KAPITEL 9
Hugo
Kendra hatte das dreieckige Holzbrett auf dem Schoß. Sie betrachtete die Zapfen und dachte über ihren nächsten Sprung nach. Neben ihr wippte Lena sachte auf einem Schaukelstuhl und beobachtete, wie der Mond aufging. Von der Veranda aus konnte man nur wenige Feen durch den Garten schweben sehen, und Glühwürmchen leuchteten zwischen ihnen im silbernen Mondlicht.
»Nicht viele Feen unterwegs heute Abend«, bemerkte Kendra.
»Es könnte einige Zeit dauern, bis die Feen in größerer Zahl in unsere Gärten zurückkehren«, sagte Lena.
»Kannst du ihnen nicht alles erklären?«
Lena lachte. »Sie würden eher deinem Großvater zuhören als mir auch nur die geringste Beachtung zu schenken.«
»Warst du nicht sozusagen eine von ihnen?«
»Das ist ja das Problem. Pass auf.« Lena schloss die Augen und begann leise zu singen. Ihre hohe, trällernde Stimme ließ sehnsüchtige Melodie erklingen. Mehrere Feen huschten aus dem Garten herbei, bildeten einen Halbkreis um sie und unterbrachen den wunderschönen Gesang mit inbrünstigem Zirpen.
Lena hörte auf zu singen und sagte etwas in einer unverständlichen Sprache. Die Feen zirpten zurück. Lena machte eine letzte Bemerkung, und die Feen flogen davon.
»Was haben sie gesagt?«, fragte Kendra.
»Sie haben mir erklärt, dass ich mich schämen sollte, ein najadisches Lied zu singen«, antwortete Lena. »Sie werden nur äußerst ungern daran erinnert, dass ich einst eine Nixe war, vor allem, wenn ich gleichzeitig zu erkennen gebe, dass ich mit meiner Entscheidung im Reinen bin.«
»Sie wirkten ziemlich aufgeregt.«
»Einen großen Teil ihrer Zeit verbringen sie damit, Sterbliche zu verspotten. Wann immer eine von uns zu den Sterblichen überwechselt, fragen die anderen sich, was sie wohl verpassen. Vor allem, wenn wir einen zufriedenen Eindruck machen. Sie verspotten mich erbarmungslos.«
»Macht Ihnen das gar nichts aus?«
»Fast nichts. Sie wissen allerdings, wie sie mich piesacken können. Sie ziehen mich wegen meines Alters auf – wegen meinen Haaren, meinen Falten. Sie fragen, wie mir die Aussicht gefällt, in einer Kiste begraben zu werden.« Lena runzelte die Stirn und blickte nachdenklich in die Nacht. »Als du heute nach Hilfe gerufen hast, habe ich mein Alter deutlich gespürt.«
»Wie meinen Sie das?« Kendra versetzte einen Zapfen auf dem Spielbrett.
»Ich wollte dir schnell zu Hilfe eilen, und schon lag ich bäuchlings auf dem Küchenboden. Dein Großvater war noch vor mir bei dir, und er ist nicht gerade ein Athlet.«
»Es war nicht Ihre Schuld.«
»In meiner Jugend wäre ich in null Komma nichts bei dir gewesen. Ich war ziemlich gut bei Notfällen. Jetzt kann ich jemandem nur noch zu Hilfe humpeln.«
»Sie sind immer noch sehr fit.« Kendra gingen die Züge aus. Ein Zapfen stand bereits allein auf weiter Flur und würde auf jeden Fall übrig bleiben.
