KAPITEL 8
Vergeltung
Seth wischte sich den Schlaf aus den Augenwinkeln und starrte für einen Moment an die Decke. Als er sich umdrehte, sah er, dass Kendra nicht mehr in ihrem Bett lag. Es war schon heller Tag. Er streckte sich und drückte mit einem Seufzer seinen Rücken durch. Das Bett wollte ihn noch nicht freigeben. Vielleicht konnte er später aufstehen.
Nein, er wollte nach der Fee sehen. Er hoffte, dass ein wenig Schlaf sie beruhigt hatte. Nachdem er die verhedderten Decken abgeschüttelt hatte, eilte Seth zu der Kommode hinüber. Als er die Schublade mit dem Glas darin aufgezogen hatte, schnappte er nach Luft.
Die Fee war fort. In dem Glas hockte stattdessen eine behaarte Tarantel mit gestreiften Beinen und glänzenden, schwarzen Augen. Hatte die Tarantel die Fee gefressen? Er überprüfte den Deckel. Er saß immer noch fest auf dem Glas. Dann fiel ihm ein, dass er noch keine Milch getrunken hatte. Dies konnte die andere Form sein, in der die Fee erschien. Er hätte eine Libelle erwartet, vermutete aber, dass es durchaus auch eine Tarantel sein konnte.
Außerdem fiel ihm auf, dass der Spiegel in dem Glas zerbrochen war. Hatte sie ihn mit dem Kieselstein zerschlagen? Daran konnte sie sich schneiden. »Keine Verwüstungen«, schimpfte er sie. »Ich bin gleich wieder da.«
Ein runder Brotlaib lag auf dem Tisch, eine bunte Mischung aus weiß, schwarz, braun und orange. Während Lena ihn in Scheiben schnitt, nippte Kendra abermals an ihrer heißen Schokolade.
»Angesichts all der Zutaten, die ich draußen gelassen habe, dachte ich, sie würden vielleicht eine Pastete machen«, meinte Lena. »Aber Früchtebrot ist genauso köstlich. Probier mal ein Stück.« Sie reichte Kendra eine Scheibe.
»Den Topf haben sie wirklich gut hingekriegt«, sagte Kendra. »Und der Tisch sieht perfekt aus.«
»Besser als vorher«, stimmte Lena ihr zu. »Mir gefällt die neue Kante. Die Wichtel verstehen sich auf ihr Handwerk.«
Kendra inspizierte die Brotscheibe. Die eigenartige Färbung reichte bis in die Mitte hinein. Sie nahm einen Bissen. Zimt und Zucker dominierten den Geschmack. Eifrig biss sie noch einmal hinein. Es schmeckte wie Brombeermarmelade. Der nächste Bissen schmeckte wie Schokolade mit einer Spur Erdnussbutter. Der Bissen danach schien mit Vanillepudding durchtränkt zu sein. »Es hat so viele Geschmacksnoten!«
»Und sie beißen sich nie, wie man es erwarten sollte«, erwiderte Lena und nahm selbst einen Happen.
Mit nackten Füßen und abstehendem Haar kam Seth hereingetrottet. »Guten Morgen«, sagte er. »Frühstückt ihr?«
»Du musst dieses Früchtebrot mal probieren«, antwortete Kendra.
»Gleich«, erwiderte er. »Kann ich eine Tasse heiße Schokolade haben?«
Lena füllte eine Tasse.
»Danke«, sagte er. »Ich bin gleich wieder da. Ich hab oben was vergessen.« Er nahm den ersten Schluck und eilte davon.
»Er benimmt sich so komisch«, sagte Kendra und nahm einen Bissen von der Delikatesse, die jetzt wie Bananennussbrot schmeckte.
»Wenn du mich fragst, führt er irgendetwas im Schilde«, bemerkte Lena.
Seth stellte seine Tasse auf die Kommode. Dann holte er tief Luft und betete im Stillen, dass die Tarantel fort sein würde und die Fee wieder da war. Er zog die Schublade auf.
Ein abscheuliches kleines Geschöpf sah ihn mit funkelnden Augen an. Es bleckte die spitzen Zähne und fauchte. Bedeckt mit brauner, ledriger Haut, war es größer als sein Mittelfinger. Es war kahl, mit zerfledderten Ohren, einer schmalen Brust, einem dicken Bauch und verschrumpelten, spindeldürren Gliedern. Die Lippen sahen aus wie die eines Froschs, die Augen glänzten schwarz, und die Nase bestand nur aus zwei Schlitzen über dem Mund.
»Was hast du mit der Fee gemacht?«, fragte Seth.
