Am frühen Morgen hörte ich die Nachrichten. Wilde Kämpfe in den Vororten von Bagdad. Die Amerikaner hatten den Flugplatz eingenommen und in Bagdad International umbenannt.
Was ist schon ein Name?
Ich rief bei der NUI an und fragte, ob ich den Professor sprechen kann, vielleicht einen Termin ausmachen. Schwierig, als hätte er ein volles Programm, Vorlesungen, Seminare, Konferenzen. Gegen 16:30 Uhr sollte er frei sein, hieß es dann. Ich legte auf.
Da hatte ich einen Tag Zeit.
Ich trug schwarze Jeans, schwarzes T und meinen Polizei-Allwettermantel. In die Taschen steckte ich verschiedene Schraubenzieher, die Fotos der toten Mädchen und Deirdre of the Sorrows. Es war ein schöner Frühlingstag, und auf dem Weg zur Dominic Street musste ich den Mantel ausziehen. Mein Hinken wurde eindeutig besser. Ich erinnerte mich, dass Tim Coffey gesagt hatte, Kinder würden mich »Johnny Hinkebein« nennen. Nun, so weit war es nicht gekommen.
Der Crescent war beeindruckend: alte Häuser, große Gärten, die Häuser schön weit weg von der Straße. Die meisten wurden von Ärzten und Beamten bewohnt. Ich fand Nummer 29 und brauchte einen Moment. Es war ein dunkles Haus mit einem Hauch von Verwahrlosung, hohe Hecken auf beiden Seiten, also kein Plausch mit den Nachbarn. Efeu kroch über die Fassade und hätte mal geschnitten werden müssen. Es war nicht heruntergekommen, hatte aber eindeutig bessere Zeiten gesehen. Ich öffnete das Tor und schritt kühn die Einfahrt hinauf. An einem der anderen Häuser hatte ich ein Schild vom »Nachbarschafts-Wachdienst« gesehen.
Immer eine Einladung für Diebe. Wenn sie einen nicht warnen, dann kann man sich Sorgen machen.
Ich mied die Haustür, ging seitlich am Haus entlang und fand einen Garagen-Anbau.
Okay.
Mit einem der Schraubenzieher hatte ich das antike Schloss sofort offen. Kein Zweifel, ich wurde zum Gewohnheitseinbrecher. In der Garage war ein Haufen Schrott, verrosteter Rasenmäher, Rechen und Schaufeln. Sah alles aus, als wäre es jahrelang nicht angefasst worden. Ein dickes Seil lag zusammengerollt auf einem Regal, ich schnappte es mir, entrollte es, ließ es liegen. Ging durch die Verbindungstür zum Haupthaus. Anders als bei Ted Buckley, dem Anführer der Pikenträger, war hier ein Haus sich selbst überlassen worden. Trotz einer Atmosphäre von Muff und Verfall, überall Staub, musste ich zugeben, die Bude machte Eindruck. Eine gewisse grandeur, hohe Zimmerdecken, intrikater Zierrat und teure Teppiche. Ich erkenne einen guten Teppich, denn wenn man auf Linol und billiger Auslegware gelebt hat, kriegt man ein Gespür für die gehobene Preisklasse. In der Küche standen Möbel aus Mooreichenholz und einer von diesen tollen Küchentischen wie ein Hauklotz beim Schlachter. Tassen, Becher, Teller türmten sich im Spülstein. Keinerlei moderne Annehmlichkeiten –, keine Geschirrspülmaschine, Mikrowelle, nicht mal ein Toaster. Vielleicht verwendete er eine Gabel, hielt das Brot vor die zwei Heizspiralen des künstlichen Kamins. Diese Vision passte nicht, nicht zu dem Mann auf dem Foto im Advertiser. Der Fußboden hätte ein ernsthaftes feuchtes Wischen vertragen können. Allerdings entdeckte ich eine Kaffeemaschine, eine für echte Kaffeebohnen.