Lena schüttelte den Kopf. »Auf dem Trapez oder dem Hochseil könnte ich mich keine Minute mehr halten. Früher war das kein Problem. Der Fluch der Sterblichkeit. Man verbringt den ersten Teil seines Lebens damit, Fertigkeiten zu erlernen, stärker zu werden. Und dann, ohne eigenes Verschulden, lassen deine Fähigkeiten wieder nach. Man fällt zurück. Starke Glieder werden schwach, scharfe Sinne werden stumpf, eine robuste Gesundheit verfällt. Schönheit verwelkt. Organe versagen einem den Dienst. Man erinnert sich an sich selbst in der Blüte seines Lebens und fragt sich, wo diese Person geblieben ist. Während deine Weisheit und Erfahrung immer größer werden, verwandelt sich dein verräterischer Körper in ein Gefängnis.«
Drei Zapfen waren noch übrig, und Kendra konnte keinen Sprung mehr machen. »So habe ich das noch nie betrachtet.«
Lena nahm Kendra das Brett ab und stellte die Zapfen neu auf. »In ihrer Jugend benehmen Sterbliche sich fast wie Nixen. Das Erwachsensein erscheint unendlich weit weg und noch ferner der Verfall des Alters. Aber ebenso schwerfällig wie unausweichlich kommt es herangehumpelt, bis es dich schließlich einholt. Es ist eine frustrierende und demütigende Erfahrung. Es macht mich rasend.«
»Aber bei einem unserer letzten Gespräche sagten Sie, Sie würden sich wieder genauso entscheiden«, rief Kendra ihr ins Gedächtnis.
»Das stimmt, wenn ich die Chance hätte, würde ich jederzeit wieder Patton wählen. Und jetzt, da ich erfahren habe, wie es ist, sterblich zu sein, glaube ich nicht, dass ich mit meinem früheren Leben wieder zufrieden sein könnte. Aber die Freuden der Sterblichkeit, der Kitzel des Lebendigseins, haben einen Preis. Schmerz, Krankheit, der Verfall des Alters, der Verlust geliebter Menschen – auf diese Dinge könnte ich verzichten.«
Die Zapfen waren komplett aufgebaut. Lena machte den ersten Sprung. »Mich beeindruckt, wie ungezwungen die meisten Sterblichen mit dem Verfall des Körpers umgehen. Patton. Deine Großeltern. Viele andere. Sie akzeptieren es einfach. Ich habe immer Angst vor dem Altern gehabt. Seine Unausweichlichkeit verfolgt mich. Seit ich den See verlassen habe, ist die Aussicht auf den Tod zu einem bedrohlichen Schatten in meinen Gedanken geworden.«
Sie übersprang den vorletzten Zapfen, so dass nur noch ein einziger übrig blieb. Kendra hatte das schon einmal bei Lena gesehen, aber bisher war es ihr noch nicht gelungen, ihre Züge nachzuahmen.
Lena seufzte leise. »Aufgrund meiner Natur werde ich das Alter vielleicht viele Jahrzehnte länger ertragen müssen als gewöhnliche Menschen. Das demütigende Finale eines sterblichen Lebens.«
»Dafür sind Sie ein Genie im Zapfenspiel«, sagte Kendra.
Lena lächelte. »Der Trost meiner Winterjahre.«
»Sie können immer noch malen und kochen und alle möglichen Dinge tun.«
»Ich will mich nicht beklagen. Das sind keine Probleme, mit denen man einen jungen Menschen belasten sollte.«
»Ist schon in Ordnung. Sie machen mir keine Angst. Sie haben Recht. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, erwachsen zu sein. Ein Teil von mir fragt sich, ob ich die Highschool-Zeit jemals erleben werde. Manchmal denke ich, dass ich vielleicht jung sterbe.«
Die Tür zur Veranda ging auf, und Opas Kopf erschien. »Kendra, ich muss ein paar Worte mit dir und Seth reden.«
»Okay, Opa.«
»Kommt ins Arbeitszimmer.«
Lena stand auf und bedeutete Kendra, ihrem Großvater zu folgen. Kendra ging ins Haus und folgte Opa ins Arbeitszimmer. Seth saß bereits in einem der riesigen Sessel und trommelte mit den Fingern auf die Armlehne. Kendra setzte sich in den anderen, und Opa ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder.
