Tag
51,
Standardjahr 1393,
Lytaxin,
Erobs Gelände
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Er kam zu spät.
Fluchend ging Val Con neben dem regungslosen Körper, der am Waldrand lag, auf die Knie nieder. Vorsichtig drehte er ihn um und seufzte, als er das verzerrte Gesicht erkannte. Beldyn chel’Mara. Einst war sie ein Scout gewesen.
Die Wunde, die sie während des Kampfes erlitten hatte, war zwar schlimm, jedoch keinesfalls fatal. Nein, der Schmerz, der sich auf ihrem toten Gesicht abzeichnete, erzählte eine ganz andere Geschichte: Agentin chel’Mara hatte verstanden, dass man ihr folgte – und wer dies tat. Ihre Schleife würde ihr die Berechnung präsentiert haben, dass dieser Jemand sie einholen würde, ehe sie ihr Schiff erreicht hatte, und würde darüber hinaus die geringe Wahrscheinlichkeit bestimmt haben, mit der sie einen Kampf gegen ihn gewinnen würde, erschöpft und panisch, wie sie sich fühlte.
Also hatte sie sich den implantierten Befehlen unterworfen und die letzte Routine des Loops akzeptiert: Selbstmord, um der Gefangenschaft zu entgehen.
Dem Commander die Qualen von zwölf Dutzend Höllen zu wünschen, würde aus dieser Entfernung nichts nützen – zudem hatte er keine Zeit zu verlieren.
Mit schnellen und ruhigen Fingern ging er durch die offenen und versteckten Taschen der Agentin, holte alles heraus, selbst die Münzen und ihre Lizenzen. Er stopfte sich die Beute in die Tasche seiner Weste, erhob sich und machte einen Schritt zurück. Jeden Moment …
»Wer ist es?« Miris Stimme war atemlos. Er hob eine Hand, warnte sie, zählte: »Eins, zwei, drei, vier, fünf –«
Beldyn chel’Maras Körper glühte in hellem Schein auf. Val Con hob einen Arm vor seine Augen, fühlte die Hitze und den Gestank des brennenden Fleisches, wie beides über sein Gesicht fuhr, hörte das Knistern der Einäscherung und dann – nichts.
Vorsichtig senkte er den Arm wieder.
Das dünne Gras, auf dem der Körper der Agentin gelegen hatte, war etwas angekokelt. Sonst war nichts übrig geblieben.
»Wer«, wiederholte Miri, die sich nahe an seinen Ellbogen gestellt hatte, »war das?«
Er sah in ihre kritischen grauen Augen hinab.
»Agentin des Wandels Beldyn chel’Mara.«
»Selbstmord?«
Er nickte, zögerte, ehe er seine eigene Frage stellte, da er vor seinem eigenen Auge noch einmal sah, wie das Tor aufgestoßen wurde, er die ersten Schüsse über seinen Kopf pfeifen hörte, zu Boden ging, sich abrollte, den langen Körper gekrümmt …
»Mein Vater?«
»Clonak hat ihn rechtzeitig in einen Autodoc bekommen. Scheint nicht weiter besorgt zu sein. Es ist wohl an mir, Sorgen zu haben, glaube ich.« Sie benutzte ihren Ärmel, um ihr feuchtes Gesicht abzuwischen.
»Wenn wir diese Lebenspartner-Verbindung haben – und ich sage ja gar nicht, dass das eine schlechte Sache ist –, dann müssen wir das eine oder andere an der Feinabstimmung regeln. Alles, was ich weiß, ist: Du hattest Angst, du warst wütend und dann warst du fort. Clonak sagte, verantwortlich sei die Abteilung, und ich habe die Fassung verloren, weil ich dachte, sie hätten dich erwischt.«
»Ja, an der Feinabstimmung müssen wir in der Tat arbeiten. Damit haben wir ein Projekt, mit dem wir uns während unserer ungestörten Stunden beschäftigen können.«
»Davon werden wir wohl für eine Weile nicht viele haben. Diese Leute werden nicht aufgeben, oder?«
»Nein«, erwiderte er und umschlang ihre Hüfte in einer kurzen, auf absurde Weise beruhigenden Umarmung. »Tatsächlich weisen Clonaks Aussagen darauf hin, dass die Abteilung im Gegenteil vielmehr Phase 2 ihres Plans startet.«
»Phase 2? Was bedeutet das?«
»Sie bewegen sich offener, vernichten ihre Feinde, lösen den Rat der Clans auf und etablieren sich selbst als Regierung.«
Miris Augen weiteten sich. »Meinen die das ernst?«
»Sehr ernst«, versicherte Val Con ihr. »Viel schlimmer noch – die Chancen stehen gut, dass sie Erfolg haben werden.« Er trat einen Schritt zurück und holte die Sammlung von Beldyn chel’Maras Besitztümern aus seiner Tasche. »Und irgendwo hier ist … ah!« Er hielt es hoch, Miri zuckte zusammen und seufzte.
»Schiffsschlüssel. Großartig. Jetzt müssen wir lediglich noch das Schiff finden.«
»Das dürfte nicht schwierig sein«, sagte er und drückte auf den richtigen Knopf. Das Gerät wurde in seiner Hand lebendig, zitternd in seinem Verlangen, wieder mit dem Schiff vereint zu werden. Val Con schloss seine Finger locker darum und drehte sich sehr langsam auf einer Ferse. Nach einer Dreiviertelumdrehung bebte der Schlüssel in seinem Griff.
»Dort entlang«, sagte er sanft und ging los, der Schlüssel tanzte in seiner Hand, Miri folgte stumm an seiner Seite.