Das hässliche Geschöpf fauchte abermals und drehte sich um. Über den knochigen Schulterblättern ragten zwei Stummel aus dem Rücken. Das Ding wackelte damit wie mit den Überresten amputierter Flügel.
»O nein! Was ist denn mit dir passiert?«
Die Kreatur streckte eine lange, schwarze Zunge heraus und ließ die schwieligen Hände gegen das Glas klatschen. Sie plapperte etwas in einer abscheulichen, schnarrenden Sprache.
Was war geschehen? Warum hatte die schöne Fee sich in einen hässlichen kleinen Teufel verwandelt? Vielleicht würde etwas Milch helfen.
Seth riss das Glas aus der Schublade, schnappte sich die Tasse von der Kommode und rannte die Treppe vom Dachboden in die Diele hinunter. Er flitzte ins Badezimmer und schloss die Tür hinter sich ab.
Die Tasse war noch zu einem Drittel gefüllt. Seth hielt das Glas über das Waschbecken und goss etwas von der heißen Schokolade auf den Deckel. Das meiste davon lief am Rand des Glases hinab, aber ein wenig tropfte durch die Löcher.
Ein Tropfen klatschte auf die Schulter der Kreatur. Sie bedeutete Seth wütend, den Deckel aufzuschrauben, dann zeigte sie auf die Tasse. Anscheinend wollte sie direkt aus der Tasse trinken.
Seth sah sich im Raum um. Das Fenster war geschlossen, die Tür zugesperrt. Er schob ein Handtuch in den Spalt unter der Tür. In dem Glas machte die Kreatur flehende Bewegungen und tat so, als würde sie aus einer Tasse trinken.
Seth schraubte den Deckel auf. Mit einem mächtigen Satz sprang die Kreatur heraus und landete auf dem Waschbecken. Sie duckte sich und fauchte Seth mit zornigem Blick an.
»Es tut mir leid, dass deine Flügel abgefallen sind«, sagte er. »Das hier könnte helfen.«
Er hielt dem hässlichen kleinen Ding die Tasse hin und fragte sich, ob sie an der Schokoladenmilch nippen oder einfach in die Tasse klettern würde. Stattdessen schnappte sie nach ihm und verfehlte dabei nur knapp seinen Finger. Seth riss die Hand zurück und kippte heiße Schokolade über das Spülbecken. Zischend ließ sich das quirlige Geschöpf auf den Boden fallen, rannte zur Badewanne hinüber und sprang hinein.
Bevor Seth reagieren konnte, war die Kreatur den Abfluss hinuntergekrabbelt. Ein letztes, verzerrtes Wehklagen kam aus dem dunklen Loch, dann war sie fort. Seth goss den Rest der heißen Schokolade in den Abfluss, für den Fall, dass sie der deformierten Fee doch irgendwie helfen würde.
Er blickte zu dem Glas hinüber. Bis auf ein paar verwelkende Blumenblätter war es jetzt leer. Er war sich nicht sicher, was er falsch gemacht hatte, aber er bezweifelte, dass Maddox allzu stolz auf ihn gewesen wäre.
Später am Morgen saß Seth im Baumhaus und versuchte, mit dem Puzzle weiterzumachen. Jetzt, da der Rand fertig war, war es eine echte Herausforderung, es fertigzumachen. Die verbliebenen Teile sahen alle gleich aus.
Er war Kendra den ganzen Morgen lang aus dem Weg gegangen. Ihm war nicht danach zumute, mit irgendjemandem zu reden. Er kam einfach nicht darüber hinweg, was mit der Fee geschehen war. Er war sich zwar nicht sicher, was er getan hatte, aber er wusste, dass es irgendwie seine Schuld war, irgendeine unbeabsichtigte Folge der Gefangenschaft. Das war auch der Grund, warum sie am Abend zuvor solche Angst gehabt hatte. Sie wusste, dass er sie dazu verdammt hatte, sich in ein hässliches kleines Ungeheuer zu verwandeln.
Die Puzzleteile begannen zu vibrieren. Schon bald zitterte das ganze Baumhaus. War das ein Erdbeben? Er hatte noch nie zuvor ein Erdbeben erlebt.
Seth lief zum Fenster. Überall schwebten Feen; sie hatten sich rund um das Baumhaus versammelt. Ihre Arme waren erhoben, und sie schienen zu singen.
Eine der Feen deutete auf Seth. Mehrere glitten näher ans Fenster heran. Eine streckte die Hand in seine Richtung aus, und die Scheibe zersplitterte mit einem Lichtblitz. Seth sprang zurück, und mehrere Feen kamen hereingeflogen.
