Der Ausreißer

 

Lange Zeit stand ich dort im Bug und betrachtete die Wächter der Nacht, die nach und nach sichtbar wurden durch Ushas’ Tempo. Unsere uralte Republik war im Meer versunken; das Sternenlicht hingegen, das mein Auge traf, war ungleich älter, war schon alt gewesen, als die erste Frau das erste Kind stillte. Ich fragte mich, ob die Sterne weinten, wenn sie vom Untergang unsrer Republik erfuhren.

Ich jedenfalls, der ich ein solcher Stern gewesen war, weinte nun.

Ich weinte, bis mir jemand auf den Arm tippte. Es war der alte Seemann, unser Kapitän. Er, der so unnahbar gewirkt hatte, stand nun neben mir und schaute wie ich über die Fluten aus. Mir fiel auf, daß ich seinen Namen nicht wußte.

Ich wollte ihn schon danach fragen, als er sagte: »Denkst, ich weiß nicht, wer du bist?«

»Schon möglich«, erwiderte ich. »Wenn ja, bist du mir gegenüber im Vorteil.«

»Die Cacogen können Gedanken eines Menschen abrufen und ihm vorführen. Ich weiß das.«

»Du hältst mich für ein Eidolon? Ich kenne welche, aber bin keins; ich bin ein Mensch wie du.«

Vielleicht hatte er mich nicht gehört. »Den ganzen Tag über habe ich dich beobachtet. Ich habe wachgelegen und dich beobachtet, seitdem wir uns schlafengelegt haben. Man sagt, sie weinen nicht, aber das stimmt nicht, denn ich habe dich weinen sehen und daran gedacht, was gesagt wird und daß es nicht stimmt. Dann habe ich überlegt, wie schlimm sie sein mögen. Es bedeutet Unglück, wenn man sie an Bord hat, bringt Unglück, wenn man zu viel denkt.«

»Das wird schon stimmen. Aber wer zu viel denkt, tut es, weil er nicht anders kann.«

Er nickte. »Wird wohl so sein.«

Die Sprachen des Menschen sind älter als unser untergegangenes Land; dennoch mutet es mich seltsam an, daß sich in so langer Zeit keine Worte für die Pausen im Gespräch gefunden haben, die allesamt eigene Qualitäten haben und von unterschiedlicher Dauer sind. Unser Schweigen hielt in nachdenklicher Erwartung an, während hundert Wellen gegen den Rumpf schlugen, wozu sich das Schaukeln des Bootes gesellte und das Ächzen des Nachtwinds in der Takelung.

»Ich wollte sagen, was immer du anstellst mit dem Boot, es trifft mich nicht. Versenk es meinetwegen oder laß es auflaufen.«

Ich erwiderte, ich täte vielleicht sowohl das eine als auch das andere, allerdings nicht mit Absicht.

»Du hast mir nie groß was getan, als du noch echt gewesen bist«, bemerkte der Seemann, wiederum nach einer langen Pause. »Ich wäre Maxellindis nicht begegnet, wenn du nicht gewesen wärst – das war womöglich schlecht. Oder auch nicht. Wir hatten ein paar gute gemeinsame Jahre, Maxellindis und ich.«

Ich beäugte ihn aus den Augenwinkeln, während er aufs unruhige Wasser stierte. Seine Nase war gebrochen, vielleicht mehr als einmal. In Gedanken rückte ich sie gerade und füllte die gefurchten Wangen.

»Hast mich mal geschlagen, erinnerst du dich, Severian? Wurdest eben Lehrlingswart. Als die Reihe an mich kam, tat ich das gleiche mit Timon.«

»Eata!« Unwillkürlich packte ich ihn und hob ihn hoch wie früher, als wir zusammen Lehrlinge waren.

»Eata, du kleine Rotznase, ich hätte nie geglaubt, dich wiederzusehen!« Ich redete so laut, daß Odilo im Schlaf stöhnte und sich reckte.

Eata machte ein erschrockenes Gesicht. Seine Hand flog zum Messer im Gurt, aber er zog es nicht.

Ich setzte ihn ab. »Als ich die Zunft reformierte, fehltest du. Mir wurde gesagt, du wärst ausgerissen.«

»Stimmt.« Er schluckte oder hielt zumindest die Luft an. »Es ist schön, dich zu hören, Severian, auch wenn du nur ein böser Traum bist.