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»Nein«, sagte Shan bestimmt. »Wir werden ihnen nicht folgen.«
»Shan, der Nadelm und die Nadelmae von Korval sind –«
»Was du offenbar nicht begreifen willst«, hob er seine Stimme und unterbrach seine Schwester und Erste Sprecherin zum zweiten Mal binnen einer Stunde, »ist die Tatsache, dass der Nadelm und die Nadelmae von Korval extrem wilde Individuen sind. Miri Robertson ist Captain bei den Söldnern. Sie hat bis vor Kurzem Soldaten in den Krieg geführt, einige Schlachten überlebt, einen Flughafen von einer feindlichen Macht zurückerobert – oh – und einen Yxtrang-Erkunder zu ihrer Truppe hinzugefügt. Und du wirst dich daran erinnern, dass Nadelm Korval den Dienstgrad eines Scout Commanders trägt. Dies ist nicht notwendigerweise eine Garantie für Wildheit, aber ich darf dir aus eigener Kenntnis und aufgrund der Berichte des erwähnten Yxtrang-Erkunders verraten, dass er einen Soldaten von doppelter Größe besiegt hat, und zwar im Einzelkampf, beide nur mit einem Messer bewaffnet.«
»Shan –«
»Dies alles bedeutet«, fuhr er fort, was zur dritten Unterbrechung in dieser Nacht führte, »dass das Universum mehr von diesen beiden zu befürchten hat als sie vom Universum und dass jene Feinde, die sie nicht sofort mit einem Blick und einer Handbewegung vernichten können, solche sind, denen wir niemals begegnen wollen, wenn wir einen Spaziergang in den Wald machen. Darüber hinaus hat Erob echte Soldaten entsandt, um die restlichen Feinde zu verfolgen – wer und wie viele sie auch immer sein mögen. Und ich darf dich daran erinnern, dass du Korval-pernard’i bist. Als der dir untergebene Thodelm weise ich dich auf Kapitel 8, Paragraf 15 des Kodex des Richtigen Verhaltens hin und verbiete dir, dich in Gefahr zu bringen, solange der Nadelm für uns nicht erreichbar ist.«
Er holte tief Luft, um einige noch stärkere Argumente hervorzubringen, sollte sich dies als nötig erweisen, aber sie stand nur stumm da und starrte ihn an, das Gesicht noch bleicher als sonst.
Wie dem auch sei: Nova war sprachlos, andere waren es nicht.
»Bravo!« Clonak ter’Meulen klatschte zustimmend. »Gut gespielt, Sir! Ja! Sehr gut! Darf ich eine Aufzeichnung bekommen, bei den Göttern?«
»Clonak«, sagte Shan warnend. »Ich –«
»Nein, nein, mein Guter, nichts mehr sagen! Ihr habt eine meisterhafte Vorstellung abgeliefert. Schont Eure Kräfte. Erlaubt mir, statt Eurer weiterzumachen.« Er kam nach vorne und verbeugte sich, alles korrekt und sehr wie bei den Hohen Häusern: Ehre, die man einem Delm entgegenbrachte, der nicht der eigene war.
»Lady Nova, wie schön, Euch wiederzusehen! Habt Ihr den Krieg genossen?«
Sie starrte, was Clonak nicht im Geringsten beeindruckte. »Dummerweise habe ich die wilderen Momente verpasst, da ich erst vor wenigen Stunden angekommen bin.«
»Ist das so? Dann werdet Ihr den entzückenden Lieutenant Nelirikk gar nicht kennen! Ein Juwel besonderer Güte, dieser Lieutenant Nelirikk. Ich bin überzeugt, dass Ihr ihn sehr mögen werdet. Wie Ihr gehört habt, ist er von Eurem Pflegebruder besiegt worden, dem unschätzbaren Schatten, und das im Kampf Mann gegen Mann. Dadurch hat Nelirikk sich einen Ehrenplatz in den Diensten Eures Hauses erworben. Ein Mann vieler Qualitäten – und es war eine glückliche Fügung, dass er bei uns war, als wir gestern Nachmittag die anderen gefunden haben. Es ist natürlich zu früh vorherzusagen, ob jene einen ähnlichen Wert für das Haus Korval haben werden, aber ich bin mir sicher, dass sie sich bemühen werden, gut zu dienen.«
»Andere?«, wiederholte Shan, der plötzlich Kälte in seinem Magen fühlte. »Welche anderen?«
Clonak schenkte ihm ein wunderbares Lächeln. »Na ja, Hazenthull Erkunderin und Diglon Schütze, sonst niemand. Sie haben vor einer Stunde ihren Eid auf Lord und Lady yos’Phelium abgelegt.«
Shan schloss seine Augen.
»Müde, mein Guter?«
»Erschöpft, wenn Ihr es wissen müsst«, sagte er seufzend. »Die Linie derer von yos’Phelium hat den Eid von drei Yxtrang angenommen?«
»Ich bezweifle nicht, dass sich die Nützlichkeit dieser Personen für das Haus schnell unter Beweis stellen wird. Tatsächlich hat sich Captain Robertson zu diesem Punkt sehr eloquent geäußert.« Er machte eine Pause, um sich über den Schnurrbart zu streichen. »Ich glaube nicht, dass es dem Schatten schon klar geworden ist, obgleich sich das ändern wird, aber ich bin sicher, Daav fasst bereits die Möglichkeit für ein Brutpaar ins Auge.« Er bewegte seine Schultern. »Nun, das wird er sicher. Wir sind alle nur Produkte unserer Ausbildung.«
»Ein Brutpaar«, wiederholte Shan schwach, aber Nova hatte eine andere Beute im Sinn.
»Wenn Ihr auch nur einen Moment glaubt, dass ich diesen Mann als Daav yos’Phelium akzeptieren werde, ganz unabhängig davon, wie Ihr und er meinen Bruder auch haben hereinlegen können –«
»Ah!«, rief Clonak aus und schlug mit der Hand gegen seine Stirn. »Vergebt mir! Jetzt erinnere ich mich daran, was ich eigentlich von Euch wollte! Einen Moment, ich weiß, das es irgendwo ist …« Er machte eine Riesenshow aus dem Durchsuchen seiner Taschen und präsentierte schließlich mit einer eleganten Bewegung einen mehrfach gefalteten Ausdruck.