Er rannte zu der Luke, aber das Baumhaus schlingerte so heftig, dass er zu Boden fiel. Das Rütteln wurde immer stärker. Der Boden war nicht länger waagrecht. Ein Stuhl kippte um, und die Luke fiel zu. Er kroch jetzt zum Ausgang. Etwas Heißes traf ihn im Nacken. Bunte Lichter blitzten auf.
Seth packte die Klappe, aber sie ließ sich nicht öffnen. Er zerrte daran. Etwas versengte ihm den Handrücken.
In Panik rannte er zum Fenster zurück und versuchte verzweifelt, das Gleichgewicht zu halten, während der Boden unter ihm bebte. Die Feen draußen sangen weiter. Er konnte ihre kleinen Stimmen hören. Mit einem lauten Krachen kippte das Baumhaus plötzlich zur Seite. Wenn er jetzt aus dem Fenster schaute, sah er nicht mehr die Feen, sondern den schnell näher kommenden Boden.
Seth war einen Augenblick lang schwerelos. Alle Gegenstände im Baumhaus schwebten, und Puzzleteile hingen in der Luft. Dann implodierte das Baumhaus.
Kendra schmierte sich Sonnencreme auf die Arme. Sie mochte das fettige Gefühl nicht, das die Lotion auf ihrer Haut hinterließ. Kendra war zwar schon leicht gebräunt, aber die Sonne war heute sehr heiß, und sie wollte kein Risiko eingehen.
Ihr Schatten war nur eine kleine Pfütze zu ihren Füßen. Es war fast Mittag. Bald gab es Essen, und dann würde Opa Sørensen sie zu dem Kornspeicher mitnehmen. Kendra hoffte im Stillen, dass sie ein Einhorn sehen würde.
Plötzlich hörte sie ein gewaltiges Krachen. Dann hörte sie Seth schreien.
Was konnte so einen ungeheuren Lärm gemacht haben? Sie lief nicht weit, da sah sie schon den Haufen Trümmer unter dem Baum.
Seth kam auf sie zu gerannt. Sein Hemd war zerrissen, und er hatte Blut im Gesicht. Dutzende von Feen schienen ihn zu verfolgen. Zuerst wollte sie einen Scherz darüber machen, dass die Feen wohl nach Rache trachteten, weil er versucht hatte, sie einzufangen – aber dann wurde ihr klar, dass das wahrscheinlich der Wahrheit entsprach. Hatten die Feen das Baumhaus eingerissen?
»Sie sind hinter mir her!«, schrie er.
»Spring in den Pool!«, rief Kendra.
Seth wechselte die Richtung, spurtete auf den Pool zu und begann, sein Hemd auszuziehen. Die drohende Wolke von Feen hatte keine Mühe, mit ihm mitzuhalten, und funkelnde Blitze schossen in alle Richtungen. Im nächsten Moment warf Seth sein Hemd beiseite und sprang ins Wasser.
»Die Feen sind hinter Seth her!«, schrie Kendra, während sie das Schauspiel mit Entsetzen beobachtete.
Die Feen schwebten über dem Pool. Nach einigen Sekunden kam Seth an die Oberfläche. In völligem Einklang stürzte sich die Wolke auf ihn. Flammende Lichtstrahlen flackerten auf, Seth brüllte und tauchte wieder unter Wasser. Die Feen jagten ihm hinterher.
Keuchend kam Seth an die Oberfläche. Das Wasser um ihn herum brodelte. Seth war mitten in einem Unterwasserfeuerwerk. Kendra lief zum Rand des Pools.
»Hilfe!«, rief er und streckte eine Hand aus dem Wasser. Die Finger waren zusammengeklebt wie eine Flosse.
Kendra schrie. »Sie greifen Seth an! Hilfe! Hört mich denn niemand! Sie greifen Seth an!«
Er wühlte sich bis zum Rand des Pools vor. Die brodelnde Masse von Feen sammelte sich abermals um Seth und zog ihn inmitten gespenstisch zuckender Blitze auf den Grund des Pools. Kendra packte den Käscher und schlug damit nach der unbarmherzigen Horde, doch so dicht der Schwarm auch schien, sie berührte kein einziges der Geschöpfe.
Seth tauchte am Rand des Pools wieder auf und warf die Arme auf die Pflastersteine, um sich aus dem Wasser zu ziehen. Kendra bückte sich, um ihm zu helfen, doch stattdessen kreischte sie auf. Der eine Arm war breit, flach und gummiartig. Kein Ellbogen, keine Hand. Eine Flosse, mit menschlicher Haut überzogen. Der andere Arm war lang und hatte keine Knochen, ein fleischiger Tentakel mit schlaffen Fingern am Ende.
