5

Noble Entwhistle war der solideste und phantasieloseste Beamte, mit dem Lyle MacAuley je gearbeitet hatte. Er war derjenige, der von Tür zu Tür ging, die dreißigseitige Telefonliste abarbeitete, an Radarfallen wachte. Verlangte man plötzliche Eingebungen oder Stegreif-Verhöre, war er nicht besonders gut, doch suchte man nach methodischer Arbeit, suchte man Organisation, suchte man Höflichkeit gegenüber alten Damen, dann war Noble Entwhistle der richtige Mann.

Lyle hätte nie im Leben damit gerechnet, ausgerechnet ihn zusammengesunken im Schnee zu finden, mit verweintem, rotzverschmiertem Gesicht und unfähig, zu sprechen.

Noble hatte es drei Schritte aus der Küchentür von 398 Peekskill Road geschafft, ehe er laut schluchzend zusammengebrochen war. Er hatte seine Taschenlampe wieder in den Gürtel gesteckt, jedoch vergessen, sie abzuschalten, und nun flackerte der Lichtkegel im Rhythmus der Schluchzer auf und ab. Dicke Schneeflocken erglühten für Augenblicke und verschmolzen dann zu wachsenden Verwehungen am Boden.

Bei keinem der drei in der Auffahrt parkenden Streifenwagen brannte die Beleuchtung. Lyle hatte sie über Funk angewiesen, so unauffällig wie möglich zu kommen, nachdem Harlene, ihre Disponentin, ihm Bescheid gegeben hatte. Stattdessen hatte er die Tür des Windfangs weit offen stehen lassen. Warmes Licht strömte heraus. Eisige Luft fegte hinein.

»Jesus, Noble«, sagte er. »Versuch, dich zusammenzureißen.«

Noble schüttelte den Kopf. »Zusammenreißen?«, keuchte er. »Hast du … hast du sie gesehen? Ihr Gesicht ist einfach weg.«

Lyle, ein Schatten vor dem blendenden Licht aus dem Windfang und vom rasch fallenden Schnee verschleiert, wusste, dass er für seinen Officer nur ein verschwommener Umriss war. Gott sei Dank. Seine Selbstbeherrschung hing am seidenen Faden. Ein falsches Wort, eine falsche Bewegung, und er würde sie ebenso verlieren wie Noble. Armer Hund. Er kontrollierte seine Stimme, um gelassen zu klingen. »Ich habe sie gesehen.« Abgeschlachtet wie ein Tier. »Es wird ihr nicht helfen, wenn du jetzt zusammenbrichst.«

Er suchte die Straße ab. Ein einsames Auto fuhr auf sie zu, wurde langsamer, fuhr weiter. Gut. Er hörte das gedämpfte Knirschen von Stiefeln durch Schichten von lockerem und festem Schnee. »Was hast du, Eric?«

»Ich habe die Aussage der Freundin aufgenommen.« Officer Eric McCrea tauchte aus der Dunkelheit auf, während er auf das lange Rechteck aus Licht zulief. »Soll ich sie wirklich nicht zum Revier fahren und das Ganze auf Video aufzeichnen?«

»Nein.«

Eric beugte sich zu ihm, als wollte er den Schatten durchdringen, den der Schirm von Lyles Kappe warf. »Das ist der falsche Zeitpunkt für Abkürzungen. Wir werden den Scheißkerl kriegen, der das getan hat, und wenn es so weit ist, wollen wir nicht, dass er freikommt, weil wir Beweise nur unzureichend gesichert haben.«

Lyle holte tief Luft, um McCrea zusammenzuscheißen, biss dann aber die Zähne zusammen und ließ es sein. Es war nicht seine Schuld. Er war mit den Nerven am Ende. Das waren sie alle. Und Lyle würde nicht in der Lage sein, das allein durchzuziehen. Er würde ein oder zwei von den anderen brauchen, die ihm den Rücken deckten. Zurückhaltung – das war das Gebot der Stunde.

»Nun?«, forderte Eric.

Grelles Licht durchbrach ihr Starren. Ein weiteres Fahrzeug schob sich die Kurve der Auffahrt hoch, die Scheinwerfer tanzten zwischen den weißen Wellen.