»Während sie ihn im Autodoc hatten, bat ich die Techniker, eine Genanalyse durchzuführen. Ich wusste, dass Euch das interessieren wird, liebe Lady Nova, und wollte Euch die Sorge nehmen.«
Stirnrunzelnd schnappte Nova den Ausdruck und öffnete ihn.
»Korval!«, las sie. »Von der Linie yos’Phelium.«
»Genau so, wie es sich gehört«, sagte Clonak und wandte sich zur Tür. »Es war wunderbar, mit euch zu plaudern, Kinder, aber ich muss jetzt los, um herauszufinden, was Shadia so macht. Tschüss!«
Die Tür schloss sich hinter ihm.
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»Sie sind ein klein wenig arrogant, oder?«, fragte Miri und legte sich auf ihrem Bauch unter den Busch, den sie sich als Deckung ausgesucht hatten. »Keine Wachen, keine Fallen, keine Signale. Nur …« Sie winkte mit einer Hand in Richtung des Schiffes, das nahe des bewaldeten Hügels stand, für jeden zu sehen, der danach suchte – nachdem Val Con die Bediensequenz für den Schlüssel ausgeknobelt und den Unsichtbarkeitsschirm des Schiffes deaktiviert hatte.
»Sie haben sich auf die Tarnvorrichtung verlassen, um es zu verstecken«, murmelte er. »Und es gibt keine Garantie dafür, dass das Schiff selbst frei von Fallen ist.«
»Oha!« Sie sah ihn an. »Es wird wahrscheinlich darauf programmiert sein, dem Hauptquartier zu berichten, oder?«
»Es wird sicher einen Überlicht-Lokalisator geben, wie er auch auf Agent sig’Aldas Schiff verborgen gewesen war«, sagte er und zog die Augenbrauen zusammen. »Es wird ebenso programmiert sein, einen Notruf zu senden, wenn es zu lange allein gelassen wurde. Der Commander ist kein Narr. Er wird zweifelsohne herausgefunden haben, dass Agent sig’Aldas Schiff niemals im Orbit um Waymart war. Wir dürfen erwarten, dass er dafür gesorgt hat, dass die Sicherheitssysteme dieses Schiffes … verbessert worden sind.«
»Wunderbar!« Miri starrte das Schiff an, das sich aber weigerte, sich wie ein schlechter Traum im hellen Sonnenlicht aufzulösen. »Wir können das verdammte Ding da nicht einfach so stehen lassen – es ist eine Bombe, die nur auf ihre Detonation wartet!«
»So ist es.« Er rückte sein Kinn auf den gefalteten Armen zurecht, die Augen auf das Schiff gerichtet. »Es sollte möglich sein, es zu entschärfen«, sagte er dann. »Ich habe Beldyns Lizenz. Wenn ich diese benutze, sollte es einfach sein, Zugang zum Hauptcomputer zu erlangen und das System vollständig runterzufahren.«
»Das Wort ›einfach‹ beunruhigt mich hier etwas.«
Er drehte seinen Kopf und lächelte sie an. »Natürlich ist es das. Wie dem auch sei, ich kann keine einfache Alternative sehen – das Schiff ist hier, vier seiner Agenten sind tot und es wird ganz sicher die Abteilung um Hilfe rufen, wenn der Countdown abgelaufen ist und sich niemand zurückgemeldet hat.« Er schaute wieder auf das Schiff.
»Ich schlage vor, dass du hier mit den meisten von Beldyns Besitztümern auf mich wartest. Ich werde ihre Lizenz benutzen, um Zugang zum Hauptcomputer zu erlangen. Wenn ich es nicht schaffe, das gesamte System abzuschalten – etwa weil der Computer dafür die Codes von zwei Lizenzen oder mehr verlangt –, kann ich möglicherweise zumindest den Countdown neu starten.«
»Was uns Zeit geben würde, die anderen Lizenzen zu besorgen und hierher zurückzukehren«, sagte Miri. Ruhig ging sie den Plan durch. Es war ein schöner, einfacher Plan; er ließ etwas Spielraum und hielt einen Ausweg für den Notfall bereit, was, wie die Götter wussten, für sie beide keinesfalls üblich war. Dennoch mochte sie ihn nicht sonderlich und sagte das auch.
»Alternativen?«, fragte Val Con, wie sie es hatte erwarten können. Sie seufzte und schüttelte den Kopf.
»Ich kann mir nicht einmal ein gutes Argument ausdenken, das dafür spräche, dass wir gemeinsam hineingehen, anstatt uns zu teilen«, sagte sie. »Ich werde wohl alt.«
Er lächelte. »Demnach ist es entschieden.« Er schaute ernst in ihre grünen Augen. »Ich werde sehr vorsichtig sein, Cha’trez.«
»Das sagst du immer«, beschwerte sie sich und setzte sich auf, da sie es müde war, dass ihre Haare sich in den Zweigen verwickelten. »Dann sollten wir wohl loslegen.«
»In der Tat. Der beste Weg, um etwas zu beenden, besteht darin, es zu beginnen.«
Er kam auf die Knie und fischte die Sachen aus der Weste, die er der toten Agentin abgenommen hatte. Das meiste davon überreichte er Miri und behielt nur den Schiffsschlüssel, eine Metallkarte, bei der es sich um die Lizenz der verstorbenen Beldyn handelte, und einen flachen, gezackten Metallgegenstand.
»Innenschlüssel«, murmelte er. »Um Kästen zu öffnen und die inneren Schotts im Falle eines Energieausfalls.«
»Gut«, sagte sie und steckte das Zeug ein, während Val Con aus der Deckung glitt und sich in Richtung des Schiffes der Agenten bewegte.
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Das Schott öffnete sich in Reaktion auf den Schiffsschlüssel und Val Con betrat das Schiff der Abteilung.
Die Innenbeleuchtung ging an, als er weiterging, vorsichtig nach Fallen und Stolperstrahlen Ausschau haltend. Er erreichte die Mitte des Cockpits ohne Probleme und hielt inne, um sich umzuschauen.