Kendra sah in Seths Gesicht. Lange Stoßzähne ragten aus einem breiten, lippenlosen Mund. Einzelne Haarbüschel fehlten. Seths Augen waren glasig vor Entsetzen.
Die aufgebrachten Feen fielen abermals über ihn her, Seth verlor den Halt und verschwand wieder unter einer Salve farbiger Lichtblitze. Dampf zischte aus dem brodelnden Wasser.
»Was hat das zu bedeuten?«, brüllte Opa Sørensen, als er endlich angelaufen kam und den Pool erreichte. Lena folgte ihm. Das Wasser im Pool flackerte noch ein paar Mal. Die meisten Feen zischten davon. Einige wenige flogen zu Opa hinüber.
Eine Fee zirpte wie in Rage auf ihn ein. Sie hatte kurzes, blaues Haar und silbrige Flügel.
»Er hat was getan?«, fragte Opa.
Eine hässliche Kreatur hievte sich aus dem Wasser und lag hechelnd auf den Steinen. Die deformierte Kreatur war vollkommen nackt. Lena setzte sich neben ihn und legte eine Hand auf seine Schulter.
»Er hatte keine Ahnung, dass das geschehen würde«, verteidigte sich Opa. »Es war keine Absicht!«
Die Fee zwitscherte ihre Missbilligung.
Kendra starrte die monströse Gestalt ihres Bruders an. Der größte Teil seiner Haare war ausgefallen; darunter kam eine knotige, mit Muttermalen übersäte Kopfhaut zum Vorschein. Sein Gesicht war breiter und flacher, mit eingefallenen Augen, und Stoßzähne so groß wie Bananen ragten aus seinem Mund. Zwischen seinen Schultern ragte ein missgestalteter Höcker auf. Unter dem Höcker, zwischen seinen Schulterblättern, hoben und senkten sich vier Atemlöcher. Seine Beine waren zu einem einzigen, plumpen Schwanz verschmolzen. Seth schlug mit seinem Flossenarm auf den Boden, und der Tentakel zuckte und krümmte sich wie eine Schlange.
»Ein unglückliches Missgeschick«, sagte Opa tröstend. »Überaus bedauerlich. Könnt ihr dem jungen gegenüber nicht Gnade walten lassen?«
Die Fee zirpte wütend.
»Das tut mir leid. Was geschehen ist, ist furchtbar. Ich versichere euch, die Greueltat war unbeabsichtigt.«
Nach einem letzten Ausbruch von Kreischlauten schwirrte die Fee davon.
»Bist du in Ordnung?«, fragte Kendra, die immer noch neben Seth saß.
Er gab ein verzerrtes Stöhnen von sich, dann einen zweiten, noch verzweifelteren Klagelaut. Es klang wie ein Esel, der mit Mundwasser gurgelte.
»Schsch, Seth«, sagte Opa. »Du hast die Fähigkeit der Sprache verloren.«
»Ich werde Dale holen«, sagte Lena und eilte davon.
»Was haben sie ihm angetan?«, jammerte Kendra.
»Ein Akt der Rache«, erwiderte Opa grimmig.
»Weil er versucht hat, Feen zu fangen?«
»Weil er Erfolg hatte.«
»Er hat eine gefangen?«
»Ja.«
»Deshalb haben sie ihn in ein deformiertes Walross verwandelt? Ich dachte, sie könnten keine Magie gegen uns einsetzen!«
»Er hat mächtige Magie benutzt und die gefangene Fee in einen Kobold verwandelt. Womit er unwissentlich die Tür für magische Vergeltung geöffnet hat.«
»Seth kann nicht zaubern!«
»Ich bin davon überzeugt, dass es ein Versehen war«, sagte Opa. »Kannst du mich verstehen, Seth? Schlag dreimal mit deiner Flosse, wenn du begreifst, was ich sage.«
Die Flosse klatschte dreimal auf die Pflastersteine.
»Es war sehr töricht, eine Fee zu fangen, Seth«, fuhr Opa fort. »Ich habe dich gewarnt, dass sie nicht ungefährlich sind. Aber ein Teil der Schuld trifft mich. Wahrscheinlich hat Maddox dich auf die Idee gebracht, und du wolltest eine Karriere als Feenhändler beginnen.«
Seth nickte unbeholfen, wobei sein gesamter aufgeblähter Leib auf und ab hüpfte.
