Ich konnte mich nicht an das letzte Mal erinnern, dass ich mit der Eisenbahn gefahren war; und was zum Teufel ist mit dem Bahnhof passiert? Ich wusste natürlich, dass Busreisen, Eisenbahnerstreiks und Preiserhöhungen dem Service verheerenden Schaden zugefügt hatten, aber nun hatte man den Bahnhof total umgestaltet. Vorher war er ein Landbahnhof gewesen, der, da machen wir uns mal nichts vor, ein ländliches Städtchen bediente. Der Bahnhofsvorsteher kannte jeden in Galway, und er wusste nicht nur, wohin man fuhr, sondern auch weshalb. Egal, wie lange man weg gewesen sein mochte, wenn man auf dem Bahnhof ausstieg, begrüßte er einen mit Namen und wusste, wo man gewesen war.

Ein Sprecher sagte die Abfahrten viersprachig an. Ich stellte mich hinter einer Schlange von Rucksacktouristen für meine Fahrkarte an. Nirgends ein englisches Wort. Schließlich war ich mit einmal Dublin hin und zurück dran und verblüfft, wie viel das kostete, fragte:

»Ist das erster Klasse?«

»Seien Sie nicht albern.«

Maulig ging ich an dem neuen modernen Restaurant vorbei, das alte, zugige Café nur noch ein heller Punkt auf meinem Erinnerungsradar. Damals war ein Foto von Alcock und Brown an die Wand gepinnt gewesen, neben einem Plakat mit einem fröhlichen Mann, der verwundert einen Schwarm Flamingos anstarrt, jeder mit einer pint vom Schwarzen im Schnabel, und dazu der Zweizeiler

My Goodness
My Guinness.

War immer für ein Lächeln gut.

In dem Zug gab es immer noch einen Raucherwaggon, zum Erstaunen eines amerikanischen Paares. Sie machte:

»John, du kannst, äh, quasi … in diesem Zug … rauchen.«

Falls er darauf eine Erwiderung hatte, ließ er sie nicht hören. Ich hatte den Waggon ganz für mich allein. Also zündete ich mir eine an, hatte das Gefühl, das ist regelrecht Pflicht. Eine Pfeife pfiff, und wir fuhren an. Louis MacNeice liebte Eisenbahnen und schrieb sein Tagebuch immer auf Reisen. Ich versuchte zu lesen, aber es brachte nichts. Hinter Athlone kam ein Teewagen, von einem kraftvoll gebauten Mann geschoben. Er sah aus, als bewegte er Berge. Der Teewagen wirkte nur wie ein Ärgernis. Ich fragte:

»Wie geht es Ihnen?«

»Tee, Kaffee, Käse-Sandwich, Schokolade, Limo, Saft?«

Sein Akzent war dick, fast undurchdringlich. Es gelang mir, die Liste der Köstlichkeiten aus einer Übersichtstafel abzuleiten, die seitlich am Teewagen befestigt war. Ich zeigte auf den Tee, und als er ihn einschenkte und vor mir abstellte, verschüttete er die Hälfte wegen eines Rüttlers des Zuges. Er tippte sich mit einem dicken Finger auf den Brustkorb, sagte:

»Ukraine.«

Ich hätte mir auch mit dem Finger gegen die Brust piken können und sagen:

»Irland.«

Aber ich hatte das Gefühl, dass dafür ein gewisser Pegel Alkohol nötig war. Ich gab ihm zehn Euro, er grapschte sie sich und schob weiter. Für weniger als einen viertelvollen Plastikbecher gefärbten Wassers. Der Mann hatte eine Glückssträhne. Ich nahm einen experimentellen Schluck, und der Tee schmeckte so schlecht wie der schlechteste Tee, den ich je getrunken hatte –, eine Mischung aus Bitterkeit, die an Tee und Kaffee gemahnt und von Iarnród Éireann zur Kunstform erhoben wurde.

Ich hörte hinter mir die Waggontür aufgleiten, dann eine Frauenstimme:

»Jack? Jack Taylor?«

Drehte mich um und sah eine Frau Ende zwanzig, mit etwas bekleidet, das früher Twinset hieß. Heute hieße das schlechter Geschmack. Die Art Minelle, die man in britischen Fernsehdramen sah, wobei meist noch eine Partie Bridge und eine Leiche in der Bibliothek im Spiel waren. Ihr Gesicht hätte es bis zur Hübschheit schaffen können, wenn sie auch nur die kleinste Anstrengung unternommen hätte. Winzige Perlenohrringe gaben mir den Anhaltspunkt, den ich brauchte. Ich sagte:

»Welle, Wulst, Bergkamm … Moment noch … Bridie … Nein … Bríd?«

Sie keuchte vor Verdruss.

