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Meg Tracey zählte nicht zu den Frauen, die ständig ein Auge auf ihre Freunde haben müssen. Sie genoss ihre eigene Ungestörtheit zu sehr, um sich anderen aufzudrängen, und zitierte regelmäßig die Wendung: »Tu, was du willst, solange es niemandem schadet« aus einem Buch über Wicca, das sie beim jährlichen Bücherflohmarkt in der Crandall Library für einen Dollar erstanden hatte.
Sie betrachtete sich gern als Neuheidin und veranstaltete jedes Jahr eine Wintersonnenwendfeier mit jeder Menge Fackeln und Grünzeug aus der Natur und Grog, aber sie war nicht interessiert genug, um sich intensiver mit dem philosophischen Unterbau zu beschäftigen. Ihr genügte es völlig, dass sich ihre katholische Familie furchtbar darüber aufregte (sie war eine geborene Mary Margaret Cathwright) und dass es sie von der großen Mehrheit ihrer Nachbarn in Millers Kill unterschied, eine Stadt, die sie stets mit »Drei Ampeln jenseits von Nirgendwo« beschrieb.
Es war der gemeinsame Abscheu vor der engen kleinen Stadt, in die ihre Ehemänner sie verschleppt hatten, der Meg und Linda zueinanderführte. Oberflächlich betrachtet hatten sie nichts gemeinsam. Meg war Vollzeitmutter von drei Kindern, während die kinderlose Linda gerade eifrig begann, ein eigenes Geschäft aufzubauen. Megs Mann war ein ehemaliger Friedensaktivist, der am Skidmore College unterrichtete; Lindas Mann hatte sich nach fünfundzwanzig Jahren bei der Armee in den »Ruhestand« versetzen lassen, um die Leitung der Polizei von Millers Kill zu übernehmen. Linda war eine pingelige Hausfrau, ihr zweihundert Jahre altes Farmhaus eine Ausstellungsfläche ihrer Fähigkeiten als Innendekorateurin; Megs Haus war, ebenso wie sie, unordentlich und eklektisch, voll von Kindern, in Mitleidenschaft gezogener Möbel und Hundehaaren. Linda schirmte ihr Haus ab, lud nur wenige Menschen in ihr Allerheiligstes ein; in Megs Wohnzimmer lümmelten sich fortwährend männliche Teenager; ihre Küche hallte von Mädchengekicher wider.
Bei einer Haushaltsauflösung in Glens Falls hörte Meg (die gerade Adirondack-Stühle aus Zedernholz unter die Lupe nahm), wie Linda (die die handgeschmiedeten eisernen Dreifüße musterte) einen Witz über Millers Kill riss (die Pointe drehte sich um Milchbauern und die Besamung von Kühen). Meg stellte sich ihr vor. Ihr Gespräch führte zu einem gemeinsamen Mittagessen, das sich mit einer Einladung zu Meg zu Erdbeer-Daiquiris fortsetzte und in einer spontanen Einladung zum Abendessen endete, da Lindas Ehemann Überstunden machte.
Da Lindas Ehemann regelmäßig Überstunden machte, wurden die gemeinsamen Abendessen zu einer mehr oder weniger ständigen Einrichtung, bis Lindas Dekorationsgeschäft ernsthaft Fahrt aufnahm. Trotzdem hielt Linda weiterhin den Kontakt zu Meg aufrecht, sie telefonierten beinah jeden Tag, auch wenn sie sich kaum noch trafen. Insbesondere seit ihr Mann die Bombe hatte platzen lassen. Das war der Grund, warum sich Meg volle achtundvierzig Stunden nach ihrem letzten Gespräch Sorgen machte.
»Ich habe seit Samstagnachmittag nichts mehr von ihr gehört«, sagte sie in das schnurlose Telefon, das unter ihrem Kinn klemmte.