»Ich hätte es dir ausdrücklich verbieten sollen. Ich vergesse immer wieder, wie neugierig und waghalsig Kinder sein können. Und wie findig. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass es dir tatsächlich gelingen könnte, eine zu fangen.«
»Was für eine Art von Magie hat er benutzt?«, fragte Kendra, einem hysterischen Anfall nahe.
»Wenn eine gefangene Fee von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang im Haus festgehalten wird, verwandelt sie sich in einen Kobold.«
»Was ist ein Kobold?«
»Eine gefallene Fee. Abscheuliche kleine Kreaturen. Kobolde verachten sich ebenso sehr, wie Feen sich bewundern. So, wie Feen sich zu Schönheit hingezogen fühlen, fühlen Kobolde sich zu Hässlichkeit hingezogen.«
»Ihre Persönlichkeit ändert sich so schnell?«
»Ihre Persönlichkeit bleibt die gleiche«, antwortete Opa. »Seicht und egozentrisch. Die Veränderung der äußeren Erscheinung offenbart die tragische Seite ihres Charakters. Eitelkeit gerinnt zu Elend. Sie werden gehässig und eifersüchtig und suhlen sich im Leid.«
»Was ist mit den Feen, die Maddox gefangen hat? Warum verwandeln sie sich nicht?«
»Er vermeidet es, die Käfige über Nacht im Haus zu lassen. Seine gefangenen Feen verbringen zumindest einen Teil der Nacht im Freien.«
»Man kann verhindern, dass sie zu Kobolden werden, einfach indem man den Behälter nach draußen stellt?«
»Manchmal bewirken simple Maßnahmen einen mächtigen Zauber.«
»Warum haben die anderen Feen Seth angegriffen? Warum kümmert sie das Schicksal ihrer Gefährtin, wenn sie so selbstsüchtig sind?«
»Es kümmert sie, eben weil sie selbstsüchtig sind. Jede Fee macht sich Sorgen, dass sie die Nächste sein könnte. Ich habe gehört, dass Seth der Fee einen Spiegel ins Glas gelegt hat, so dass sie sich nach ihrer Verwandlung ansehen konnte. Die Feen betrachten dies als einen Akt besonderer Grausamkeit.«
Opa beantwortete ruhig jede Frage, ganz gleich, wie anklagend oder wütend Kendra sie stellte. Seine Gelassenheit half ihr, sich ein wenig zu beruhigen. »Ich bin davon überzeugt, dass es ein Unfall war«, sagte sie.
Seth nickte heftig, und sein Schwabbelspeck wackelte.
»Ich vermute keine Bosheit dahinter. Es war ein unglückliches Missgeschick. Aber die Feen interessieren sich herzlich wenig für seine Motive. Es ist ihr Recht, Vergeltung zu üben.«
»Du kannst ihn zurückverwandeln.«
»Das übersteigt meine Fähigkeiten bei weitem.«
Seth stieß ein langes, klagendes Brüllen aus. Kendra tätschelte seinen Höcker. »Wir müssen etwas tun!«
»Ja«, sagte Opa. Er legte die Hände über die Augen und zog sie dann über sein Gesicht. »Es wäre nicht leicht, deinen Eltern das zu erklären.«
»Wer kann ihn wieder in Ordnung bringen? Maddox?«
»Maddox ist kein Magier. Außerdem ist er schon lange wieder fort. Obwohl mir diese Lösung nicht gefällt, fällt mir nur eine einzige Person ein, die vielleicht in der Lage ist, den Zauber, mit dem dein Bruder belegt wurde, wieder aufzuheben.«
»Wer?«
»Seth hat sie bereits getroffen.«
»Die Hexe?«
Opa nickte. »Unter den gegebenen Umständen ist Muriel Taggart unsere einzige Hoffnung.«
Die Schubkarre holperte über eine Wurzel und geriet ins Schwanken. Dale konnte sie jedoch festhalten. Seth stöhnte. Er war nackt, bis auf ein weißes Handtuch, das sie ihm um die Hüften gebunden hatten.
»Tut mir leid, Seth«, sagte Dale. »Der Weg ist ganz schön uneben.«
»Sind wir bald da?«, fragte Kendra.
»Es ist nicht mehr sehr weit«, antwortete Opa.
Sie gingen im Gänsemarsch, Opa an der Spitze, gefolgt von Dale, der die Schubkarre schob, und dann Kendra. Was als ein fast unkenntlicher Pfad in der Nähe der Scheune begonnen hatte, verwandelte sich langsam in einen gut ausgetretenen Weg. Später waren sie auf einen kleineren Pfad abgebogen, der sich nicht mehr weiter verzweigte.
»Der Wald kommt mir so ruhig vor«, sagte Kendra.