»Wir verwenden nicht die englische Form. Ich habe Ihnen das – wie oft? – gesagt … Ich heiße Bríd Nic an Iomaire.«

Die Polizistin. In einem früheren Fall hatten wir weniger zusammengearbeitet, als dass wir zusammengeprallt wären. Ich hatte ihr irgendwann die Aufklärung eines größeren Verbrechens zugeschustert, obwohl meine Hilfe höchst suspekt und eindeutig nicht ganz hasenrein gewesen war. Unsere Verbindung war von Anfang an belastet. Ihr Onkel, Brendan Flood, und ich hatten eine gemischte gemeinsame Vergangenheit, hatten als Gegner begonnen und als zwiespältige Freunde geendet. Seine Recherche und Information waren für meine Arbeit großenteils unerlässlich gewesen. Dann war er wiedergeborener Christ geworden und mir mit seinem Eifer auf die Nerven gegangen. Dann kam sein Zusammenbruch, durch Suff, Verlust der Familie und Aufgabe jeglichen Glaubens. Ich hatte eine schnapsbeseelte Sitzung mit ihm verbracht, in deren Verlauf wir Boilermakers, pints mit eingebauten Kurzen, und unzählige Fluppen verputzten. Es gelang mir nicht, mit seiner Verzweiflung Schritt zu halten. Ein paar Tage später nahm er sich einen stabilen Küchenstuhl, einen Strick und hängte sich auf.

Um meine Schuldgefühle noch zu steigern, hatte er mir einen Batzen Geld und die Polizistin hinterlassen. Die ich an jeder Wegbiegung zu verlieren trachtete. Hier war sie wieder. Sie setzte sich unbehaglich auf den Platz mir gegenüber, und ich bot an:

»Kann ich Ihnen was holen?«

Ich zeigte auf meinen Plastikbecher, fügte hinzu:

»Ich kann den Tee empfehlen, und er ist nicht billig.«

Ich habe nie geglaubt, dass Menschen tatsächlich hochnäsig sein können, aber sie schaffte es, sah aus, als hätte sie viel Übung damit, sagte:

»Ich trinke keinen Tee.«

»Manno, was für eine Überraschung. Wenn ich mich recht erinnere, ach, unsere gemeinsamen Kneipenbesuche, da hatten Sie einmal einen Orangensaft, und, jau, ich werde es nie vergessen, einmal sind Sie fast über die Stränge geschlagen und haben eine gepflegte Weißweinschorle verlötet.«

»Aber Sie, Mr Taylor, haben natürlich genug für uns alle getrunken.«

Da war wieder das alte Gefühl, der Drang, ihr eine zu scheuern, ich aber beschied mich:

»Ich bin vom Alk runter.«

»Oh … Und wie lange wird das vorhalten …? Diesmal …?«

Ich lehnte mich zurück, kramte nach meinen Lullen, und sie spie fast:

»Es wäre mir wirklich lieber, wenn Sie das lassen könnten.«

Ich steckte mir die Lulle an, sagte:

»Als wäre das auch nur einer Erwägung wert.«

Sie wedelte mit der Hand vor dem Gesicht, das international gebräuchliche Flaggensignal für den vergrämten Nichtraucher. Ich fragte:

»Fahren Sie nach Dublin?«

»Ja, Prozessbeobachtung. Der Polizeipräsident hat angeordnet, dass alle Dienstgrade die Prozesse am Obersten Gericht beobachten sollen, um mitzuerleben, wie Recht gesprochen wird.«

Ich konnte sehen, wie die Bürokraten mit diesem Geistesblitz ankamen, sagte:

»Mehr schlecht als recht, den Trip können Sie sich sparen. Bei der Knappheit an Uniformen auf der Straße ist es zwar lebenswichtig, dass Polizisten das Beobachten lernen, aber doch nicht im Gerichtssaal. Und? Sind Sie befördert worden?«

Eine Wolke schwebte an ihrem Gesicht vorbei, berührte ihre Augenwinkel. Sie sagte:

»Was denken Sie denn? Als würden die jemand mit meiner Orientierung befördern.«

Ich war verwirrt, sagte:

»Weil Sie eine Frau sind?«

Ihre Geduld war aufgebraucht, sie sagte:

»Wieso, wissen Sie das denn nicht?«

Wovon zum Teufel quatschte sie überhaupt? Ich hatte echt den Faden verloren, fragte:

»Was weiß ich nicht?«

»Dass ich lesbisch bin.«

Gott weiß es: Für einen sogenannten Ermittler bin ich in allen Bereichen, in denen wirklich mal was sonnenklar ist, der absolute Blindfisch. Es gibt Beispiele, wenngleich wenige, da ich ebenso kühne wie zutreffende Schlüsse gezogen habe. Aber sonst schien das Leben an mir vorüberzusegeln und mich im immerwährenden Dunklen zu lassen. Es gibt wahrscheinlich eine Million Variationen der korrekten Reaktion auf ein freimütig eingeräumtes »Ich bin lesbisch / Ich bin schwul«. Von Solidaritäts-, Empathie-, Unterstützungsgeräuschen abgesehen, gibt es sogar Äußerungsmöglichkeiten, die nicht nur Aufmunterung, sondern sogar Humor beinhalten. Mir gelang:

»Oh.«

Sie starrte mich an, und mir wurde die Bedeutung von »ein lastendes Schweigen« klar. Das wurde uns die nächsten fünf Minuten lang zuteil. Dann stand sie auf, sagte:

»Ich muss zurück zu meinem Platz. Margaret wird sich fragen, wo ich bleibe.«

War Margaret die hochbedeutsame Partnerin? Ich hatte nicht die Eier, sie zu fragen. Sie sah auf das Gepäcknetz über mir, kein Gepäck, sagte:

»Nur ein Tagestrip.«

Ich wollte sie loswerden, sagte:

»Ins Gefängnis.«

»Da gehören Sie auch hin.«

Und weg war sie.