»Vielleicht ist sie im Algonquin Hotel. Hast du nicht erzählt, sie würde dort viel Zeit bei der Renovierung verbringen?«
»Nicht das gesamte Wochenende.«
»Schätzchen, die Frau hat ein eigenes Leben. Lass sie mal ein bisschen in Ruhe.« Im Hintergrund hörte sie die Geräusche von Schritten und das Klappern von Aktenrollwagen. Dozenten für Anthropologie bekamen keine großen, schallisolierten Büros. »Vielleicht ist sie Samstagabend ausgegangen, hat einen jungen Kerl aufgerissen und hält ihn seitdem als Geisel.«
»Hoffentlich. Das würde ich jedenfalls tun. Vergiss das lieber nicht.«
Er schnaubte. »Das kann ich mir vorstellen.«
»Glaub ja nicht, du würdest damit durchkommen, irgendwelchen attraktiven jungen Dingern, die bei dir auf dem Campus herumspringen, Privatstunden zu geben.«
»Ich bitte dich. Ich hänge doch viel zu sehr an meiner Ausstattung, um sie aufs Spiel zu setzen.« Sie konnte Deirdre hören, die zur Haustür hereinpolterte. »Mo-om! Ich bin zu Hause!«
Meg senkte die Stimme. »Komm heute doch früher nach Hause, dann zeig ich dir, wie sehr ich deine Ausstattung schätze.«
Jack lachte. »Ich fange noch an, die Männer deiner Freundin zu bezahlen, damit sie sich danebenbenehmen. Ich sollte Russ Van Alstyne aufsuchen und ihm einen dicken feuchten Schmatz geben.«
»Was? Was?«
»Seit er Linda seine Affäre gebeichtet hat, bist du eine wahre Tigerin. Roarr.«
Meg kicherte. »Nur um dich daran zu erinnern, wie gut du es hast.«
»Mo-om! Du musst mich zur Klavierstunde fahren!«
»Ich muss los«, seufzte Meg. »Deirdre kläfft. Merk dir, wo wir stehengeblieben sind.«
»Schneller, Pussycat, schneller, schneller!«
Sie hörte Jacks Lachen, als sie auflegte. Er hat recht, dachte sie, während sie ihren Mantel und die Autoschlüssel suchte. Sie hatte ihn seit dem Morgen, an dem Linda ihr, abwechselnd wütend und ängstlich, von der Untreue ihres Mannes erzählt hatte, scharf im Auge behalten. Nicht, dass Meg glaubte, sie hätte etwas zu befürchten. Andererseits war auch Linda nicht davon ausgegangen, dass sie etwas zu befürchten hatte.
Trotz des stetig fallenden Schnees konzentrierte sich Meg während der Fahrt zur Klavierstunde nur halb auf die Straße. Deirdre auf dem Rücksitz, den MP3-Player eingestöpselt, sagte bis auf ein hastiges »Bis später, Mom«, untermalt vom Schlagen der Autotür, kein Wort.
Jetzt musste sie eine Stunde totschlagen. Meg versuchte noch einmal, Linda über ihr Handy zu erreichen. Es klingelte und klingelte, bis schließlich die Aufzeichnung einer männlichen Stimme erklang.
»Sie sind mit dem Anschluss von Linda und Russ Van Alstyne verbunden. Hinterlassen Sie eine Nachricht.« Meg unterbrach die Verbindung. Ohne bewusst darüber nachzudenken, schaltete sie die Scheinwerfer ein und bog links von der Zufahrt des Klavierlehrers in Richtung der Van Alstynes ab.
Linda wohnte an einer alten Landstraße auf halber Strecke zwischen Millers Kill und Cossayuharie, an der, weit voneinander entfernt, Häuser mit einer Viertelmeile langen Zufahrten standen, die im 19. Jahrhundert noch Farmen gewesen waren. Ein gutes Geschäft für Megs Sohn Quinn, der seinen uralten Pick-up mit einer Schneeschaufel aufgerüstet hatte, um ein bisschen dazuzuverdienen, aber für Megs Geschmack viel zu weit abgelegen.
Das Haus der Van Alstynes stand zurückgesetzt auf einer baumlosen Erhebung, die ihnen im Sommer eine hinreißende Aussicht bescherte, doch im Winter einsam und windumtost war. Die lange, lange Zufahrt war in letzter Zeit nicht geräumt worden. Meg fuhr so weit hinauf, wie ihr Saab es zuließ, folgte den Spurrillen, die das letzte Fahrzeug hinterlassen hatte, um den Hügel zu meistern, aber auf halber Höhe wurde sie immer langsamer, geriet ins Schleudern und rutschte mehrere Meter zurück. Ihre Niederlage eingestehend, zog sie die Handbremse und stieg aus, um den Rest der Strecke zu Fuß zu laufen.
Trotz der einsetzenden Dämmerung sah Meg kein Licht. Andererseits müsste sie um das Haus herum zur Westseite gehen, um das Licht in Lindas Arbeitszimmer im ersten Stock erkennen zu können. Sie klopfte an die Tür des Windfangs. Keine Reaktion. Vielleicht war Linda nicht zu Hause? Meg überquerte die Zufahrt und spähte durch das Scheunenfenster. Nein, dort stand ihr Kombi.
Erst als sie sich wieder dem Haus zuwandte, bemerkte sie den seltsamen Fleck im Schnee neben dem Eingang. Erneut überquerte sie die Zufahrt, um ihn näher zu untersuchen. Der fallende Schnee begann ihn zuzudecken, doch sie konnte erkennen, dass er rosa und schmierig war, als hätte jemand einen Löffel Spaghettisoße in den Schnee geschüttet und heftig umgerührt. Bei diesem Anblick spürte sie, wie etwas im Hintergrund ihres Verstandes erstarrte, und plötzlich registrierte sie den Rhythmus ihres Herzschlags, der gegen ihre Haut pulste.