»Er ist am ruhigsten, wenn man auf den Wegen bleibt«, erwiderte Opa.
»Er kommt mir zu ruhig vor.«
»Es liegt eine gewisse Anspannung in der Luft. Dein Bruder hat ein ernstes Vergehen begangen. Der Fall einer Fee ist eine schlimme Tragödie. Die Vergeltung der Feen war ebenso brutal. Jetzt warten begierige Augen, ob der Konflikt eskalieren wird.«
»Das wird er doch nicht, oder?«
»Ich hoffe es nicht. Wenn Muriel deinen Bruder heilt, könnten die Feen das als Beleidigung auslegen.«
»Würden sie ihn wieder angreifen?«
»Wahrscheinlich nicht. Zumindest nicht direkt. Die Strafe ist erteilt worden.«
»Können wir die Fee heilen?«
Opa schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Könnte die Hexe es tun?«
»Seth wurde verzaubert. Aber die Möglichkeit, ein Kobold zu werden, ist ein fundamentaler Aspekt der Natur einer Fee. Sie hat sich in Übereinstimmung mit einem Gesetz verwandelt, das es schon so lange gibt, wie Feen Flügel haben. Muriel ist vielleicht in der Lage, den Zauber aufzuheben, der bei Seth gewirkt wurde. Eine gefallene Fee wieder zurückzuverwandeln, würde ihre Fähigkeiten jedoch bei weitem überschreiten.«
»Arme Fee.«
Sie kamen an eine Gabelung. Opa wandte sich nach links. »Wir sind fast da«, sagte er. »Du solltest schweigen, während wir mit ihr reden.«
Kendra betrachtete die Büsche und Bäume ringsherum. Sie wartete geradezu darauf, in gehässige Augen zu blicken, die sie funkelnd anstarrten. Was für Geschöpfe würden zum Vorschein kommen, wenn das grüne Blätterwerk nicht da wäre? Was würde geschehen, wenn sie den Pfad verließ? Wie lange würde es dauern, bis irgendein hässliches Monster sie verschlang?
Opa blieb stehen und deutete auf die Bäume. »Da wären wir.«
Kendra sah den grün überwucherten Schuppen in der Ferne.
»Zuviel Unterholz für die Schubkarre«, sagte Dale und nahm Seth auf die Arme. Obwohl Seth jetzt so schwabbelig war, war er nicht größer als zuvor, und Dale trug ihn ohne große Mühe durch das Unterholz.
Sie gingen um den Schuppen herum bis vor den Eingang. Darinnen saß die schmutzige Hexe, mit dem Rücken an einen Baumstumpf gelehnt, und kaute an einem Knoten in einem borstigen Seil. Zwei Kobolde saßen auf dem Baumstumpf. Einer war mager, mit vorspringenden Rippen und langen, flachen Füßen. Der andere war gedrungen und rundlich.
»Hallo, Muriel«, sagte Opa.
Die Kobolde sprangen von dem Stumpf und huschten außer Sicht. Muriel blickte auf, und ein breites Grinsen offenbarte verfaulte Zähne. »Das ist doch nicht etwa Stan Sørensen?« Sie rieb sich theatralisch die Augen und blinzelte ihn an. »Nein, ich muss träumen. Stan Sørensen hat gesagt, dass er mich nie wieder besuchen würde!«
»Ich brauche Ihre Hilfe«, erklärte Opa.
»Und er hat Gesellschaft mitgebracht. Ich erinnere mich an Dale. Wer ist diese hübsche junge Dame?«
»Meine Enkeltochter.«
»Sieht dir kein bisschen ähnlich, die Glückliche. Mein Name ist Muriel, Liebes, und ich freue mich, dich kennenzulernen.«
»Ich bin Kendra.«
»Ja, natürlich. Du hast dieses entzückende, rosafarbene Nachthemd mit der Schleife auf der Brust.«
Kendra warf Opa einen Blick zu. Wie konnte diese verrückte Frau über ihren Schlafanzug Bescheid wissen?
»Ich weiß das eine oder andere«, fuhr Muriel fort und tippte sich an die Schläfe. »Fernrohre sind für Sterne, Liebes, nicht für Bäume.«
»Achte nicht auf sie«, sagte Opa. »Sie will dir den Eindruck vermitteln, sie könnte dich in deinem Schlafzimmer ausspionieren. Hexen weiden sich an Angst. Muriels Macht endet an den Wänden dieses Schuppens.«
»Wollt ihr auf einen Tee hereinkommen?«, fragte sie.