Das Kontrollpult war abgeschaltet, die Bildschirme leer, die Statuslichter zeigten Stand-by – bereit zu erwachen, sobald die Hand eines Piloten die Kontrollen berührte. Eine kluge Maßnahme eines Piloten, der nicht auf einem Raumhafen landete, wo er den Luxus eines Hotpad genießen durfte, und nicht wissen konnte, ob er von Feinden verfolgt schnell wieder starten musste oder ganz entspannt mit genug Zeit.
Nun. Schnell und leise wanderte er durch das restliche Schiff, stellte fest, dass er hier in der Tat alleine war, dann kehrte er zum Cockpit zurück und zog Beldyn chel’Maras Pilotenlizenz aus der Tasche.
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Miri bewegte sich unter dem Busch, die Augen auf das Schiff gerichtet. Das Schott hatte sich ohne Feuerwerk geöffnet und Val Con hatte das Schiff betreten. In ihrem Kopf sah sie das spezielle Muster, das zeigte, dass er vorsichtig war und in kleinen, engen Schritten plante. Es gab keinen Hinweis, dass ihm irgendwas seltsam oder gefährlich vorkam …
Dann schloss sich das Schott des Schiffes, unwiderruflich und mit Würde. Miri sprang auf, ignorierte die Kratzer, die ihr Lauf durch die Büsche ihr einbrachte, und ihr Schrei wurde durch das Pfeifen der anspringenden Maschinen überdeckt.
Das Schiff der Agenten sprang in den Himmel.
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Seine Hände zuckten über das Kontrollpult, versuchten den Abbruch zu initiieren. Das Schiff ignorierte ihn.
Er öffnete den Navigationscomputer, der gehorsam den vorher einprogrammierten und nun befolgten Kurs zeigte, dessen Zielkoordinaten ihm nur zu vertraut waren.
Das Schiff der Abteilung brachte ihn ins Hauptquartier.
Val Con biss auf seine Lippen, erlaubte, dass der Andruck des beschleunigenden Schiffes ihn in den Pilotensitz drückte. Seine Hände lagen auf den Kontrollen – die Schalter, die seine Fingerabdrücke identifiziert hatten, wie er nun dachte –, dann verbeugte er sich mental vor dem Commander, der in der Tat kein Narr war.
Das Schiff schoss nach oben. Der Hauptcomputer erlaubte ihm, die Schirme zu aktivieren, sodass er sehen konnte, wie der Erdboden unter ihm zurückfiel. Die Büsche, in denen er Miri zurückgelassen hatte, waren schon nicht mehr in der Landschaft zu erkennen.
Das Hauptquartier, dachte er, und dann richteten sich seine Gedanken auf den Commander und auf das wahrscheinliche Schicksal für jemanden, der sich der Kontrolle entzogen hatte, und das zum mehrfachen Schaden für die Abteilung.
Ins Hauptquartier zurückzukehren, war keine Option.
Val Con berührte die Kontrollen und öffnete eine Kommunikationsverbindung.
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Ein Ton erklang. Priscilla, überwiegend auf den Systembericht konzentriert, der ihren Hauptschirm füllte, tastete abwesend nach dem Schalter.
»Mendoza.«
»Priscilla, hier ist Val Con.« Seine Stimme kam ruhig und klar aus dem Lautsprecher, sofort zu erkennen, obgleich sie schon seit drei Jahren nicht mehr mit ihm gesprochen hatte. Sie setzte sich auf und starrte.
»Schon?«, fragte sie. »Shan sagte, es würde Tage dauern –«
»Shan hat sich geirrt«, unterbrach er. »Hör mir zu. Ein Schiff steigt von Lytaxin auf, 76° 51' 33" westlicher Länge, 39° 24' 17" nördlicher Breite, mit einer Beschleunigung von 7,8 lokalen g. Orte es bitte.«
Ihre Finger tanzten über die Kontrollen. »Hab es.«
»Gut. Zerstöre es.«
Sie blinzelte, überprüfte ihre Instrumente. »Val Con, du bist an Bord dieses Schiffes!«
»In der Tat, das bin ich. Feuer frei.«
»Nein.«
»Priscilla, wenn du dich weigerst, wirst du den Clan zerstören. Dieses Schiff gehorcht mir nicht und der eingeschlagene Kurs wird mich direkt in die Hände unseres Feindes bringen.« Ruhig, so ruhig war seine Stimme. Es war diese Ruhe, die sie davon überzeugte, dass sein Befehl richtig und notwendig war, obgleich, bei der Göttin, wie nur sollte sie es Shan beibringen …
»Es wäre hilfreich«, sagte er, »wenn das Schiff noch in der Atmosphäre wäre, wenn du feuerst.«
Sie lächelte. »Ja, natürlich.« Ihre Finger wanderten erneut über die Kontrollen, ohne zu zögern und selbstsicher. »Strahler aktiviert«, murmelte sie. »Ziel erfasst.«
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Miri starrte in den heller werdenden Himmel, betrachtete das Schiff, das ihn von ihr fortnahm. Es war nur noch am Rande ihres Sichtfeldes, ein Fleck vor den weißen Wolken des Morgens. Bald …
Ein heller, gleißender Strahl schnitt durch die Wolken. Er berührte den Punkt, umgab ihn, pulsierte.
Das Schiff explodierte.
Miri schrie.
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Ren Zel erwachte plötzlich und vollständig.
Ein Blick auf die eisblaue digitale Anzeige seiner Uhr bestätigte ihm, dass er nur etwas über eine Stunde geschlafen hatte. Trotzdem fühlte er sich außerordentlich wach, sogar ein wenig unruhig. Ein Spaziergang, so dachte er, wäre jetzt das Beste, um wieder die notwendige Bettschwere zu bekommen.
Diesem Gedanken folgend erhob er sich von seinem Bett und zog sich rasch in der Dunkelheit an. Als er in seine Stiefel stieg, griff er nach seiner Pilotenjacke und hob sie vom Haken. Seine Finger streichelten über das narbige alte Leder, fuhren über die dünnen Nähte, die alle eine Stelle markierten, wo das Leder aufgerissen und später geflickt worden war.