Wie hast du’s genannt?«

»Eidolon.«

»Eidolon. Wenn die Cacogen mir jemand aus meinem Kopf zeigen, so hätt’s auch Schlimmere gegeben.«

»Eata, erinnerst du dich noch, als wir von der Nekropolis ausgesperrt waren?«

Er nickte. »Und Drotte wollte, daß ich mich durchs Gitter zwängte, was ich nicht schaffte. Als die Freiwilligen dann aufmachten, lief ich hinein und ließ dich und ihn und Roche stehen. Keiner von euch schien Meister Gurloes besonders zu fürchten, was für mich damals nicht galt.«

»Wir fürchteten ihn auch, wollten es aber dir gegenüber nicht zugeben.«

»Klar.« Er lächelte, daß ich seine Zähne blitzen sah im fahlen Mondschein, die eine schwarze Lücke aufwiesen, wo einer ausgeschlagen worden war. »So sind die Jungs, sprach der Skipper, als er seine Tochter vorzeigte.«

Wenn Eata nicht davongerannt war, so schoß es mir mit einemmal durch den Kopf, dann hatte er vielleicht Vodalus gerettet, hatte er all das gesehen und getan, was ich gesehen und getan hatte. Mag sein, daß es sich in einer andern Sphäre so ereignete. Den Gedanken verwerfend, fragte ich: »Aber was hast du die ganze Zeit getrieben? Erzähl.«

»Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Als ich Lehrlingswart wurde, war es überhaupt kein Problem, mich heimlich mit Maxellindis zu treffen, sobald das Boot ihres Onkels irgendwo im Algedonischen Viertel anlegte. Ich kam mit Matrosen ins Gespräch und lernte sogar ein bißchen segeln. Als das Fest nahte, hielt ich nicht durch, konnte kein Fuligin anlegen.«

Ich sagte: »Ich tat es nur, weil ich mir nicht vorstellen konnte, anderswo als in unserm Matachin-Turm zu leben.«

Eata nickte. »Ich konnte das durchaus. Ich träumte das ganze Jahr davon, auf dem Boot zu leben und Maxellindis und ihrem Onkel zur Hand zu gehen. Er wurde allmählich steif, und sie brauchten jemand, der flink und kräftig war. Ich wartete nicht, bis ich vor die Meister bestellt wurde, um meine Wahl zu treffen, sondern brannte durch.«

»Und dann?«

»Vergaß ich die Folterer, so schnell und so gründlich ich konnte. Erst neuerdings überlege ich wieder, wie es sich als Kind gelebt hat im Matachin-Turm. Du wirst es nicht glauben, Severian, aber ich habe jahrelang den Zitadellenhügel nicht anschauen können, wenn wir jenes Ufer flußauf oder flußab passiert haben. Ich habe immer die Augen abgewendet.«

»Das glaube ich dir«, meinte ich darauf.

»Maxellindis’ Onkel starb. Es gab ein Wirtshaus, in das er immer einkehrte, weit drunten im Süden in einem Delta. Das Dorf hieß Liti, wirst es nicht kennen. Eines Abends gesellten Maxellindis und ich uns zu ihm. Er saß, den Kopf in eine Hand gestützt, allein an einem Tisch vor Flasche und Glas. Als ich ihn an den Schultern rüttelte, kippte er vom Stuhl. Er war schon kalt.«

»Menschen, denen der Wein längst den Tod gebracht hatte, lagen an Weinquellen und tranken unentwegt weiter, merkten sie vor lauter Benommenheit doch nicht, daß ihr Leben verstrichen war.«

»Was?« fragte Eata.

»Nur eine alte Geschichte«, warf ich ein. »Ist ohne Belang. Aber sprich weiter.«

»Sodann arbeitete ich mit ihr allein auf dem Boot. Zu zweit schafften wir, was wir zuvor zu dritt geschafft hatten. Geheiratet haben wir nie. Wenn wir heiraten wollten, waren wir irgendwie immer knapp bei Kasse. Und wenn wir Geld hatten, gab’s immer Streit zwischen uns. Nach ein paar Jahren wurden wir dann sowieso für ein Ehepaar gehalten.« Er schneuzte sich und schleuderte den Schleim von Bord.