»Was sie an Neuigkeiten hat, kommt von den Kobolden«, fuhr Opa fort. »Und da die Kobolde aus dem Garten verbannt sind, kommen ihre Neuigkeiten von einem speziellen Kobold.«
Muriel stieß ein kreischendes Lachen aus. Das wahnsinnige Gegacker passte viel besser zu ihrem hexenhaften Aussehen als ihre Sprechstimme.
»Der Kobold hat dein Zimmer gesehen und von dem Ort, an dem Seth ihn versteckt hat, Gespräche mit angehört«, schlussfolgerte Opa. »Kein Grund zur Sorge.«
Muriel hob protestierend einen Finger. »Kein Grund zur Sorge, sagst du?«
»Nichts, was der Kobold gesehen oder gehört haben könnte, würde Schaden anrichten«, erklärte Opa.
»Abgesehen vielleicht von seinem eigenen Spiegelbild«, meinte Muriel. »Wer ist unser letzter Besucher? Diese arme, klumpige Missgeburt? Könnte es etwa sein, dass ... ?« Sie klatschte in die Hände und kicherte. »Hatte unser tapferer Abenteurer ein Missgeschick? Hat sein schlaues Mundwerk ihn zu guter Letzt verraten?«
»Sie wissen, was geschehen ist«, sagte Opa.
»Ich weiß, ich weiß«, gackerte sie. »Ich wusste, dass er unverschämt ist, aber solche Grausamkeit hätte ich ihm nicht zugetraut! Sperrt ihn in eine Scheune, sage ich. Um der Feen willen. Sperrt ihn gut ein.«
»Können Sie ihn zurückverwandeln?«, fragte Opa.
»Ihn wiederherstellen?«, rief die Hexe aus. »Nach dem, was er getan hat?«
»Es war ein Unfall, wie Sie sehr wohl wissen.«
»Warum bittest du mich nicht gleich, einen Mörder vor dem Strick zu retten? Einem Verräter seine Schmach zu ersparen?«
»Können Sie es tun?«
»Soll ich ihm auch noch einen Orden herbeizaubern? Ein Ehrenabzeichen für sein Verbrechen?«
»Können Sie es?«
Muriel hörte auf, sich zu verstellen. Sie musterte ihre Besucher mit einem verschlagenen Gesichtsausdruck. »Du kennst den Preis.«
»Ich werde keinen Knoten lösen«, sagte Opa.
Muriel warf ihre knorrigen Hände in die Luft. »Du weißt, dass ich die Energie des Knotens für den Zauber brauche«, erwiderte sie. »Bei ihm wirken mehr als siebzig verschiedene Zauber. Du müsstest siebzig Knoten lösen.«
»Wie wäre es mit ...«
»Kein Feilschen. Ein Knoten, und dein garstiger Enkel wird seine ursprüngliche Gestalt zurückerhalten. Ohne den Knoten wäre ich nicht in der Lage, den Zauber zu wirken. Das ist Feenmagie. Du kanntest den Preis, bevor du gekommen bist. Kein Gefeilsche.«
Opas Schultern sackten ein Stück nach unten. »Zeigen Sie mir das Seil.«
»Leg den Jungen auf meine Türschwelle.«
Dale tat wie ihm geheißen. Muriel stand in der Tür und hielt Opa das Seil hin. Es waren zwei Knoten darin. Beide waren verkrustet von getrocknetem Blut. Einer war noch feucht von Speichel. »Such dir einen aus«, sagte sie.
»Aus eigenem freien Willen löse ich diesen Knoten«, sagte Opa. Dann beugte er sich vor und blies sachte auf einen der beiden Knoten. Er entwirrte sich.
Die Luft erbebte. An heißen Tagen hatte Kendra die Luft in der Ferne flimmern sehen. Das hier sah ähnlich aus, spielte sich jedoch direkt vor ihren Augen ab. Sie spürte pulsierende Vibrationen, als stünde sie während eines lauten Konzerts direkt vor einem Basslautsprecher. Der Boden schien sich zu neigen.
Muriel hielt eine Hand über Seth und murmelte eine Beschwörungsformel. Sein Schwabbelspeck kräuselte sich, als würde er innerlich kochen. Es sah aus, als hätte er tausend Würmer unter der Haut, die sich einen Weg nach draußen bahnten. Faulige Dämpfe stiegen von ihm auf. Sein Fett schien zu verdampfen und sein unförmiger Körper zuckte.
Der Boden begann, noch mehr zu schwanken, und Kendra musste die Arme ausbreiten, um nicht hinzufallen. Dann wurde schlagartig alles finster, wie bei einem Blitz aus Dunkelheit statt Licht. Kendra stolperte und konnte nur mit Mühe das Gleichgewicht wahren.