Ich fand das Zimmer, das ich für sein Arbeitszimmer hielt, und hier lastete schwer der Geruch von Pfeifentabak. Ich musste ein Fenster öffnen – der Gestank war überwältigend –, aber nur einen kleinen Spalt, falls er vorzeitig nach Hause kam. Dicke Vorhänge waren halb geschlossen, und ich zog sie zurück, um etwas Licht zu haben.
Und staunte.
Bücher von Wand zu Wand. Das war der andere Geruch, der Nektar alter Bände. Es gab sogar eine dieser beweglichen Leitern, die der wahre Bibliomane so abgöttisch liebt. Vier Synge geweihte Regale, und die Bücher sahen aus wie Erstausgaben. Obwohl häufig zur Hand genommen, waren sie in gutem Zustand, liebevoll versorgt. Ein Computer auf dem Schreibtisch, ein alter Macintosh. Ich wandte mich dem Beistelltisch zu und sah in schwerem Silber gerahmte Fotos. Auf zweien die tote Frau, und dann ein junger Mann, den ich erkannte. Niall O’Shea, der vor dem Reihenhaus meiner Kindheit herumgealbert hatte; mein Vater hatte ihm den Kiefer gebrochen. Niall O’Shea, der im Hafen den Kran erstiegen hatte und davongesegelt war.
Heiland.
Ich saß am Schreibtisch des Professors und zog die Schubladen auf. Ein Blatt Papier mit dem Text aus Deirdre of the Sorrows, den ich auswendig gelernt hatte, der mit den Worten begann:
»Ihr drei seid’s, die weder Alter noch Tod werden kommen sehen.«
Scheiße.
Zog die unterste Schublade auf und fand eine grüne Aktenmappe mit fetten schwarzen Buchstaben vorne drauf:
DER DRAMATIKER
Mir schwirrte der Kopf. Hier war ich, löste einen Fall, Stück für Stück, verrichtete tatsächlich anständige Ermittlungsarbeit, und fühlte mich erbärmlich. In der Mappe waren drei Fotos. Die ersten beiden erkannte ich:
Sarah Bradley
Karen Lowe
Auf der Rückseite stand bei beiden, in derselben fetten Druckschrift:
IN FRIEDEN
Die dritte kannte ich nicht, und mit einem Gefühl des Bammels sah ich nach, was auf der Rückseite stand:
BALD
Ich hatte fast alles. Sie war die Nächste, die Dritte, »die weder Alter noch Tod« würde »kommen sehen«.
Ich stand auf und rannte herum, öffnete einen Wandschrank. Es standen Flaschen drin. Glenfiddich, Glenlivet, Jameson, Black Bushmills. Ah.
Ich klappte den Wandschrank schnell wieder zu. Auf dem Tisch war ein Pfeifenständer mit häufig benutzten Bruyèrepfeifen und, Tusch, einer dúidín in der Mitte der Bühne. Jahrhundertelang von den Bauern auf den Aran-Inseln geraucht und sehr beliebt bei Touristen. Sie wurden eigens für die Amerikaner neu hergestellt. Es hieß, die Grasraucher seien besonders angetan von ihnen. Diese war ein alter Knöselkocher aus Ton, und in den Pfeifenstiel war in winzigen Buchstaben gestanzt:
j.m.s.
War es möglich?