Er lächelte in der Dunkelheit und warf sich die Jacke über. Im nächsten Augenblick betrat er bereits den Gang jenseits seiner Tür und spazierte nach rechts.
Der Gang führte scharf nach links, dann wieder nach rechts. Ren Zel marschierte kraftvoll, seine Sinne weit offen, verspürte mit jedem Schritt mehr Energie.
Der Gang wand sich wieder nach rechts. Ren Zel ging um die Ecke und spazierte in einen Garten, schritt vom Teppich auf Gras und hielt schließlich inne, sein Gesicht dem Himmel zugewandt, der vom Sternenlicht erhellt wurde. Er sog die angenehm duftende Luft tief ein – und fühlte, wie etwas gegen sein Schienbein stieß.
Vorsichtig blickte er hinunter. Seine Sicht war silbrig verschwommen, sodass der Umriss der großen grauen Katze, die einen zweiten, noch robusteren Stoß gegen seine Beine fabrizierte, von dem Licht gezeichnet wurde.
»Vorsichtig«, murmelte Ren Zel und beugte sich hinab, um seinen Zeigefinger zum Gruß anzubieten. »Dieses Bein habe ich mir schon einmal gebrochen – und das ziemlich gründlich.«
Die Katze blinzelte an ihm hoch und berührte mit der leicht feuchten Nase seinen Finger. Die Regeln der Höflichkeit derart befolgt, drückte sie ihren Kopf hart gegen Ren Zels Hand, was ihn zu einem sanften Auflachen bewegte, als er gehorsam die kräftigen grauen Ohren rieb.
Ein sanfter Wind fuhr durch die Blätter und trug süße und ungewohnte Düfte mit sich. Ren Zel holte erneut tief Luft und erhob sich mit einem letzten Kraulen unter dem Kinn der Katze.
»Komm jetzt, lass mich durch diesen Garten spazieren. Ich bin schon sehr lange nicht mehr in einem gewesen.«
Er spazierte weiter, seine Stiefel flüsterten durch das Gras.
Er lächelte, als seine Ärmel die Blüten einer Nachtblume streiften und einen Duft auslösten, der scharf und angenehm wie Zimt war. Solch ein kleiner Schatz hätte sich sicher im Garten des Hauses gefunden, in das er geboren worden war – viele Jahre und viele Welten von hier.
Nicht weit vor ihm endete der grasbewachsene Pfad, den er entlangschritt, in opulentem Grünbewuchs, aber zunächst führte er zu Wurzeln und dann zum Stamm eines monumentalen Baums.
Ren Zel lief über die aus dem Boden wachsenden Wurzeln. Er schaute hinab, um seine Schritte sicher zu setzen, und sah, dass die Katze ihn weiterhin begleitete und neben ihn über den unebenen Boden glitt.
Als er beim Baum ankam, sicherte sich Ren Zel, indem er sich mit einer Hand am bemerkenswert warmen Holz abstützte, ehe er nach oben blickte.
Über sich sah er einen Schatten, der wohl Äste und Blätter abbildete. Die Sterne und den schimmernden, silbrigen Himmel konnte man kaum erkennen. Er starrte ohne Ergebnis in die Weite des Schattens. Details waren nicht zu erkennen, obgleich er einen lebhaften Eindruck von Stärke bekam, von … Alter und … warmer Zuneigung.
Aus den fernen Zweigen kam ein Geräusch, als ob sich etwas löst und schnell zu Boden fällt. Seine Pilotenreflexe ließen Ren Zel ein halbes Dutzend Schritte nach hinten machen, was gut war, denn sonst hätte ihn das kleine herabstürzende Objekt sicher direkt auf den Kopf getroffen.
Stattdessen landete es im dunklen Gras und wurde unmittelbar von der Katze begutachtet, die fest ihre beiden weißen Vorderpfoten auf die Beute setzte und Ren Zel in unmissverständlicher Herausforderung ansah, als ob sie sagen wolle: Und? Ich hab es für dich gefangen, Meister Angsthase. Bist du zu furchtsam, um es dir auch nur anzusehen?
Ren Zel machte einen Schritt nach vorne und beugte sich nicht ohne eine gewisse Vorsicht hinab, da er sich an die Angewohnheiten der Baumkröten im Garten seiner Jugend erinnerte. Die Katze trat zurück, Schwanz nach oben gereckt, und stupste mit einer Pfote das Objekt an, bewegte es genug, dass Rens Auge es finden konnte.
Keine Baumkröte. Mit leichtem Stirnrunzeln griff Ren Zel nach einer Samenkapsel – zwei Samenkapseln, die durch einen dünnen Zweig verbunden waren. Er schaute die Katze an, die aufrecht dasaß, den Schwanz um die Beine gewickelt und den Blick sehr intensiv auf Ren Zels Gesicht gerichtet.
»Dein Baum bewirft mich mit Dingen, ja? Muss ich annehmen, dass ich nicht willkommen bin?«
Eine silberne Pfote erhob sich, fuhr sanft über die Schnurrhaare, dann wanderte die Katze mit erhobenem Schwanz davon. Ren Zel bewegte seine Schultern, dachte darüber nach, die Samenkapseln wieder fortzuwerfen, und tat es dann doch nicht. Sie fühlten sich warm und angenehm in seiner Hand an, und es kam ihm so vor, als würde er sie später noch brauchen können.
Auf halbem Weg über die Wiese hielt die Katze in ihrer zielgerichteten Wanderung inne und schaute über ihre Schulter. Wieder hatte Ren Zel den Eindruck, wenn das Tier zur Sprache fähig wäre, dass es in diesem Moment eine scharfe Bemerkung zu einem Meister Angsthase äußern würde, verbunden mit der Aufforderung, sich nun aber zu beeilen.
Derart behutsam überredet schritt Ren Zel vorwärts. Die Katze betrachtete ihn für einen Augenblick und dann, offenbar zufriedengestellt, dass er tun würde, wozu er aufgefordert worden war, übernahm sie die Führung.
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Teile dessen, was einst ein Schiff gewesen war, fielen aus dem Himmel.
