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Demut. Das war die Lektion, die das Universum ihm erteilen wollte, entschied Russ. Und natürlich die Wertschätzung, die er Ehe und Frau in erster Linie erweisen sollte. Er würde in seinem ganzen Leben nie das Gefühl vergessen, das ihn erfasst hatte, als er von Lindas Tod erfuhr, und auch nicht die Erleichterung, als Sergeant Morin sie durch das Prüfen der Fingerabdrücke wieder zum Leben erweckte. Fast reichte es, aber nur fast, um wieder an Gott zu glauben.
Und an dieser Stelle kam die Demut ins Spiel. Er hatte den Vormittag über Lindas letzte Wirkungsstätten besucht: ein Ferienhaus für den Skiurlaub, ein Apartment für eine Schwiegermutter, ein reizendes Farmhaus, das verzweifelt versuchte, sich als Herrensitz zu geben, mit Vorhängen, die in reichen Falten und Draperien von der zu niedrigen Decke fielen.
Jedes Mal hatte er erklären müssen, dass ihm seine Frau abhandengekommen war. Dass sie ihn ohne ein Wort verlassen und sich seit fast einer Woche nicht mehr gemeldet hatte. Hatte man sie einen Mann erwähnen hören oder sie mit einer anderen Person als ihren freiberuflichen Näherinnen gesehen?
Demut. Clare würde vermutlich sagen, die täte ihm gut. Er hätte das Ganze mit mehr Anstand ertragen, wenn er etwas anderes geerntet hätte als mitleidige, peinlich berührte Blicke und »Tut mir leid, ich kann Ihnen leider nicht helfen«.
Er umklammerte das Lenkrad ein wenig fester und schaltete die Scheibenwischer an, um den Schnee von der Windschutzscheibe zu entfernen. Mittag. Die Wettervorhersage hatte ins Schwarze getroffen. Er sollte Harlene anrufen, sich vergewissern, dass sie Duane und Tim, die Teilzeitkräfte, in Alarmbereitschaft versetzt hatte. Falls die Wettervorhersage weiterhin recht behielt, stand Tiefschnee mit Whiteout bevor. Außerdem sollte er …
Er rief sich zur Ordnung. Er konnte, verdammt noch mal, nichts tun. Er war Zivilist, bis Jensen beschloss, ihm seine Dienstmarke zurückzugeben. Es war an Lyle, dafür zu sorgen, dass das Department auf den Jahrhundertblizzard oder Monstersturm oder was auch immer sich die Fernsehsender als Bezeichnung dafür ausdachten, vorbereitet war. Sein Job war es, die letzte Adresse zu erreichen. Lindas letzten Arbeitsplatz. Das Algonquin Waters Spa und Resort. Seine Erwartungen waren nicht besonders hochgesteckt. Es schien, als passierte jedes Mal, wenn er sich dem Ort näherte, eine Katastrophe. In dem Sommer, in dem es erbaut worden war, war er von dessen Landeplatz mit einem Helikopter gestartet – sein erster Flug seit mehr als zehn Jahren – und prompt abgestürzt. Im letzten Herbst hatte er dort das schlimmste Dinner seiner Lebens durchlitten, neben ihm seine Frau und gegenüber am Tisch Clare. Er hatte immer noch Verdauungsstörungen deswegen. Als der Ballsaal und der größte Teil des Erdgeschosses in Flammen aufgingen, war es eine Art Antiklimax gewesen.
Er wusste, was er tat, indem er seine vergangenen schlechten Erfahrungen mit dem Algonquin rekapitulierte. Er vermied es, darüber nachzudenken, was er machen sollte, wenn er keine Spur von Linda entdeckte. Er verfügte über keine anderen Anhaltspunkte. Er hatte nichts. Und der Gedanke, in sein eiskaltes Haus mit dem blutverschmierten Küchenboden und den Geistern verschwundener Identitäten zurückzukehren …
Er schüttelte den Kopf, konzentrierte sich auf die Straße. Der zum Hotel führende Privatweg war fast trocken, die überhängenden Zweige der Kiefern schützten ihn vor dem Schnee. Nach der Bergstraße mündete der Weg in einen großen Parkplatz, an dessen anderer Seite sich der weitläufige Portikus und die schneebedeckten, ummauerten Gärten befanden. Die Anzahl der an der geschwungenen Auffahrt parkenden Geländewagen und Trucks überraschte ihn. Das Algonquin war zwar prinzipiell das ganze Jahr geöffnet, sollte jedoch eigentlich wegen Renovierungsarbeiten bis zum Frühling geschlossen sein.