Ich ging in die Küche, verbrachte die nächste halbe Stunde mit dem Mahlen von Kaffeebohnen, kriegte den Kaffee nur so einigermaßen hin. Ließ ihn von der Leine. Wenige Aromata können sich mit dem wahren Duft echten Kaffees messen. Spendete mir fast Trost. Ich nehme nie Zucker, diesmal suchte ich aber welchen. Ich fühlte mich schwach und brauchte eindeutig den Schubs. Keramikbecher, von Don Knox, handgemacht. Und dreckig, also spülte und schrubbte ich einen. Schenkte ein und fügte gehäufte Teelöffel Zucker hinzu. Verzichtete auf die Suche nach Milch. Für mich bitte schwarz. Trank ihn auf ex, süß und sengend, und, jawohl, der Ruck kam sofort. Nicht so sehr Energiespender wie Fokussierer. Schenkte den Becher noch mal halb voll und ging in die Garage. Schlürfte die Flüssigkeit und studierte das Dach. Ein dicker Holzbalken lief von einem Ende zum anderen. Ich stellte den Becher ab, nahm das Seil und brauchte drei Versuche, um es über den Balken zu werfen.
Dann zog ich mir einen Schemel heran und begann, den Knoten zu knüpfen.
Ich ging zurück ins Arbeitszimmer, schloss das Fenster und zog den schweren Vorhang wieder zu. Dann setzte ich mich auf den Sessel des Professors, richtete mich auf Warten ein. Es wurde langsam dunkel, als ich den Schlüssel in der Haustür hörte. Dann Keuchen und mühsames Atmen und das Geräusch einer schweren Aktentasche, die zu Boden fällt. Er kam ins Arbeitszimmer und knipste das Licht an. Seine erste Reaktion war Schock, aber er fasste sich schnell, lächelte wissend, sagte:
»Jack Taylor, nehme ich an.«
Er war ein großer Mann, trug einen Anzug aus Schurwolle, der einst teuer gewesen war. Jetzt war er nur noch schäbig. Dazu ein dunkelweißes Hemd mit schiefem Schlips, und sein langes weißes Haar war verwuschelt, mit Schuppen auf den Schultern. Er sah dem britischen Schauspieler Brian Cox nicht unähnlich, der in dem unterschätzten Film Blutmond den ersten Hannibal Lecter gespielt hatte. Eine zurückgehaltene Kraft, markiges Gesicht, pockennarbige Haut und blutunterlaufene Augen. Allerdings lebhaft, kündeten von wilder Intelligenz. Er trug eine braune Tüte mit der Aufschrift »McCambridge’s«. Offenbar deren Feinkostladen. Wie gesagt, Alt-Galway.
Er stellte die Tüte ab, sagte:
»Ich werde etwas trinken; wollen Sie mir Gesellschaft leisten …? Oder ziehen Sie es vor, sich weiterhin in Ihre fragile Ethanolkarenz zu schicken?«
Ich starrte ihn an, und er sagte:
»Ich nehme das als ein Nein.«
Er ging zum Wandschrank, nahm ein schweres Becherglas aus Galway-Kristall heraus und befüllte es mit einem großzügigen Quantum Glenlivet, hielt es gegen das Licht, sagte:
»Go n-éiri an bóthar leat.«
Und stürzte es herunter. Ich sagte:
»Langsam, Prof, ich brauche Sie einigermaßen kohärent.«
Er lachte kurz.
»Es gibt keine Kohärenz. Haben Sie keine Nachrichten gehört?«
Ich legte die Fotos der Mädchen auf den Schreibtisch, sagte:
»Sie haben entschieden, diese armen Geschöpfe mit alledem zu verschonen?«
Er nickte erfreut.
»Meine Studentinnen, Unschuldsgeschöpfe, die die Welt verderben und zugrunde richten wollte, doch dazu wird es nicht mehr kommen.