»Übermorgen ist der 21. Juni«, sagte Opa. »Weiß einer von euch, was das bedeutet?«
Kendra und Seth sahen sich an. »Dein Geburtstag?«, riet Seth.
»Die Sommersonnenwende«, erklärte Opa. »Der längste Tag des Jahres. Die Nacht davor feiern die launenhaften Geschöpfe von Fabelheim ein Fest zügelloser Ausschweifungen. An vier Nächten im Jahr lösen sich die Grenzen auf, die den Wesen hier gesetzt sind. Ohne diese Nächte würden die Regeln, die hier sonst gelten, nicht funktionieren. In der Mittsommernacht sind die Mauern dieses Hauses die einzigen Grenzen, die der Bewegungsfreiheit und den Streichen einer jeden Kreatur gezogen sind. Wenn man sie nicht einlädt, können sie nicht eindringen.«
»Du meinst morgen Nacht?«, fragte Seth.
»Ich wollte euch keine Zeit geben, euch deswegen Sorgen zu machen. Solange ihr meinen Anweisungen folgt, wird die Nacht ohne Zwischenfälle vorübergehen. Es wird laut werden, aber euch wird nichts geschehen.«
»In welchen anderen Nächten schweifen sie so frei umher?« , fragte Kendra.
»Zur Wintersonnenwende und zu den beiden Tag- und Nachtgleichen. Die Mitsommernacht ist in der Regel die wildeste von allen.«
»Können wir vom Fenster aus zusehen?«, fragte Seth begierig.
»Nein«, antwortete Opa. »Und es würde euch auch nicht gefallen, was ihr sehen würdet. In den Festnächten nehmen Albträume Gestalt an und durchstreifen den Garten. Uralte, unvorstellbar böse Wesen lauern in der Dunkelheit auf Opfer. Ihr werdet bei Sonnenuntergang im Bett sein. Ihr werdet Ohrstöpsel tragen. Und ihr werdet nicht aufstehen, bis der Sonnenaufgang die Greuel der Nacht vertreibt.«
»Sollen wir in deinem Zimmer schlafen?«, fragte Kendra.
»Das Spielzimmer auf dem Dachboden ist der sicherste Ort im Haus. Der Raum ist mit zusätzlichen Schutzzaubern versehen, als Zuflucht für Kinder. Selbst wenn durch irgendein Missgeschick unerfreuliche Kreaturen ins Haus kämen, wäre euer Zimmer nach wie vor sicher.«
»Ist schon jemals etwas ins Haus gekommen?«, wollte Kendra wissen.
»Nichts Unerwünschtes hat je die Mauern dieses Hauses überwunden«, sagte Opa. »Trotzdem, wir können nie vorsichtig genug sein. Morgen werdet ihr helfen, einige Abwehrmaßnahmen vorzubereiten, die uns zusätzlichen Schutz verschaffen. Wegen des jüngsten Aufruhrs mit den Feen fürchte ich, dass dies eine besonders chaotische Mittsommernacht werden könnte.«
»Ist hier schon mal jemand gestorben?«, fragte Seth. »Auf deinem Land, meine ich?«
»Dieses Thema sollten wir uns für ein andermal aufsparen«, sagte Opa und stand auf.
»Der eine Bursche, der sich in Löwenzahnsamen verwandelt hat«, bemerkte Kendra.
»Sonst noch jemand?«, beharrte Seth.
Opa sah sie einen Moment lang ernst an. »Wie ihr langsam merkt, sind diese Reservate gefährliche Orte. Es hat in der Vergangenheit ein paar Unfälle gegeben. Diese Unfälle widerfahren im allgemeinen Menschen, die sich an Stellen wagen, an denen sie nichts zu suchen haben, oder sich in Angelegenheiten einmischen, die ihre Kenntnisse bei weitem übersteigen. Wenn ihr euch an meine Regeln haltet, habt ihr nichts zu befürchten.«
Die Sonne stand noch nicht hoch über dem Horizont, als Seth und Dale den zerfurchten Feldweg entlanggingen, der von der Scheune wegführte. Seth war der von Unkraut überwucherte Fahrweg nie aufgefallen. Er begann auf der dem Haus abgewandten Seite der Scheune und führte in den Wald. Nachdem er sich eine Weile zwischen den Bäumen hindurchgeschlängelt hatte, führte er sie über eine weite Wiese.