Die Antwort fand Russ, als er neben einem großen Ford 350 einparkte. Auf dessen Seite stand ELEKTRIKER DONALDSON. Bauarbeiter. Er stieg aus und setzte seine Mütze auf, um sich gegen den Schnee zu schützen. Das Management musste es verdammt eilig haben, wenn an solch einem Tag gearbeitet wurde. Vielleicht würde das Hotel die Arbeiter beherbergen, falls sie eingeschneit wurden?
Er trat durch den Eingang auf eine Plastikplane. Der hinreißende Holzboden war von Sägemehl und Bauschutt bedeckt, ebenso wie die wenigen, mit Stoff verhüllten Möbel, die noch herumstanden. Die zwei Stockwerke hohe Felsmauer am anderen Ende der Lobby war nach wie vor rußverschmiert und die Eingänge zum Ballsaal mit staubigen Planen verhängt. Keine Spur von irgendwelchen Arbeitern oder Hotelangestellten, doch hinter dem leinenverhüllten Empfangstresen schimmerte Licht durch eine halb geöffnete Tür.
Er trat hinter den Empfang. »Hallo?«, rief er. »Ist jemand da?«
»Hm.« Er hörte, wie etwas auf einen Schreibtisch fiel. Im Türrahmen erschien eine schlanke Frau in Jeans und Rollkragenpullover, die ihren Mund mit einer Papierserviette abtupfte. »Entschuldigen Sie«, sagte sie mit vollem Mund. Sie winkte ihn ins Büro. »Mittagessen.«
Er hob die Hand. »Keine Ursache. Ich hätte vermutlich anrufen sollen, ehe ich losgefahren bin.«
Sie kaute und schluckte sichtlich erleichtert. »Ich fürchte, wir haben geschlossen. Wie Sie sehen, stecken wir mitten in einer größeren Umbaumaßnahme.«
»Ich bin nicht wegen eines Zimmers hier.« Er öffnete den Reißverschluss seines Parkas.
»Nicht?« Sie nahm einen Teller, auf dem Mandarinenschalen und der Rest eines Sandwiches lagen, und stellte ihn auf ein Buffet. »Bitte«, sagte sie mit einer Geste zu einem der beiden Sessel vor dem Schreibtisch. Sie setzte sich ihm gegenüber hin. »Ich bin Barbara LeBlanc«, stellte sie sich vor. »Die Geschäftsführerin.«
»Ich weiß«, erwiderte er. »Wir haben uns schon mal getroffen.«
Sie steckte eine Strähne ihres goldbraunen Haares hinter das Ohr und musterte ihn gründlicher. Ihre Miene hellte sich auf, als sie ihn wiedererkannte. »Der Polizeichef! Sie waren in der Brandnacht hier. Wie schön, Sie zu sehen …«
»Russ Van Alstyne«, soufflierte er. »Sie haben ein gutes Gedächtnis.«
»Im Gastgewerbe ist das ein Muss. Wir arbeiten mit einer Innendekorateurin namens Linda Van Alstyne. Sind Sie verwandt?«
»Sie ist meine Frau.«
Barbara LeBlanc lächelte. »Sie leistet wunderbare Arbeit. Sie müssen sehr stolz auf sie sein.«
Ms. LeBlanc erinnerte sich zwar an Namen, war jedoch offensichtlich nicht auf dem Laufenden. »Bin ich. Stolz.« Immerhin blieb es ihm erspart, allen, die es noch nicht wussten, mitzuteilen, dass Linda tot war. Gott sei Dank.
Sie faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. »Was kann ich für Sie tun?«
Er spürte, wie er errötete, genau wie die letzten drei Male, als er seinen Text aufgesagt hatte. »Es geht um Linda, meine Frau. Sie hat unser Haus am letzten Samstag oder Sonntag ohne ein Wort verlassen, und seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört. Ich hoffe, Sie haben eine Idee, wohin sie verschwunden sein könnte, da sie ja noch dabei ist, die Vorhänge und alles zu erneuern, die bei dem Brand zerstört wurden.«
Barbara LeBlancs freundliche Miene blieb unverändert, doch sie spiegelte sich nicht in ihren Augen, die undurchschaubar geworden waren. »Am Samstag oder Sonntag? Sie wissen nicht genau, wann?«
Er seufzte. »Wir haben uns vorübergehend getrennt. In den letzten Wochen habe ich bei meiner Mutter gewohnt.« So peinlich es auch war, er ging doch davon aus, dass er weniger wie ein gewalttätiger Ehemann klang, der versuchte, seine entlaufene Frau wieder einzufangen, wenn er zugab, wieder bei seiner Mutter zu wohnen.