Das eigenartige Gefühl verschwand. Die Luft klärte sich, und alles war wieder ruhig. Seth richtete sich auf. Er sah genauso aus wie vor der Rache der Feen. Keine Stoßzähne. Keine Flossen. Keine Atemlöcher. Nur ein elfjähriger junge mit einem Handtuch um die Taille. Er rollte sich von dem Schuppen weg und rappelte sich hoch.
»Zufrieden?«, fragte Muriel.
»Wie fühlst du dich, Seth?«, erkundigte sich Opa.
Seth klopfte sich auf die nackte Brust. »Besser.«
Muriel grinste. »Danke, kleiner Abenteurer. Du hast mir heute einen großen Dienst erwiesen. Ich stehe in deiner Schuld.«
»Du hättest es nicht tun sollen, Opa«, sagte Seth.
»Es musste sein«, erwiderte er. »Wir gehen jetzt besser.«
»Bleibt doch noch ein Weilchen«, bot Muriel an.
»Nein danke«, sagte Opa.
»Sehr schön. Weist meine Gastfreundschaft nur zurück. Kendra, es war schön, dich kennenzulernen, mögest du weniger Glück haben, als du verdienst. Dale, du bist so stumm wie dein Bruder und fast genauso bleich. Seth, hab bitte bald ein weiteres Missgeschick. Stan, du hast nicht mal den Verstand eines Orang-Utans, gesegnet sei deine Seele. Lasst mal wieder was von euch hören.«
Kendra gab Seth Socken, Schuhe, Shorts und ein Hemd. Sobald er sie angezogen hatte, kehrten sie auf den Pfad zurück.
»Kann ich auf dem Rückweg in der Schubkarre sitzen?«, fragte Seth.
»Diesmal solltest du mich schieben«, grummelte Dale.
»Wie hat es sich angefühlt, ein Walross zu sein?«, fragte Kendra.
»Ist es das, was ich war?«
»Ein mutiertes, buckliges Walross mit einem unförmigen Schwanz«, erklärte sie.
»Wenn wir nur einen Fotoapparat gehabt hätten! Es war so komisch, durch den Rücken zu atmen. Und es war schwer, mich zu bewegen. Nichts fühlte sich mehr richtig an.«
»Es wäre besser, wenn ihr nicht so laut reden würdet«, bemerkte Opa.
»Ich konnte nicht sprechen«, sagte Seth leiser. »Ich hatte das Gefühl, als wüsste ich immer noch, wie es geht, aber die Worte kamen vollkommen verzerrt heraus. Mein Mund und meine Zunge waren irgendwie anders.«
»Was ist mit Muriel?«, wollte Kendra wissen. »Wenn sie diesen letzten Knoten aufbekommt, ist sie dann frei?«
»Sie war ursprünglich durch dreizehn Knoten gefesselt«, sagte Opa. »Sie kann sie aus eigener Kraft nicht lösen, was sie aber nicht daran zu hindern scheint, es zu versuchen. Aber andere Sterbliche können die Knoten lösen, indem sie einen Wunsch äußern und darauf blasen. Der Knoten wird durch mächtige Magie gehalten. Wenn man einen löst, kann Muriel diese Magie kanalisieren, um den Wunsch zu erfüllen.«
»Wenn du also jemals wieder ihre Hilfe benötigen solltest...«
»... werde ich mich anderswo umsehen«, beendete Opa ihren Satz. »Ich wollte nie, dass sie es bis zu einem Knoten schafft. Es kommt nicht in Frage, sie zu befreien.«
»Es tut mir leid, dass ich ihr geholfen habe«, sagte Seth.
»Hast du aus dem Martyrium irgendetwas gelernt?«, fragte Opa.
Seth ließ den Kopf hängen. »Ich fühl mich wirklich miserabel wegen der Fee. Sie hat nicht verdient, was mit ihr passiert ist.« Opa gab keine Antwort, und Seth betrachtete weiter seine Schuhe. »Ich hätte nicht mit magischen Geschöpfen herumspielen dürfen«, gestand er schließlich.
Opa legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich weiß, dass du es nicht böse gemeint hast. An diesem Ort kann das, was du nicht weißt, zu einer Gefahr für dich werden. Und für andere. Wenn du gelernt hast, in der Zukunft vorsichtiger und mitfühlender zu sein und den Bewohnern dieses Reservats größeren Respekt entgegenzubringen, dann war das Ganze zumindest für etwas gut.«
»Ich habe auch etwas gelernt«, warf Kendra ein. »Menschen sollten sich nicht mit Walrossen einlassen.«