»Weiter«, drängte ich.

»Wir schmuggelten mitunter und wurden eines Nachts von einem Kutter gestoppt. Acht bis zehn Meilen südlich des Zitadellenhügels war’s. Maxellindis sprang – ich hörte das Platschen –, und ich wäre auch gesprungen, hätte nicht einer der Steuereintreiber mir ein Achico um die Beine geschleudert und mich zu Fall gebracht. Du weißt, was die mit einem machen, nicht wahr?«

Ich nickte. »War ich da noch Autarch? Du hättest dich an mich wenden können.«

»Nein. Ich dachte daran, war mir aber sicher, daß du mich wieder in die Zunft stecken würdest.«

»Das hätte ich nicht getan«, erwiderte ich, »aber wäre das schlimmer gewesen als das, wie der Arm des Gesetzes mit dir verfuhr?«

»Es hätte vor allen Dingen lebenslänglich gedauert. Das war der Gedanke, der mich immerzu beschäftigte. Jedenfalls nahmen sie unser Boot ins Schlepptau und brachten mich den Fluß hinauf. Ich wurde eingesperrt, dann dem Richter vorgeführt und verurteilt zu einer Prügelstrafe und zur Zwangsarbeit auf einer Karacke. Ich lag in Eisen, bis die Küste außer Sicht war, und ich mußte schuften wie ein Sklave, aber ich sah die Xanthischen Länder, wo ich über Bord sprang und zwei Jahre lang blieb. Lebt sich gar nicht so schlecht dort, wenn man Geld hat.«

»Aber du bist zurückgekehrt«, hielt ich dagegen.

»Es gab einen Aufstand, bei dem das Mädchen, mit dem ich zusammenlebte, umkam. Kommt alle paar Jahre zu Aufständen wegen der Lebensmittelpreise auf den Märkten. Die Soldaten greifen hart durch, und das hat meinem Mädchen bestimmt das Leben gekostet. Nun lag zu der Zeit eine Karavelle vor Anker an der Blaublumeninsel, und ich ging zum Kapitän und heuerte an. In der Jugend kann man fürchterlich töricht sein, und so bildete ich mir ein, Maxellindis hätte uns ein neues Boot beschafft. Als ich zurückkam, war sie freilich nicht auf dem Fluß. Ich sah sie nie wieder. Schätzungsweise kam sie ums Leben in jener Nacht, als der Kutter uns auf den Leib rückte.«

Er machte, das Kinn in die Hand gestützt, eine Pause.

»Maxellindis war ein fast so guter Schwimmer wie ich in meinen besten Zeiten. Du erinnerst dich, daß ich beinahe so gut schwamm wie Drotte und du. Vielleicht wurde sie von einer Wassernixe hinuntergezogen. Das passierte immer wieder, insbesondere im Unterlauf.«

»Ich weiß«, pflichtete ich ihm bei und mußte an Juturnas Riesengesicht denken, das ich als Junge gesehen hatte, als ich um ein Haar im Gyoll ertrunken wäre.

»Recht viel mehr gibt es nicht zu erzählen. Ich hatte Geld mit heimgebracht in einem seidenen Gurt, den ich drüben hatte anfertigen lassen, und ich bekam mehr Geld, als die Karavelle mich ausbezahlte. Auf Raten kaufte ich mir das Boot hier, und da bin ich nun. Aber noch beherrsche ich ein paar Brocken der xanthischen Zunge, und es gehen mir mehr über die Lippen, wenn ich jemanden so reden höre. Oder würden, wenn wir mehr Wasser und ein bißchen mehr zu essen hätten.«

Ich erwiderte: »Dieses Meer hat zahlreiche Inseln. Ich sah einmal eine Karte im Hypotherm Classis.«

Er nickte. »Ein paar Hundert werden’s sein und viele mehr, die auf keiner Karte stehen, die ich je gesehen habe. Man möchte meinen, ein Schiff könne nicht sämtliche davon verpassen, was aber möglich ist. Wenn man nicht besonderes Glück hat, kann man direkt zwischen den Inseln durchfahren, ohne sie zu bemerken. Viel hängt davon ab, ob es Tag oder Nacht ist, und noch viel mehr kommt es darauf an, wie hoch der Ausguck steht – ob in der Grostenge einer Karacke oder im Bug meiner Nußschale.«