Miri bewegte sich in der Deckung, die zu nehmen sie sich nicht erinnerte. Sie sah die Trümmer hinabfallen und ließ ihre Gedanken vorsichtig hinausschweifen, bereit, sich beim ersten, kalten Schock der Leere zurückzuziehen, griff dorthin, wo sein Muster sein sollte.
Es war … da! Etwas beschäftigt in diesem Moment, aber ohne jeden Hinweis auf Beeinträchtigung, wie sie es aus jener Zeit kannte, als er im Yxtrang-Kampfflugzeug zu sterben begonnen hatte. Tatsächlich schien er sogar sehr beschäftigt zu sein für einen Mann, der eigentlich vaporisiert sein sollte durch den Energiestrahl, der sein Schiff zerstört hatte.
Vorsichtig und in dem Bemühen, seine Konzentration nicht zu stören, schob sie sich ein wenig tiefer in sein Muster. Sein Blickfeld torkelte verrückt hin und her und sie sah die Oberfläche von weit oben, wie sie sich dann sanft drehte und langsam unter ihr größer wurde, als … als?
Fluchtgleiter, murmelte Val Con in ihr Ohr. Der manuelle Schlüssel öffnete das Notfallfach und aktivierte das Fluchtschott.
Sie schloss ihre Augen, wodurch sie die desorientierende Fernsicht auf den Boden nicht ganz loswurde. Noch vorsichtiger zog sie sich aus Val Cons Muster zurück, öffnete ihre Augen für einen Blick in den Himmel.
Weit oben erkannte sie vor dem Hintergrund der Wolken einen langen, schwarzen Flügel, der sich in Spiralen gelassen dem Boden näherte.
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Der Pfad endete an einer Tür. Die Katze stoppte und sah ihn über ihre Schulter hinweg an.
Ren Zel betrachtete die Lage. Die Tür war in die Wand eingelassen. Die Wand war Teil einer größeren Wandfläche, die so geformt war, dass sie dem ersten Stock eines Clanhauses entsprach. Er schaute die Katze an.
»Ich befürchte, dass ich dir nicht dienen kann. Mein Fingerabdruck wird diese Tür nicht öffnen.«
Die Katze gähnte, spazierte zur Tür, setzte sich auf die Hinterpfoten, drückte eine Vorderpfote gegen den unteren Teil der Tür und streckte sich mit der anderen in Richtung Türriegel. Ren Zel seufzte tief auf.
»Versteh mich doch, es ist sinnlos. Dies ist ein Clanhaus – und ich bin ohne Clan! Es gibt keine Tür auf ganz Liad, die sich meiner Hand öffnen würde!«
Die Katze streckte sich höher, ihre Pfote tastete dennoch weit unterhalb des Riegels.
»Ich gehorche einfach nur nicht, ja? Nun, lass es mich dir beweisen!« Er machte zwei Schritte nach vorne und griff zum Türknopf, hörte in seinem Geiste bereits die aufheulenden Warnglocken, dass das Haus auf einen Eindringling reagierte.
Der Türgriff drehte sich leicht in seiner Hand. Die Tür öffnete sich leise in gut geölten Angeln. Die Katze spazierte hinein, blieb dann sehen und schaute ihn wieder mit einem inzwischen viel zu vertrauten Blick über die Schulter an.
»Nein, nein.« Ren Zel starrte in die schimmernden Augen. »Ich kann nicht.«
Die Katze kam zurück, fuhr sanft und streichelnd um seine Beine, bewegte sich dann erneut den schwach erleuchteten Gang entlang.
Es war riskant – selbst wenn man die Fehlfunktion bedachte, die ihm erlaubt hatte, eine kodierte Tür zu öffnen. Er kannte das Risiko. Aber das Haus lockte ihn mit dem Versprechen auf ein Leben hinein, das ihm bisher verwehrt worden war. Sicher, so dachte er, waren ein kleiner Spaziergang den Gang entlang und der Blick in das eine oder andere Zimmer kein großes Problem.
Trotzdem er die Gefahr kannte, trat Ren Zel ein, schloss die Tür vorsichtig hinter sich und stellte sicher, dass sie arretierte, ehe er der Katze in die Tiefen des Hauses folgte.
Zeit und Weg verschwammen vor ihm.
Er meinte sich zu erinnern, dass sie eine dunkle, menschenleere Küche durchquert hätten, er und die Katze, und eine schmale, nur unzureichend durch Nachtlichter erhellte Treppe hinaufgestiegen und dann einen weiteren Gang entlanggegangen wären, vielleicht auch zwei …
Das Zeitgefühl kehrte zurück. Sie standen vor einer weiteren Tür. Die Katze schmiegte sich lange und sanft an seine Beine, setzte sich wieder auf die Hinterpfoten, streckte sich in Richtung des Türsensors weit über ihrem Kopf.
»Das ist die private Wohnung eines Clanmitglieds, das in dieses Haus gehört«, sagte Ren Zel, seine Stimme nicht mehr als ein Flüstern. »Ich bin mir sicher, dass meine Hand hier gar nichts bewirken wird.«
Die Katze ließ sich nicht einmal dazu herab, ihren Kopf zu drehen. Ren Zel seufzte, schritt nach vorne und legte seine Hand mit absoluter Gewissheit auf die kodierte Sensorplatte. Seine Handfläche kitzelte, als das Haus ihn scannte. Seine Schultern zogen sich unter seiner vielfach geflickten Jacke zusammen, als ob er sich gegen den Griff einer feindlichen Hand wehren würde.
Leise und würdevoll glitt die Tür seitlich in die Fassung. Die Katze gurgelte erfreut und sprang beinahe hinein, den Schwanz erhoben und vor Freude zitternd.
Ren Zel machte einen Schritt rückwärts. Das heißt, er wollte das tun, um den halb in seiner Erinnerung versunkenen Weg durch private, reichlich mit Teppichen dekorierte Korridore, die Treppe hinunter, durch die Küche und in den sternenlichterfüllten Garten zurückzulaufen, zurück in die vertrauten, geliebten Gänge der Dutiful Passage.