»Scheiße. Das ist Kevin Flynns Truck.« Lyle funkelte McCrea an. »Hast du ihn angerufen?«

»Nein. Und wennschon? Was, zum Teufel, geht hier ab, Lyle?«

Der fast neue Aztek sah aus wie das, was er war: der stolze Besitz eines Jungen, der seinen Anfängerführerschein vor sieben Jahren gemacht hatte. Er kam hinter McCreas schräg stehendem Streifenwagen rumpelnd zum Stehen, und Flynn sprang heraus. Kevin, der jüngste Officer der Polizei von Millers Kill, bekam allmählich genug Fleisch auf die Rippen, um seine Ähnlichkeit mit einem riesigen Hundebaby zu verlieren. In dem Versuch, älter als sechzehn zu wirken, ließ er sich seit kurzem ein DJ-Bärtchen wachsen, ein möchtegern-cooles Quadrat Gesichtsbehaarung unterhalb seiner Unterlippe. Unglücklicherweise besaß Flynns Gesichtsbehaarung dieselbe Farbe wie die auf seinem Kopf, und dadurch sah er – zumindest in Lyles alten und uncoolen Augen – aus, als hätte er eine riesige, pelzige Sommersprosse auf dem Kinn.

»Harlene hat mich angerufen. Auf dem Handy!« Kevin trampelte durch den Schnee, seine Miene offen und eifrig. »Ich habe ihr gesagt, dass ich heute frei habe, aber sie meinte, ich sollte herkommen. Was wollen wir denn beim Haus vom Chief?« Endlich war er nahe genug, um Lyles und Erics Gesichtsausdruck zu erkennen. Er runzelte die Stirn. »Jungs? Was ist denn los?«

Harlene hatte ihn angerufen. Lyle sank das Herz. Himmel, vermutlich trommelte sie alle Männer der Abteilung zusammen. Wie, zum Teufel, sollte er jetzt vorgehen?

Hinter ihm rappelte sich Noble auf, ein schmutziger, tränenüberströmter Bär, der aus seiner Höhle kroch. Flynn erkannte ihn. »Noble?« Er wandte sich an Lyle. Er sah verängstigt aus. »Ist es … ist es der Chief?«

»Nein.«

Die einsilbige Antwort reichte nicht, um die Furcht von Kevins Gesicht zu vertreiben. Lyle atmete tief ein und versuchte es noch einmal. »Dem Chief geht’s gut, Kevin. Wir versuchen … einen Tatort zu sichern, ohne zu viel Aufmerksamkeit auf uns zu lenken.« Aus dem Augenwinkel sah er, wie Eric der Mund aufklappte. »Ich habe eine Aufgabe für dich. Nimm den Truck und stell dich auf die Kreuzung von Peekskill und River Road. Hast du dein Blaulicht dabei?«

Kevin nickte.

»Gut. Ich habe die Spurensicherung der State Police angerufen. Sie schicken einen Wagen und ein paar Techniker. Ich will, dass du nach ihnen Ausschau hältst. Du weißt ja, wie das mit Auswärtigen auf diesen Landstraßen sein kann. Schick sie zu mir hoch. Schaffst du das?«

Kevin nickte erneut. Seine Miene entspannte sich. Der unterste Mann in der Pyramide: Das war vertrautes Terrain.

»Wenn du was brauchst, ruf Harlene über Handy an. Benutz nicht das Funkgerät.«

»In meinem Aztek hab ich noch gar keines.«

»Okay, los.«

Flynn lief durch den Schnee, schon ganz bei seiner vor ihm liegenden Aufgabe.

»Das ist der größte Scheiß, den ich je gehört habe. Alle bei Troop G würden den Weg hier draußen sogar im Dunkeln finden, und die Hälfte von ihnen weiß mit Sicherheit, wo der Chief wohnt.«

Lyle nickte. »Deshalb habe ich ja auch Troop D gerufen.«

McCrea starrte ihn an. »Bist du wahnsinnig? Die sitzen unten in Amsterdam. Ihre Spurensicherung braucht eine Stunde, bis sie hier ist.« Er rieb sich mit seiner im Handschuh steckenden Hand über das Gesicht, wischte die Schneeflocken fort, die sich in Wimpern und Bart niedergelassen hatten.