Nur vereinzelt hingen ein paar Wolkenfetzen am leuchtend blauen Himmel. Dale legte ein zügiges Tempo vor, und Seth schwitzte bereits. Der warme Tag versprach gegen Mittag richtig heiß zu werden.
Seth hielt Ausschau nach interessanten Geschöpfen. Er sah Vögel, Eichhörnchen und Kaninchen auf der Wiese – aber nichts Übernatürliches.
»Wo sind all die magischen Tiere?«, fragte er.
»Das ist die Ruhe vor dem Sturm«, antwortete Dale. »Ich gehe davon aus, dass die meisten von ihnen sich für heute Nacht ausruhen.«
»Welche Monster werden denn heute Nacht draußen sein?«
»Stan hat mich gewarnt, dass ihr versuchen könntet, Informationen aus mir herauszuholen. Es ist das Beste, nicht allzu neugierig zu sein, was diese Art von Dingen angeht.«
»Das ist es ja gerade, was mich so neugierig macht, dass mir niemand etwas erzählen will!«
»Es ist zu deinem eigenen Besten«, sagte Dale. »Zum Teil sagen wir euch deshalb nichts, weil ihr sonst vielleicht Angst bekommen würdet. Andererseits könnte es euch noch neugieriger machen, wenn wir euch etwas erzählen.«
»Wenn Sie es mir erzählen, verspreche ich auch, dass ich nicht mehr neugierig bin.«
Dale schüttelte den Kopf. »Was bringt dich auf die Idee, dass du dieses Versprechen einhalten kannst?«
»Ich kann unmöglich noch neugieriger werden, als ich es schon bin. Gar nichts zu wissen, ist das Schlimmste.«
»Nun, Tatsache ist, dass ich dir keine sehr befriedigende Antwort auf deine Frage geben kann. Habe ich in meiner Zeit hier merkwürdige Dinge gesehen, erschreckende Dinge? Darauf kannst du wetten. Nicht nur in den Festnächten. Habe ich in Festnächten einen Blick aus dem Fenster riskiert? Ein- oder zweimal, sicher. Aber ich habe gelernt, nicht mehr hinauszuschauen. Menschen sind nicht dazu bestimmt, dergleichen Dinge in ihrem Kopf zu haben. Es macht das Einschlafen schwer. Ich schaue nicht mehr hinaus. Ebenso wenig tut es Lena, oder dein Großvater, oder deine Großmutter. Und wir sind Erwachsene.«
»Was haben Sie gesehen?«
»Wie wär’s, wenn wir das Thema wechseln?«
»Ich sterbe vor Neugier. Ich muss es wissen!«
Dale blieb stehen und sah ihn an. »Seth, du glaubst nur, dass du es wissen willst. An einem schönen Morgen, unterwegs mit einem Freund unter einem klaren, blauen Himmel, scheinen die Dinge harmlos. Aber was ist mit heute Nacht, wenn du allein in deinem Zimmer bist, in der Dunkelheit, wenn die Nacht draußen erfüllt ist von unnatürlichen Geräuschen? Es könnte dir leid tun, dass ich dem, was draußen vor dem Fenster heult, ein Gesicht gegeben habe.«
Seth schluckte. Er sah Dale mit großen Augen an. »Was für eine Art Gesicht?«
»Wollen wir es dabei bewenden lassen. Ich bereue es bis zum heutigen Tag, wenn ich nach Einbruch der Dunkelheit draußen bin, dass ich hingesehen habe. Wenn du ein paar Jahre älter bist, wird ein Tag kommen, da dein Großvater dir die Gelegenheit geben wird, in einer Festnacht aus dem Fenster zu schauen. Spar dir deine Neugier bis dahin auf. Wenn ich es wäre, wenn ich zurückkönnte, würde ich überhaupt nicht hinausschauen.«
»Das ist leicht gesagt, nachdem Sie hinausgeschaut haben.«
»Es ist nicht leicht gesagt. Ich habe einen hohen Preis bezahlt. Viele schlaflose Nächte.«
»Was kann einem denn so viel Angst machen? Ich kann mir durchaus schlimme Dinge vorstellen.«
»Dasselbe habe ich auch gedacht. Mir war nicht klar, dass es zwei verschiedene Dinge sind, sich etwas vorzustellen oder etwas zu sehen.«
»Wenn Sie schon einmal hinausgeschaut haben, warum tun Sie es dann nicht nochmal?«
»Ich will nicht noch mehr sehen. Den Rest kann ich mir auch so vorstellen.« Dale ging weiter.