LeBlanc schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid. Natürlich habe ich Ihre Frau getroffen, und wir haben über die Bezahlung für Materialien und solche Dinge geredet, aber ich habe keine Ahnung, wohin sie sich gewandt haben könnte.«
Sie hätte eine gute Pokerspielerin abgegeben. Er hatte keine Ahnung, ob sie ihm die Wahrheit sagte oder log.
»Gibt es hier jemanden, mit dem sie gearbeitet hat? Abgesehen von den Näherinnen?« Die drei Frauen, die für Linda nähten, hatte er bereits angerufen.
»Nun, da wäre natürlich Mr. Opperman, der Besitzer. Er trifft alle Design-Entscheidungen. Und ich glaube, ein oder zwei Leute von Rays Trupp haben ihr bei schwereren Arbeiten geholfen. Installationen, die sie nicht allein bewerkstelligen konnte.«
Es sah allmählich so aus, als käme er nicht hier heraus, ohne mit Opperman zu sprechen. Eine weitere Übung in Demut. »Kann ich mit dem Bauleiter reden? Und haben Sie eine Nummer, unter der ich Mr. Opperman erreichen kann?«
»Er will heute Nachmittag zurück sein«, sagte Barbara.
»Der Bauleiter?«
»Mr. Opperman.«
»Hier?«, sagte er. »Ich dachte, die Geschäfte würden von Baltimore aus geführt.«
»Er fand es … praktischer, während der Umbaumaßnahmen hier zu wohnen. Er war ein paar Tage in New York. Er wollte heute hier rauskommen, aber ich weiß nicht, ob er es wegen des aufziehenden Sturmes schaffen wird.«
Ein paar Tage weg? O Gott, konnte es so einfach sein? »War er allein in New York? Könnte Linda ihn begleitet haben?«
Jetzt erkannte er, was ihr Blick verborgen hatte. Mitleid. »Soweit ich weiß, war er allein. Er hatte mehrere Termine mit Reiseagenturen, wegen der Werbung für das Algonquin. Ich kann nicht für seinen Feierabend bürgen, doch er hat sich jeden Tag bei mir gemeldet, entweder per Telefon oder per Fax.«
»Aber Sie sind nicht sicher, oder? Können Sie es nicht irgendwie herausfinden? Ob sie dort ist?«
Dich hat man wirklich zurückgelassen wie einen dreibeinigen Hund, sagte ihre Miene. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und senkte den Kopf. Russ kauerte buchstäblich auf der Sesselkante und wagte kaum, zu atmen, aus Angst, sie dadurch in die falsche Richtung zu treiben. Komm schon, komm.
»Ich kann es ja mal versuchen.« Sie stand auf und ging auf die andere Seite des Schreibtischs. Sie nahm den Hörer ab und tippte eine Kurzwahl ein.
»Hallo?«, sagte sie. »Hier ist Barbara LeBlanc vom Algonquin Waters Spa und Resort. Könnte ich bitte Mr. Sacramone sprechen?« Eine längeres Schweigen. Dann: »Sehr gut, danke. Und Ihnen?« Sie lächelte. »Sie Schmeichler. Passen Sie nur auf, irgendwann demnächst nehme ich Sie beim Wort.« Der schmeichelnde Mr. Sacramone machte noch eine halbe Minute oder so weiter. »Hat er?« Sie sah Russ an. »Er sagte, er würde versuchen, heute zurückzukommen. Wenn das Wetter zu schlecht wird, kann er ja auf jeden Fall in Albany bleiben.« Schweigen. Sie lachte. »Ja, sicher, ich werde bestimmt diejenige sein, die mitten im Schneesturm versucht, ein Zimmer für ihn zu buchen.«
Ein weiterer unhörbarer Beitrag von Mr. Sacramone. »Das ist mehr oder weniger der Grund, aus dem ich anrufe«, erwiderte Barbara. »Mr. Opperman bat mich, Blumen für die Dame zu bestellen, mit der er fort war. Er möchte, dass sie dort sind, wenn sie nach Hause kommt, verstehen Sie? Aber ich habe ihre Adresse nicht. Sie könnten sie mir nicht zufällig geben? Dann würde ich meinen Ruf rechtfertigen, Wunder wirken zu können.«
Russ’ Magen verkrampfte sich. Barbaras Augenbrauen wanderten nach oben. »Nein? Hm. Dann muss ich das verwechselt haben. Ich werde ihn danach fragen, wenn er sich das nächste Mal meldet.« Sie blickte Russ an und schüttelte den Kopf. »Ihnen auch, Emilio. Ciao, Bello.« Sie legte auf.
