?«
»Sie hat sich so benommen, als würde sie ihn kennen. Ich bin ziemlich weit weg gegangen. Vielleicht war das gar nicht mehr auf seinem Grundstück.«
»Das bezweifle ich. Ich glaube, ihm gehört so ziemlich alles hier in der Gegend.«
Seth lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinterm Kopf. »Du solltest mal mit mir kommen und sie besuchen. Ich habe den Rückweg problemlos wiedergefunden.«
»Bist du verrückt? Du hast gesagt, sie hätte versucht, dich zu töten.«
»Wir könnten ihr nachspionieren. Herausfinden, was sie im Schilde führt.«
»Wenn im Wald wirklich eine komische alte Dame lebt, solltest du es Opa erzählen, damit er es der Polizei sagen kann.«
Seth richtete sich auf. »Okay. Vergiss es. Ich hab’s erfunden. Fühlst du dich jetzt besser?«
Kendra kniff die Augen zusammen.
»Ich habe noch etwas Cooles gefunden«, sagte Seth. »Hast du das Baumhaus gesehen?«
»Nein.«
»Soll ich es dir zeigen?«
»Ist es im Garten?«
»Ja, am Rand.«
»In Ordnung.«
Kendra folgte Seth nach draußen und über den Rasen. Und tatsächlich, in der Ecke des Gartens, gegenüber der Scheune, sah sie in einer dicken Eiche ein hellblaues Baumhaus. Es lag auf der hinteren Seite des Baums, so dass es nur schwer zu entdecken war. Die Farbe blätterte ein wenig ab, aber das kleine Haus hatte Schindeln auf dem Dach und Vorhänge im Fenster. An den Baumstamm waren Bretter genagelt, die als Leiter dienten.
Seth stieg als Erster hinauf. Die Sprossen führten zu einer Falltür, die er aufdrückte. Kendra folgte ihm.
Von innen schien das Baumhaus größer zu sein, als es vom Boden aus gewirkt hatte. Drinnen befanden sich ein kleiner Tisch und vier Stühle. Auf dem Tisch lagen Puzzleteile ausgebreitet. Es waren nur ein paar ineinandergefügt worden.
»Siehst du, nicht schlecht«, sagte Seth. »Ich habe schon damit angefangen.«
»Es ist wunderschön. Du musst Talent haben.«
»Ich habe nicht lange daran gearbeitet.«
»Hast du schon die Ecken gefunden?«
»Nein.«
»Das ist das Erste, was man tut.« Sie setzte sich hin und machte sich auf die Suche nach Eckstücken. Seth nahm ebenfalls Platz und half ihr. »Du hattest nie viel übrig für Puzzles«, bemerkte Kendra.
»In einem Baumhaus macht es mehr Spaß.«
»Wenn du es sagst.«
Seth fand ein Eckstück und legte es beiseite. »Glaubst du, Opa würde mir erlauben, hier einzuziehen?«
»Du spinnst.«
»Ich würde nur einen Schlafsack brauchen«, erwiderte er.
»Du würdest vor Angst durchdrehen, sobald es dunkel wird.«
»Nie und nimmer.«
»Die Hexe könnte dich holen kommen.«
Statt etwas zu antworten, begann Seth, nur umso eifriger nach den anderen Eckstücken zu suchen. Kendra konnte sehen, dass ihre Bemerkung ihm unter die Haut gegangen war. Sie beschloss, ihn nicht weiter damit aufzuziehen. Die Tatsache, dass er sich vor der Dame, die er im Wald getroffen hatte, zu fürchten schien, machte seine Geschichte doch sehr glaubwürdig. Es war nicht leicht, Seth Angst einzujagen. Schließlich war er der Junge, der in der irrigen Annahme, ein Müllbeutel wäre auch als Fallschirm geeignet, vom Dach gesprungen war. Der Junge, der bei einer Mutprobe den Kopf einer lebenden Schlange in den Mund gesteckt hatte.
Sie fanden alle Eckstücke, und bis Lena sie zum Abendessen rief, hatten sie den Rand des Puzzles schon fast fertig.