»Ich will es immer noch wissen«, beharrte Seth.
»Kluge Leute lernen aus ihren Fehlern. Aber die wirklich intelligenten lernen aus den Fehlern anderer. Zieh keinen Schmollmund; du wirst gleich etwas Beeindruckendes sehen. Und es wird dir nicht einmal Albträume bescheren.«
»Was?«
»Siehst du diese Anhöhe dort drüben?«
»Ja.«
»Die Überraschung ist auf der anderen Seite.«
»Sind Sie sich sicher?«
»Absolut.«
»Ich hoffe bloß, es ist nicht wieder eine Fee«, meckerte Seth.
»Was ist falsch an Feen?«
»Ich hab schon eine Milliarde gesehen, und außerdem haben sie mich in ein Walross verwandelt.«
»Es ist keine Fee.«
»Auch kein Wasserfall oder so was in der Art?«, fragte Seth misstrauisch.
»Nein, es wird dir gefallen.«
»Gut, Sie machen mir Hoffnung. Ist es gefährlich?«
»Eigentlich ja, aber uns sollte nichts passieren.«
»Dann kommen Sie, beeilen wir uns.« Seth flitzte den Hügel hinauf. Er drehte sich zu Dale um, der gemächlich hinter ihm herging. Kein gutes Zeichen. Wenn die Überraschung gefährlich war, würde Dale ihn nicht vorauslaufen lassen.
Auf dem Gipfel der Anhöhe blieb Seth stehen und blickte auf den sanften Abhang, der auf der anderen Seite wieder hinunterführte. Keine hundert Meter entfernt stapfte ein riesiges Geschöpf mit zwei gigantischen Sensen durch ein Heufeld. Die mächtige Gestalt schnitt das Getreide schnell und in weiten Bögen. Beide Sensen zischten und sirrten ohne Pause.
Dale stellte sich neben Seth. »Was ist das?«, fragte Seth.
»Hugo, unser Golem. Komm mit und sieh ihn dir an.«
Dale verließ den Weg und ging querfeldein auf den schuftenden Goliath zu. »Was ist ein Golem?«, erkundigte sich Seth, während er hinterherstolperte.
»Pass auf.« Dale hob die Stimme. »Hugo, halt!«
Die Sicheln hielten mitten im Schwung inne.
»Hugo, komm!«
Der Feldarbeiter mit den herkulesmäßigen Proportionen drehte sich um und kam mit langen, federnden Schritten auf sie zu gelaufen. Seth konnte spüren, wie der Boden unter ihnen vibrierte, als Hugo näher kam. Die Sicheln noch immer fest gepackt, blieb der riesige Golem vor Dale stehen. Er überragte ihn bei weitem.
»Ist der aus Schlamm gemacht?«, fragte Seth.