»Der Concierge in Mr. Oppermans Hotel sagt, dass er während seines gesamten Aufenthalts allein war. Was mich nicht überrascht. Mr. Opperman geht im Geschäft auf.«
Ihm war genug Sinn für Humor geblieben, um sich über die Tatsache zu amüsieren, dass er niedergeschmettert war, weil seine Frau nicht mit dem Inhaber des Algonquin durchgebrannt war. »Trotzdem vielen Dank«, sagte er. »Ich weiß Ihre Mühen wirklich zu schätzen.«
»Suchen wir Ray«, sagte Barbara nüchtern. »Vielleicht weiß er etwas.«
Russ folgte ihr aus dem Büro.
»Sie arbeiten unten im Spa-Bereich«, erklärte sie. »Das Feuer hat sich nicht so weit ausgebreitet, aber die Wasserschäden waren enorm. Jetzt müssen neue Leitungen und Fliesen verlegt werden.«
Breite Stufen führten von der Lobby in den Wellnessbereich. Sobald sie das Erdgeschoss verlassen hatten, konnte Russ das Kreischen einer Kreissäge hören und jemanden, der eine widerspenstige Verbindungsleitung verfluchte.
»Ray?«, rief Barbara. Sie bahnte sich einen Weg durch Sägeböcke und Rollen mit Isolierkabel. »Ray?«
Sie betraten den Arbeitsbereich. Russ erkannte umgehend, dass dies vermutlich einer der schicksten Orte zwischen Montreal und New York gewesen war, an dem man seine Füße einweichen oder sich mit Schlamm bedecken lassen konnte. Jetzt war der Anblick grauenhaft, wie der einer schönen Frau mit Kater und fettigen Haaren. Ein Mann in Flanellhemd und Hosenträgern, in die Betrachtung einer Blaupause vertieft, richtete sich auf ihn. »Whitey! Matt! Hört mal eine Minute auf!« Die Kreissäge erstarb. Der große Mann kam quer durch den Arbeitsbereich auf sie zu. Er war genauso groß wie Russ und gut zwanzig Kilo schwerer und hatte das offene Gesicht eines Mannes, der alle Welt als Freund betrachtet, bis ihm das Gegenteil bewiesen wird.
»Hey, Ms. LeBlanc. Was kann ich für Sie tun?«
»Das ist Ray Yardhaas, unser Bauleiter. Ray, das ist der Polizeichef von Millers Kill. Russ Van Alstyne.«
Ray schüttelte ihm die Hand. »Wir haben uns schon getroffen. Vor zwei Jahren, als die Anlage gebaut wurde.« Er grinste. »Das erste Mal, dass ich jemanden kennengelernt habe, der in einem richtigen echten Mordfall ermittelt. Meine Frau war höllisch beeindruckt.«
»Ray, wir suchen jemanden, der Mrs. Van Alstyne beim Anbringen der Vorhänge behilflich gewesen sein könnte.«
»Mrs. Van Alstyne?« Er streifte Russ mit einem Blick. »Sie meinen die Vorhang-Lady? Ja, das war meistens Charlie. Warum? Hat er sie belästigt?«
LeBlanc runzelte die Stirn. »Kommt so etwas vor?«
»Ach, er hat das Herz am richtigen Fleck, schätze ich. Nur schaltet sein Mundwerk ab und an in den dritten Gang, wenn sein Verstand noch die Handbremse löst. Aber er hat kleine Hände. Gut für die fummelige Arbeit, die er machen muss.«
»Kann ich mit ihm sprechen?«, fragte Russ.
»Er macht gerade Pause.« Ray imitierte das Paffen einer Zigarette. »Aber er gehört zu meinem Trupp. Wenn er etwas getan hat, das er lieber hätte lassen sollen, will ich das wissen.«
Russ schüttelte den Kopf. »Ich brauche einfach ein paar Informationen.« Er überlegte, wie viel er preisgeben sollte. »Meine Frau …«
Ray zeigte über seine Schulter. »Da ist er.«
Russ drehte sich um.
Und sah Dennis Shambaugh auf sich zukommen.