Stattdessen ging er nach vorne, überschritt die Schwelle und hörte, wie sich die Tür hinter ihm schloss.
Etwas verspätet kam ihm zu Bewusstsein, dass er offenbar den Verstand verloren hatte.
Verrückt oder geistig gesund, seine verräterischen Füße machten einfach weiter und führten ihn weich und ohne Hast durch ein sehr angenehm eingerichtetes Wohnzimmer, bis er eine weitere verbotene Schwelle überquerte, diesmal in das Schlafzimmer eines Menschen, der Mitglied eines Clans war, fröhlich und lebendig.
Der innere Raum war großzügig geschnitten, in der Mitte befand sich ein Bett nobler Größe, direkt neben einem sich zum Himmel öffnenden Dachfenster, aus dem silbrige Strahlen die zerknitterte Überdecke erleuchteten. Das Licht webte Sterne in das lange, dunkle Haar einer Frau, die auf den Kissen schlummerte, ein Arm abgewinkelt hoch über dem Kopf liegend und mit einem Stirnrunzeln, das den Ausdruck ihrer sanft geschwungenen Augenbrauen störte.
Die Vernunft kehrte zurück, schnell und kalt, ließ seine Füße auf dem Teppich gefrieren. Die Leute, die zu diesem Haus gehörten, würden ihn töten. Wahrlich, sie würden ihn töten – völlig zu Recht –, einen Fremden, der sich selbst hereingelassen hatte, allein und ohne Einladung, mitten in das Schlafzimmer eines der wertvollen Kinder des Clans.
Er biss auf seine Lippen, wandte sich halb zum Gehen – und in exakt diesem Moment entschied sich die Katze, auf das Bett zu springen, und landete fest auf dem Bauch der Schlafenden.
»Umpf!« Die Dame klappte wie ein Messer in eine sitzende Position und hob die Katze in ihre Arme. »Furchtbare Kreatur! Erst weigerst du dich, hier bei mir zu schlafen, und jetzt verweigerst du mir die Ruhe in Einsamkeit! Unerträglich, Lord Merlin! Ich hatte gedacht, dass du dich die ganze Nacht im Garten herumtreiben –« Sie hielt inne, hörte ihre eigenen Worte, wie Ren Zel dachte, und setzte die Katze dann sanft zur Seite, starrte über die Decke direkt auf … ihn.
»Oh!«, sagte sie und neigte ihren Kopf zur Seite, wie jemand, der zwar verwirrt, aber nicht erschrocken darüber war, einen Fremden am Fußende ihres Bettes zu erkennen. »Guten Abend, Pilot.« Ihre Stimme war langsam, der Ausdruck seltsam hallend. Sie sprach im Modus, den man unter Gleichrangigen verwendete.
Wäre er dem Code gefolgt, hätte er sich vor ihr aufs Gesicht werfen müssen, um sie nicht weiter mit seinem Anblick zu beschmutzen, während sie nach ihren Gleichaltrigen rufen würde oder den Älteren oder ihrem Delm, um schnell zu kommen und ihn fortzuschaffen.
Ren Zel neigte seinen Kopf, erwiderte ihre würdige, unbeeindruckte Haltung. »Guten Abend, Lady.«
Sie lächelte im Sternenlicht und warf die Decke zur Seite, glitt aus dem Bett und kam ihm leise auf nackten Füßen entgegen, ihr Nachthemd flatterte um ihre Knie.
»Ah, Sie!«, sagte sie. »Ich gebe zu, dass ich Sie nicht erwartet habe. Darf ich den Namen erfahren?«
Er verbeugte sich sehr sanft im Modus der Vorstellung. »Ren Zel.«
Sie lächelte wieder und warf ihr Haar zurück. Er dachte für einen Moment, dass es im Sternenlicht Funken schlagen würde.
»Ein kurzer Name, aber gut genug.« Sie hielt inne, stand ihm so nahe, dass er die Farbe ihrer Augen unter den einnehmenden dunklen Augenbrauen erkennen konnte – silber wie das Sternenlicht.
»Mein Name«, sagte sie, »ist Anthora.« Sie streckte eine Hand aus, der Rand des Ärmels fiel graziös den Arm zurück. »Darf ich Ihre Jacke aufhängen? Wir sind alle Piloten hier.«
»Ich …« Seine Kehle schloss sich. Er holte Luft. »Ich sollte nicht bleiben.«
»Was … nach einer so langen Reise? Sie sollten sich für eine Stunde entspannen, ehe Sie sich der Mühe der Rückreise unterwerfen.«
Sie kam noch einen halben Schritt nach vorne, mit silbernen Augen in einem Gesicht, das nicht direkt schön war mit seinen scharfkantigen Wangenknochen und dem spitzen Kinn. Es kam ihm so vor, dass er einst aus der Ferne ein ähnliches Gesicht gesehen hatte – dann aber verlor er den Gedanken vor Angst, als er sah, dass sich seine Hand hob, wie von einem mächtigen Magneten in Richtung ihrer seidigen Wange gezogen.
Ihre Augen flackerten, folgten der Bewegung und er nutzte diesen Moment, um einen Schritt zurückzugehen, seine Hand höher zu heben und die beiden Samenkapseln zu zeigen, die immer nach an ihrem Zweig hingen.
»Ein Geschenk«, brachte er hervor. Seine Stimme klang für ihn unsicher. »Wenn es der Lady gefällt.«
»Ein Geschenk?« Für einen Moment starrte sie nur, dann warf sie ihren Kopf zurück und lachte, voll und ungekünstelt. Ren Zel fühlte, wie sich sein Mund zu einem Lächeln verzog, seine Augen folgten der perfekten Kurve ihres Halses hinunter zu den runden Formen ihrer Brüste, die sich unter dem dünnen Stoff ihres Hemdes abzeichneten – er hielt den Atem an, sein Blut erhitzte sich und in dem Moment trafen sich ihre Blicke. Sie grinste immer noch und griff nach den Kapseln.