»Eric«, sagte Lyle. »Stop. Und denk einen Augenblick nach. Vergiss, wer alles involviert ist. Bau das Ganze wie einen Fall häuslicher Gewalt auf.«

Erics Lippen zuckten verächtlich. »Häusliche Gewalt?«

»Tu mir einfach den Gefallen.«

»Okay.« McCrea schloss einen Augenblick die Augen. »Eine Frau wurde tot in ihrem Haus aufgefunden. Keinerlei Anzeichen für gewaltsames Eindringen. Soweit wir wissen, gibt es in der Vorgeschichte keine Drogen. Keine Verhaftungen. Keine Beziehungen zu verdächtigen Subjekten.«

»Das Opfer hat sich erst vor kurzem von ihrem Ehemann getrennt«, fügte Lyle hinzu. »Der Mann verließ das gemeinsame Haus unter Protest. Der Mann hat Zugang zu Waffen und ist in ihrer Verwendung geübt.«

Eric starrte ihn an. »Du willst doch nicht … Jesus, du glaubst doch nicht etwa, der Chief hätte was damit zu tun?«

»Pst. Leise.« Gott sei Dank, diesen Teil hatte er bereits geprobt. Er zögerte nicht. »Natürlich glaube ich nicht, dass der Chief was damit zu tun hat. Aber wenn du ihn nicht kennen würdest, wenn du niemals mit ihm zusammen ermittelt hättest, wen würdest du dann als Hauptverdächtigen behandeln?«

Erics Mund arbeitete, ehe er die Antwort herauspresste. »Den Ehemann des Opfers.«

»Und falls man uns diese Ermittlung wegnimmt und der State Police übergibt, was glaubst du, auf wen die dann kommen?«

Eric schüttelte den Kopf. »Aber …«

»Du glaubst nicht, dass wir diesen Fall ohne ihre Hilfe knacken können?«

»Nein, aber …«

»Dann will ich dir mal erzählen, was die Staties tun werden. Sie nageln den Chief fest und ermitteln nur noch, um zu beweisen, dass sie recht haben. Wenn wir nicht wollen, dass das passiert, müssen wir die Sache so leise und geräuschlos wie möglich handhaben. Wir müssen sämtliche Informationen kontrollieren, und wir müssen hier und jetzt damit anfangen. Bist du dabei?«

Eric starrte hinunter auf den Schnee unter ihren Stiefeln, festgetreten von allen, die den Eingangsbereich durchquert hatten und jetzt dazugehörten. »Ich muss dir das sagen, Lyle, ich bin jetzt seit zehn Jahren Polizist und davor war ich vier bei der Militärpolizei. Und bei dieser Sache … ich hab einfach ein schlechtes Gefühl.«

»Allmächtiger, glaubst du, mir ginge es besser? Mir ist schon ganz schlecht. Wenn du meinst, es wäre besser, dass die State Police übernimmt, bitte, überzeug mich. Ich wäre begeistert, wenn ich falsch läge.«

»Du liegst nicht falsch.« Eric schaute blinzelnd zum Nachbarhaus, eine gute Viertelmeile weiter an der Kammlinie. In den Fenstern war Licht aufgeflammt. Lyle glaubte, einen Umriss zu erkennen, der sie beobachtete. »Okay«, sagte McCrea. »Ich bin dabei.«

»Gut. Ich möchte, dass du die Tatortsicherung leitest. Du weißt, dass die Spurensicherung von Troop D kommt.« Ein klagendes Jaulen stieg von irgendwo hinter der Scheune zum Himmel auf. »Um Gottes willen, fang ihre Katze ein und bring sie ins Tierheim.«

»Mach ich.«

»Ich fahre zurück zum Revier. Wenn ich in der Stadt bin, rufe ich den Gerichtsmediziner an.«

»Bist du sicher, dass du damit so lange warten solltest?«

»Ja. Kontrolle. Das muss unser Motto sein. Kontrolle. Ich muss Harlene anweisen, die Anrufe einzustellen.« Sein Magen brannte in einer Mischung aus Säure, Angst und Bedauern. »Und ich muss es dem Chief sagen.«

Wer Mit Schuld Beladen Ist
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