»Erde, Ton und Stein«, sagte Dale. »Ein mächtiger Zauber haucht ihm so etwas Ähnliches wie Leben ein. Hugo wurde dem Reservat vor etwa zweihundert Jahren geschenkt.«
»Wie groß ist er?«
»Fast drei Meter, wenn er aufrecht steht. Meistens lässt er sich ein bisschen hängen, und dann sind es eher zwei Meter fünfzig.«
Seth beäugte den Koloss. Seiner Gestalt nach sah er eher einem Affen ähnlich. Abgesehen von seiner beeindruckenden Größe war Hugo breit, mit dicken Gliedmaßen und überproportional großen Händen und Füßen. Aus seinem irdenen Körper sprossen Grasbüschel und hie und da ein Löwenzahn. Er hatte einen rechteckigen Kopf mit kantigem Kinn. Grobe Züge ähnelten Nase, Mund und Ohren. Die Augen waren zwei leere Höhlen unter einer vorspringenden Stirn.
»Kann er reden?«
»Nein. Manchmal versucht er zu singen. Hugo, sing uns ein Lied!«
Der breite Mund begann sich zu öffnen und zu schließen, und eine Abfolge rauer Brüller, einige lang, andere kurz, kamen heraus. Das Getöse hatte nur wenig Ähnlichkeit mit Musik. Hugo neigte den Kopf vor und zurück, als bewege er sich zu der Melodie. Seth hatte alle Mühe, nicht laut loszulachen.
»Hugo, hör auf zu singen.«
Der Golem verfiel wieder in Schweigen.
»Der singt aber nicht besonders gut«, bemerkte Seth.
»Er ist ungefähr so musikalisch wie ein Erdrutsch.«
»Ist es ihm peinlich?«
»Er denkt nicht so wie wir. Er ist niemals glücklich oder traurig oder wütend oder gelangweilt. Er ist wie ein Roboter. Hugo gehorcht einfach Befehlen.«
»Kann ich ihm befehlen, irgendetwas zu tun?«
»Wenn ich ihm die Anweisung gebe, dir zu gehorchen«, sagte Dale. »Anderenfalls hört er nur auf mich, Lena und deine Großeltern.«
»Was kann er sonst noch tun?«
»Er ist sehr geschickt. Er führt alle möglichen handwerklichen Arbeiten durch. Es würde ziemlich viele Leute brauchen, um all die Arbeit zu erledigen, die er hier tut. Hugo schläft nie. Wenn man ihm eine Liste von Aufgaben gibt, arbeitet er die ganze Nacht hindurch.«
»Ich will ihm sagen, dass er etwas tun soll.«
»Hugo, leg die Sensen weg«, sagte Dale.
Der Golem legte die Sensen auf den Boden.
»Hugo, das ist Seth. Hugo, gehorche Seths nächstem Befehl.«
»Jetzt?«, fragte Seth.
»Sag zuerst seinen Namen, damit er weiß, dass du ihn ansprichst.«
»Hugo, schlag ein Rad.«
Hugo streckte die Hände aus und zuckte die Achseln.
»Er weiß nicht, was du meinst«, sagte Dale. »Kannst du ein Rad schlagen?«
»Ja.«
»Hugo, Seth wird dir zeigen, wie man ein Rad schlägt.«
Seth hob beide Hände, nahm Anlauf und schlug ein Rad. »Hugo«, sagte Dale, »gehorche Seths nächstem Befehl.«
»Hugo, schlag ein Rad.«
Der Golem hob die Arme, taumelte zu einer Seite und machte ein unbeholfenes Rad. Der Boden zitterte.
»Ziemlich gut für den ersten Versuch«, meinte Seth.
»Er hat dich nachgeahmt. Hugo, wenn du ein Rad schlägst, musst du deinen Körper gerade halten und die Anfangsrichtung genau einhalten. Hugo, schlag ein Rad!«
Diesmal legte Hugo ein fast perfektes Rad hin. Seine Hände hinterließen Abdrücke auf dem Feld. »Er lernt schnell«, rief Seth.