»Ein schönes Geschenk, das ich hier habe, und so passend zu diesem Anlass! Kommen Sie, wir teilen!«
Er blinzelte sie an, die Zunge verknotet in einer Mischung aus Sehnsucht und Verzweiflung. »Lady, ich bin nicht –«
»Nein, ich bestehe darauf« Sie hob tadelnd einen Finger. »Sie haben das Geschenk gebracht, also ist unsere Pflicht klar. So!« Sie brach eine der Kapseln vom Zweig. Die lag für einen Moment in ihrer offenen Handfläche, dann teilte sie sich ordentlich in zwei Hälften und zeigte einen plumpen, süß riechenden Kern.
»Diese für den Gast.« Sie streckte die Handfläche aus und zwang ihn, die Nuss zu nehmen. »Und nun für mich.« Wieder lag die Kapsel einen Moment ruhig, ehe sie sich auf perfekte Weise teilte. Sie nahm den Kern aus seinem Nest, hob ihn an ihre Lippen und hielt inne. Silberne Augen fixierten ihn, schelmisch und sanft zugleich, als ob sie sowohl sein Verlangen wie seine Verzweiflung perfekt verstehen würde. »Essen, Denubia. Ich schwöre, es wird Ihnen sehr gut schmecken.«
Denubia. Sie sollte ihn nicht so nennen, dachte er und nahm den Kern aus seiner Nusshälfte. Er war nicht der angemessene Empfänger der Kosenamen einer Liaden-Lady. Vorsichtig steckte er den Kern in seinen Mund – und keuchte, als ein Geschmacksaufruhr an seiner Zunge explodierte, und das gleich mehrfach. Seine Augen begannen, seltsame Muster im Äther auszumachen, seine Ohren vernahmen eine Musik hinter der Stille und sein verräterischer, untreuer Körper schrie die Lücken in seiner Vollständigkeit laut heraus.
Er keuchte erneut, als diese Wahrnehmungen nachließen, obgleich sie nicht ganz verschwanden. Es schien ihm, als könne er immer noch die Linien von Macht und Wahrscheinlichkeit erkennen, die sich um ihn herum in der Luft trafen. Das leise Summen der Musik zitterte am Rande seiner Wahrnehmungsfähigkeit.
»Sachte …« Ihre Stimme war – ihre Hand lag auf seinem Arm, was nicht sein durfte.
»Lady, ich bitte Euch um Verzeihung …« Er konnte dies nicht erlauben, was auch immer dies eigentlich war. Es durfte so nicht weitergehen. Wenn er träumte, so sollte er erwachen. Jetzt. Er schloss seine Augen, er zog … irgendwie an diesen Linien, die er um sich herum wahrnahm, zog die eine auf diese Art, die andere auf jene …
»Bleiben Sie gelassen, Pilot. Manchmal ist es besser, nichts zu tun.« Sie streichelte seinen Arm, zeichnete durch das vielfach geflickte Leder hindurch Linien aus Feuer auf seine Haut. Er beging den Fehler, seine Augen wieder zu öffnen und ihr Gesicht zu betrachten, die silbernen Augen besorgt und schelmisch zugleich. Die Fäden, die er gesammelt hatte, glitten aus seinem Griff. Die anschwellende Musik ließ wieder nach und wurde zu einem süßen Summen. Anthora lächelte.
»Alles ist gut«, sagte sie, machte einen Schritt zurück und hielt ihm beide Hände entgegen. »Ihre Jacke, Pilot. Sie benötigen sie hier nicht.«
Stimmt, dachte er, zog sie aus und legte sie zögerlich in ihre Hände.
Sie hielt sie für einen Moment, als ob sie das Gewicht des Leders prüfen würde, dann schaute sie ihn wieder mit verwirrt hochgezogenen Augenbrauen an.
»Diese Jacke trägt viele Wunden.«
»Geheilt«, sagte er ihr und versuchte, Leichtigkeit zu zeigen. »Wir sind beide gut genug geheilt. Diese Jacke hat mein Leben gerettet, Lady.«
»Dann sei sie geehrt«, sagte sie, die silbernen Augen voll Ehrfurcht, und schüttelte die Jacke, als wolle sie einen Teppich vom Staub befreien. Dann legte sie diese über die Lehne eines Stuhls.
Sie war sofort wieder bei ihm und es kam ihm so vor, als wäre der Raum heller geworden, denn er konnte die vollen Kurven ihres Körpers nun deutlich unter ihrem Hemd ausmachen.
»Die Zeit wird knapp«, sagte sie, kam nahe und lächelte in seine Augen. »Darf ich um Ihren Kuss bitten, Ren Zel?«
Er war zu keinem anderen Zweck geboren worden, als sie zu küssen. Und er kam zu spät zu ihr, denn er war tot und es war jenseits ihrer beider Kraft, ihn zu heilen. Er schüttelte den Kopf, wurde sich bewusst, dass sie die terranische Geste vielleicht nicht verstand, und murmelte: »Nein, Lady – ich bin ohne Clan. Ihr seid … Ich sollte nicht hier sein …«, beendete er seinen Satz hilflos.
»Blödsinn!«, sagte sie auf Terranisch und grinste auf bewundernswerte Art. »Nun. Wollen wir ein anderes Fenster in der Festung versuchen. Sie werden erkennen, dass ich ganz ohne Schamgefühl bin, also: Da ich eine Lady bin und mich um mein eigenes Melant’i kümmere – wären Sie bereit, meinen Kuss zu ertragen?«
Er sah in ihre silbernen Augen und wusste, dass er lügen sollte.
»Niemals.«
Ihr Grinsen wurde weich, als sie den letzten Abstand zwischen ihnen überwand, ihre nackten Füße vorsichtig neben seine Stiefel setzte. Sie waren etwa von gleicher Größe und sie legte ihre Arme ganz einfach um seine Schultern. Ihr Atem war warm an seiner Wange und er hielt ihre Hüfte zwischen seinen beiden Händen, zog sie an sich, als sich ihre Lippen berührten …
Und das Universum ging in Flammen auf.