Ich hob die Schultern. »Wir können nur hoffen.«

»Sprach der Frosch, als er den Storch sah. Aber seine Kehle war trocken, so daß er das Wort nicht ganz herausbrachte.«

Eata betrachtete nun mich anstatt des Meeres. »Severian, weißt du, was mit dir passiert ist? Auch wenn du nur ein Traum der Cacogens bist?«

»Ja«, entgegnete ich. »Aber ich bin kein Phantom. Und wenn doch, so ist das nicht mir, sondern dem Hierogrammat Tzadkiel zuzuschreiben.«

»Dann erzähl mir, was dir passiert ist, genau wie ich dir erzählt habe, was ich erlebt habe.«

»Gut, aber zuvor habe ich noch eine Frage an dich. Was geschah hier auf Urth nach meinem Weggang?«

Eata setzte sich auf einen Kasten, von wo er zu mir aufschauen konnte, ohne den Kopf schief halten zu müssen. »Stimmt«, meinte er. »Du bist hinausgesegelt, um die Neue Sonne zu bringen, nicht wahr? Hast sie denn gefunden?«

»Ja und nein. Ich erzähle dir alles, sobald du mir sagst, was auf Urth geschehen ist.«

»Was dich vermutlich interessiert, davon weiß ich nicht viel.« Er rieb sich das Kinn. »Überhaupt bin ich mir nicht recht sicher, was wann passiert ist. Als ich mit Maxellindis zusammen war, warst du die ganze Zeit über Autarch, obwohl du, wie es hieß, meist abwesend warst und gegen die Ascier kämpftest. Als ich dann von den Xanthischen Ländern zurückkehrte, warst du weg.«

Ich sagte: »Wenn du dort zwei Jahre gelebt hast, so mußt du acht Jahre mit Maxellindis zusammengewesen sein.«

»Das könnte hinkommen. Vier oder fünf Jahre mit ihr und ihrem Onkel und hernach zwei oder drei mit ihr allein auf dem Boot. Jedenfalls war deine Autarchin nun Autarch. Es gab Gerede, weil sie eine Frau war, weil ihr angeblich die Sprachgewalt fehlte.

Als ich mein ausländisches Gold gegen Chrysos eintauschte, war auf manchen dein und auf andern ihr Bild oder zumindest ein Frauenkopf. Sie heiratete Dux Caesidius. Es gab ein großes Fest in der ganzen Iubar-Straße und Fleisch und Wein für alle. Ich betrank mich und kam erst nach drei Tagen heim zum Boot. Angeblich war es eine günstige Heirat – sie konnte im Haus Absolut bleiben und sich ums Gemeinwohl kümmern, während er sich die Ascier vornahm.«

»Ich kann mich an ihn erinnern«, sagte ich. »Er war ein guter Führer.« Es gab mir ein komisches Gefühl, als ich mich an das Falkengesicht erinnerte und mir vorstellte, wie sein grimmiger, griesgrämiger Besitzer bei Valeria lag.

»Zuweilen hörte man, sie tat es nur, weil er dir ähnlich sah«, berichtete Eata mir. »Aber er sah wohl doch besser aus und war ein bißchen größer.«

Ich dachte nach. Er wird sicher besser ausgesehen haben als ich mit meinem Narbengesicht. Andrerseits schätzte ich Caesidius etwas kleiner als mich, obwohl sich freilich jeder am größten wähnt, vor dem alle andern knien.

»Schließlich starb er«, fuhr Eata fort. »Das war letztes Jahr.«

»Soso.«

Lange stand ich mit dem Rücken zum Schandeckel und überlegte. Der steigende Mond, der nun fast über mir prunkte, warf den Schatten des Mastes wie eine schwarze Schranke zwischen ihn und mich. Eata auf der andern Seite klang eigentümlich jugendlich. »Was ist nun mit der Neuen Sonne, Severian? Du hast mir versprochen, alles darüber zu erzählen.«

Ich begann, aber als ich gerade schilderte, wie ich auf Idas eingestochen hatte, sah ich, daß Eata schlief.