»Zumindest alles, was mit Bewegung zu tun hat.« Dale stemmte die Hände in die Hüften. »Ich bin es leid, zu gehen. Was würdest du dazu sagen, wenn wir uns von Hugo zu unserem nächsten Ziel bringen lassen?«
»Wirklich?«
»Wenn du lieber zu Fuß gehen willst, können wir auch...«
»Auf keinen Fall!«
Kendra musste eine Säge benutzen, um den nächsten Kürbis von der dicken Ranke zu schneiden. Lena schnitt derweil einen großen roten ab. Die Kürbisse nahmen fast die Hälfte des Gewächshauses ein, große und kleine, weiße, gelbe, orangefarbene, rote und grüne.
Sie hatten das Gewächshaus über einen kaum erkennbaren Pfad durch die Wälder erreicht. Neben den Kürbissen und anderen Pflanzen gab es auch noch einen Generator, der die Lampen mit Strom versorgte.
»Müssen wir wirklich dreihundert abschneiden?«, fragte Kendra.
»Sei froh, dass du sie nicht verladen musst«, erwiderte Lena.
»Wer macht das?«
»Das ist eine Überraschung.«
»Sind Kürbislaternen wirklich so effektiv?«
»Ob sie funktionieren? Recht gut. Vor allem, wenn wir die Feen überzeugen können.«
»Sie zu verzaubern?«
»Die Nacht darin zu verbringen«, erklärte Lena. »Feenlaternen waren schon immer eine der sichersten Schutzmaßnahmen gegen Kreaturen mit zweifelhaften Absichten.«
»Aber ich dachte, das Haus wäre bereits sicher.« Kendra war gerade dabei, den Stiel eines großen, orangefarbenen Kürbisses anzusägen.
»Ein paar Extra-Sicherheitsmaßnahmen schaden bei Festnächten nie. Insbesondere in einer Mittsommernacht nach all dem Aufruhr in jüngster Zeit.«
»Wie sollen wir sie jemals alle vor heute Abend aushöhlen«
»Überlass das Dale. Er könnte sie alle allein aushöhlen und hätte noch Zeit übrig. Es werden nicht gerade Kunstwerke, aber dafür sehr, sehr viele. Du höhlst sie nur zum Spaß aus; er weiß, wie man es macht, wenn man muss.«
»Das Aushöhlen hat mir noch nie besonderen Spaß gemacht«, sagte Kendra.
»Ach nein?«, erwiderte Lena. »Ich liebe die schleimige Konsistenz und die Gelegenheit, mich bis zu den Ellbogen zu beschmieren. Es ist so, als würde man im Schlamm spielen. Und danach gibt es immer köstliche Pasteten.«
»Ist dieser weiße hier zu klein?«
»Vielleicht sparen wir ihn uns für den Herbst auf.«
»Glauben Sie, dass die Feen kommen werden?«
»Schwer zu sagen«, gestand Lena. »Einige werden mit Sicherheit kommen. Normalerweise haben wir keine Mühe, so viele Laternen zu füllen, wie da sind, aber heute Nacht könnte das anders sein.«
»Was ist, wenn sie nicht auftauchen?«, fragte Kendra.