Ich wusste von diesem Drogenhändler, Stewart, diesem Stück Auswurf. Es lag auf der Hand, seine Schwester auszuwählen. Das zweite Mädchen hat Gras geraucht. Ich wette, das haben Sie nicht gewusst, stimmt’s?«
Er saß auf dem Sessel mir gegenüber, völlig entspannt, als hätte er es mit einem Studenten, nicht allzu helle, zu tun. Ich sagte:
»Sie haben beschlossen, mich wegen Ihres Bruders da hineinzuziehen … Glauben Sie wirklich, die Maulschelle meines Vaters hätte ihn in den Selbstmord getrieben, so viele Jahre später?«
Er griff nach einer seiner Pfeifen, einer abgewetzten Bruyère, nahm einen Lederbeutel aus seinem Jackett, begann die Pfeife zu stopfen, sagte:
»Clan! Hinterlässt ein besonders intensives Aroma. Wie simplistisch Sie sind. Ja, mein Bruder war ob der Aktion Ihres Vaters beschämt. Führte sie zu seinem Selbstmord? Vielleicht. Wie Sie wissen, können manche Verletzungen nie geheilt werden. Immerhin brachte sie mich dazu, ein aktives Interesse an Ihrer Familie zu entwickeln. Ich habe Ihre prekäre Karriere mit … wie soll ich sagen … milder Bestürzung verfolgt. Durch Polizeipräsident Clancy erfuhr ich von Ihrem Besuch bei diesem menschlichen Bodensatz, dem Drogenhändler; die Vollzugsbeamten im Mountjoy hat Ihre Visite sehr erbost.«
Ich stand auf, ging ans Fenster. Sein Blick war zu eindringlich, zu bohrend. Ich sagte:
»Seien Sie so rational, wie Sie wollen, Sie haben zwei Mädchen ermordet.«
Seine Stimme hob sich, ein kleines Timbre nur, das sich dazugesellte, aber ich bekam eine Ahnung davon, wie schick er seine Vorlesungen zu gestalten vermochte. Er sagte:
»Verschont. Ich habe sie verschont.«
Ich drehte mich um, nahm die dúidín, alarmiert verfärbte sich sein Gesicht. Er rief:
»Seien Sie vorsichtig, Sie Kretin, sie ist unbezahlbar!«
Ich zerbrach den Stiel, ließ die Stücke fallen, fragte:
»Und die Scheiße, die Sie mit mir veranstaltet haben, der Kranz, der Messzettel?«
Er starrte die zerbrochene Pfeife an, die Augen nass, sagte:
»Eine Fehleinschätzung, eine momentane Konzentrationsschwäche, eine Frivolität, die mir eigentlich fremd ist; plus ich hatte gepichelt, ein wenig zu viel vom Glenlivet. Ich entschuldigte mich, aber damals hatte ich das Gefühl, Sie wären ein ebenbürtiger Gegner.«
Mein Aufschrei erschreckte ihn.
»Gegner! Sie haben doch den Arsch offen! Das ist kein Spiel!«
Er griff nach seinem Glas, nippte, zündete dann die Pfeife an und sammelte sich, fragte:
»Was wissen Sie über meine Frau?«
»Was?«
»Ach, Jack, Sie wären kein guter Student. Vorbereitung, Recherche, das sind die Schlüssel.«
Das Aroma von Clan erfüllte den Raum, durchdringend, süß, fast widerwärtig. Ich sagte:
»Ich habe Sie gefunden.«
»Touché. Meine Frau hatte einen inoperablen Tumor, litt entsetzliche Schmerzen, dann nach Jahren der Qual, als ich nicht zu Hause war, fiel sie über einige Bücher, die ich oben auf der Treppe gelassen hatte.«
Ich warf ein:
»Bücher von Synge?«
Er tat meine Unterbrechung ab, fuhr fort:
»So friedlich lag sie da, am Fuße der Treppe hingekuschelt. Meine geliebte Deirdre.«
Wieder wurde ich völlig aus der Bahn geworfen, sagte:
»So ihr Name?«
»Natürlich.«
Ich erlaubte mir keinerlei Mitgefühl, ging zum Schreibtisch, hob das dritte Foto auf, fragte:
»Woher haben Sie das?«
Er lächelte, als spräche er mit einem Idioten, sagte:
»Ich bin Professor, ich habe es aus den College-Akten; glauben Sie, ich hätte keinen Zutritt zu allen Abteilungen?«
Er lächelte, als wäre er gebenedeit.