Sie konnte sich nicht vorstellen, was das sein mochte. Und sie wollte absolut nicht darüber nachdenken.
Beinah wäre sie zu ihrem Wagen zurückgelaufen. Sie musste bald aufbrechen, um Deirdre rechtzeitig abzuholen. Sie untersuchte die Haustür, die Granitstufe davor, den makellosen Bronzegriff. Alles wie immer. Nichts Ungewöhnliches. Sie packte den Knauf und drehte daran.
Der Windfang war dunkel und vollgestopft. »Linda?«, rief sie. Ein Krachen und Rumpeln, als würde ein unterirdisches Biest hungrig erwachen, und Meg schrak zusammen, bis ihr bewusst wurde, dass es nur die Heizung war, die ansprang. »Ach, um Gottes willen«, schimpfte sie, weil ihre Einbildungskraft mit ihr durchging.
Sie trat ihre Stiefel an der Matte ab und öffnete die Tür zur Küche.
Sie sah, was sich dort auf dem Boden befand.
Einen Augenblick lang ergab nichts einen Sinn; dann traf die Realität des Anblicks sie mit voller Wucht, und in ihre Lungen und ihre Kehle strömte ein Schrei, der ihr die Stimme …
… und sie hörte ein Knarren.
Über der Küche.
O mein Gott, er ist noch hier, er ist noch hier, wer immer das getan hat, er ist noch hier.
Meg bewegte sich rückwärts durch die Tür des Windfangs, rannte, schlitterte, taumelte durch den Schnee, fing sich an der Haube ihres Wagens, warf sich hinter das Steuer. Sie rammte den Schlüssel so heftig in die Zündung, dass der Anlasser knirschte, riss den Rückwärtsgang rein und schoss die Zufahrt hinunter, einen Arm über der Rückenlehne, mit der anderen Hand den Wagen gerade so davon abhaltend, gegen die Schneewehen zu krachen, die den schmalen Weg säumten. Sie stieß, ohne auf den Verkehr zu achten, rückwärts auf die Straße und stieg auf die Bremse, blockierte beide Fahrspuren.
Sie starrte die Zufahrt hoch. Nichts regte sich. In der offenen Tür zum Windfang erschien weder eine Hand noch ein Gesicht. Dann schoss mit einer Plötzlichkeit, die sie zusammenfahren ließ, eine rotgestreifte Katze durch die offene Tür über den Schnee zur Scheune.
Meg ließ den Kopf auf das Steuer sinken. Die Katze. Sie hatte die Katze vergessen. Linda war noch an dem Tag, an dem sie ihren Mann an die Luft gesetzt hatte, zum Tierheim gefahren. Sie hatte Meg erzählt, dass seine Allergien sie seit Jahren daran hinderten, sich eine Katze zuzulegen, sie sich aber jetzt keine Minute mehr aufhalten ließe.
Als Meg nach dem Handy auf dem Beifahrersitz griff, zitterte ihr Arm. Es war beinah zu schwer für sie. Sie wählte den Notruf.
»Notrufzentrale. Bitte nennen Sie Ihren Namen und die Art des Notfalls.«
»Ich bin …« Meg holte tief Luft. »Ich heiße Meg Tracey. Es hat einen – jemand wurde getötet.«
»Wo sind Sie, Ma’am? Sind Sie in Sicherheit?«
War sie in Sicherheit? O Gott. Meg hieb auf die Türverriegelung.
»Ma’am? Alles in Ordnung?«
»Ja. Ja, ich glaube schon. Ich glaube, ich bin in Sicherheit. Ich bin nicht im Haus. Ich meine, ich war da, aber jetzt bin ich in meinem Auto. Auf der anderen Straßenseite. Bitte, Sie müssen jemanden schicken.«
Die Stimme der Disponentin war gleichzeitig gelassen und voller Autorität. »Ich alarmiere bereits Polizei und Rettungsdienst, Ma’am. Sagen Sie mir, wo Sie sind.«
»398 Peekskill Road.«
Ein Rauschen in der Leitung. Dann wieder die Disponentin, dieses Mal beunruhigt. »Sagten Sie 398 Peekskill Road?«
»Ja! Um Gottes willen, beeilen Sie sich.«
»Bleiben Sie, wo Sie sind, Ma’am. Der erste Wagen wird in fünf Minuten eintreffen. Gehen Sie nicht zurück ins Haus.« Die Disponentin klang jetzt zittrig wie jemand, der in Zeiten der Not ein abgedroschenes Gebet aufsagt.
»Das werde ich nicht. Ich …«
Die Disponentin legte auf. Meg starrte das Handy an. Sollten sie nicht die Verbindung halten, bis jemand bei ihr eintraf? Sie saß in ihrem warmen Auto und zitterte. Sie schlang die Arme um sich und richtete sich darauf ein, zu warten, bis jemand sie aus diesem Alptraum erlöste.