»Wir werden auch ohne sie zurechtkommen. Künstliche Beleuchtung funktioniert auch, wenn auch nicht so gut wie die Feen. Mit den Feenlaternen bleibt der Aufruhr immer weiter vom Haus weg. Zusätzlich wird Stan noch Stammesmasken, Kräuter und andere Schutzvorrichtungen aufstellen.«
»Ist diese Nacht wirklich so schrecklich?«
»Ihr werdet jede Menge beunruhigender Geräusche hören.«
»Vielleicht hätten wir die Milch heute Morgen weglassen sollen.«
Lena schüttelte den Kopf, ohne den Blick von ihrer Arbeit abzuwenden. »Zu den gemeinsten Tricks, die heute Nacht zur Anwendung kommen werden, gehören List und Illusion. Ohne die Milch wärt ihr noch anfälliger dafür. Sie könnten ihre wahre Erscheinung nur noch besser verhüllen.«
Kendra schnitt einen weiteren Kürbis ab. »So oder so, ich werde nicht hinschauen.«
»Ich wünschte, wir könnten etwas von deiner Einsicht auf deinen Bruder übertragen.«
»Nach allem, was geschehen ist, bin ich sicher, dass er sich heute Nacht benehmen wird.«
Die Tür des Gewächshauses ging auf, und Dale steckte den Kopf herein. »Kendra, komm her, ich möchte dich mit jemandem bekannt machen.«
Von Lena gefolgt ging Kendra zur Tür. Auf der Schwelle blieb sie stehen und stieß ein leises Kreischen aus. Eine riesige, affenartige Kreatur marschierte auf das Gewächshaus zu; sie zog eine Art Rikscha von der Größe eines Wagens hinter sich her. »Was ist das?«
»Das ist Hugo«, krähte Seth, der in dem gigantischen Schubkarren hockte. »Er ist ein Roboter aus Schlamm!« Seth sprang aus dem Karren und lief zu Kendra hinüber.
»Ich bin vorausgegangen, damit du ihn näher kommen sehen konntest«, erklärte Dale.
»Hugo kann unglaublich schnell rennen, wenn man es ihm sagt«, schwärmte Seth. »Dale hat mir erlaubt, ihm Befehle zu geben, und er hat mir immer gehorcht. Siehst du? Er wartet auf Anweisungen.«
Hugo stand reglos neben dem Gewächshaus und hielt immer noch die Rikscha fest. Hätte sie Hugo nicht in Bewegung gesehen, hätte Kendra geglaubt, er wäre eine grob behauene Statue. Seth drängte sich an Kendra vorbei ins Gewächshaus.
»Was ist er für ein Geschöpf?«, fragte Kendra Lena.
»Ein Golem«, antwortete sie. »Belebte Materie mit rudimentärer Intelligenz. Er macht den größten Teil der schweren Arbeiten hier.«
»Er lädt die Kürbisse ein.«
»Und rollt sie in seinem Karren zum Haus hinüber.«
Seth verließ das Gewächshaus mit einem ziemlich großen Kürbis. »Darf ich ihr einen Befehl zeigen?«, fragte er.
»Natürlich«, sagte Dale. »Hugo, gehorche dem nächsten Befehl von Seth.«
Seth hob den Kürbis mit beiden Händen auf Hüfthöhe und lehnte sich ein Stück zurück, um nicht vornüber zu fallen, dann näherte er sich dem Golem. »Hugo, nimm diesen Kürbis und wirf ihn, so weit du kannst, in den Wald.«
Der erstarrte Golem erwachte zum Leben. Er nahm den Kürbis in seine gewaltige Hand, verdrehte den Leib wie ein Speerwerfer und ließ seinen Arm dann nach vorne schnellen. Der Kürbis schoss wie ein Diskus in den Himmel. Dale stieß einen leisen Pfiff aus, als der Kürbis in der Ferne immer kleiner wurde und schließlich außer Sicht geriet, nur noch ein orangefarbener Fleck, der hinter den Baumwipfeln verschwand.
»Hast du das gesehen?«, rief Seth. »Er ist besser als jeder Kugelstoßer!«
»Ein richtiggehendes Katapult«, murmelte Dale.
»Sehr beeindruckend«, pflichtete Lena ihnen trocken bei. »Verzeiht mir, wenn ich hoffe, einige unserer Kürbisse einer praktischeren Verwendung zuführen zu können. Ihr Jungs helft uns den Rest unserer Ernte abzuschneiden, damit wir sie füllen können.«
»Kann Hugo nicht noch ein paar Kunststücke vorführen?« , bettelte Seth. »Er kann ein Rad schlagen.«
»Für Unsinn werden wir später noch genug Zeit haben«, versicherte ihm Lena. »Wir müssen unsere Vorbereitungen für heute Abend abschließen.«