Die Insel
Wenn ich nun sagte, der Flieger landete wie ein riesiger Wasservogel, wird man, wenn man auf Urth geboren ist und jeden seiner Atemzüge dort getan hat, an ein ulkiges Geplatsche denken. Er landete, aber anders, denn auf Yesod haben – wie ich durch die Seiten des Fliegers sah, kurz nachdem wir aufgesetzt hatten – die Wasservögel gelernt, so sachte und graziös im Wasser zu landen, daß man meinen möchte, das Wasser wäre für sie nur eine kühlere Luft, wie dies für jene Vöglein gilt, die wir an Wasserfällen beobachten und die in die Fälle hüpfen, um Elritzen zu fangen, und sich’ dort ebenso heimisch fühlen wie andere Vögel in Büschen.
Ebenso wasserten wir. Wir setzten im Meer auf, wobei wir bei der ersten Berührung die Flügel falteten, und schaukelten sanft, während wir noch zu fliegen schienen. Matrosen plauderten miteinander, und es hätten vielleicht auch Gunnie und Purn mit mir geplaudert, wenn ich ihnen Gelegenheit gegeben hätte. Diese gab ich ihnen nicht, da ich alles sehen wollte, was sich an Wundern bot, und da ich mich, hätte ich geredet, noch stärker verpflichtet gefühlt hätte, jenen, die einen andern gefangen hielten, zu offenbaren, daß ich der Gesuchte sei.
So starrte ich denn durch die Seiten des Fliegers (wie ich glaubte) und spürte den Wind, den herrlichen Wind von Yesod mit der reinen Frische des salzlosen Meeres und den Düften seiner prächtigen Gärten und dem Atem des Lebens und merkte, daß die Seiten des Fliegers, die bisher nicht zu sehen waren, tastbar wurden, so daß wir wie auf einem schmalen Floß, von den Flügeln bedacht, dahinglitten. Und ich sah viel.
Wie zu erwarten war, schubste einer der Matrosen eine Kameradin ins Wasser; aber weiter drunten am langen Rumpf wurde sie wieder herausgezogen. Obwohl sie sich zeternd übers kalte Wasser beschwerte, war es nicht so kalt, daß ihre Gesundheit Schaden genommen hätte, wie ich feststellte, als ich mich bückte und die Hände eintauchte.
Dann schöpfte ich mit hohlen Händen, soviel sie faßten, und trank es, das Wasser von Yesod. Obwohl es kühl war, empfand ich es als Wohltat, als mir etwas Wasser über die Brust lief. Denn ich erinnerte mich an eine Geschichte im braunen Buch, das ich einmal zum Gedenken an Thecla bei mir getragen hatte; sie handelte von einem, der spät nachts ein ödes Land durchquerte und ein Paar tanzen sah, zu dem er sich gesellte; als der Tanz beendet war, ging er mit ihnen und wusch das Gesicht in einem Quell, der bei Tage nicht sichtbar war, und trank von seinem Wasser.
Dann ging sein Weib, wozu ein gewisses schlaues Ding ihm riet, auf den Tag genau ein Jahr später zur selben Stelle und vernahm dort wilde Musik und hörte ihren Mann vorsingen und viele Füße tanzen – aber sah niemanden. Und als sie jenes Ding dazu befragte, erfuhr sie, daß ihr Mann von den Wassern einer andern Welt getrunken und darin gebadet habe und nie mehr zu ihr zurückkehre.
Und er kam nie wieder.
Ich hielt mich abseits von den Matrosen, als wir zur weißen Straße zogen, die vom Liegeplatz zum Bauwerk auf dem Hügel führte, indem ich so nahe bei dem Trio und dem Gefangenen ging, wie es sich kein anderer getraute. Allerdings war ich nicht Manns genug, den dreien zu offenbaren, wer ich sei, obwohl ich wenigstens hundertmal dazu ansetzte, ohne einen Laut über die Lippen zu bringen. Schließlich fragte ich nur, ob die Verhandlung noch heute oder morgen stattfinde.
Die Frau, die zu uns gesprochen hatte, blickte über die Schulter zurück und lächelte. »Bist so erpicht auf sein Blut?« fragte sie. »Ich muß dich enttäuschen. Der Hierogrammat Tzadkiel sitzt heute nicht zu Gericht, also führen wir nur die Voruntersuchung durch. Dies kann auch in seiner Abwesenheit geschehen, wenn es sein muß.«
Ich schüttelte den Kopf. »Glaub mir, Frau, ich habe viel Blut gesehen; es gelüstet mich nicht danach.«
»Warum bist du dann hier?« erkundigte sie sich, noch immer lächelnd.
Ich sagte ihr die Wahrheit, allerdings nicht die ganze Wahrheit. »Weil ich es als meine Pflicht ansehe. Aber sag, angenommen, Tzadkiel sitzt auch morgen nicht zu Gericht. Werden wir hier warten dürfen auf ihn? Seid ihr nicht lauter Hierogrammaten? Seid ihr alle unsrer Zunge kundig? Ich war erstaunt, sie aus deinem Mund zu vernehmen.«
Ich war einen halben Schritt hinter ihr, so daß sie sich mehr oder weniger umdrehen mußte beim Sprechen. Nun fiel sie, noch freundlicher lächelnd, hinter die andern zurück und hängte sich bei mir ein. »So viele Fragen. Wie soll ich die alle behalten, geschweige denn beantworten?«
Ich schämte mich und murmelte eine Entschuldigung; aber die Berührung ihrer Hand, die warm und begehrend nach der meinen griff, machte mich so nervös, daß ich nur ein Stammeln hervorbrachte.
»Nichtsdestoweniger will ich es dir zuliebe versuchen. Tzadkiel wird morgen hier sein. Fürchtest du, du kommst nicht rechtzeitig zurück zum Scheuern und Lastenschleppen?«
»Nein, Frau«, brachte ich hervor. »Ich würde für immer hierbleiben, wenn ich könnte.«
Daraufhin verschwand das Lächeln aus ihrem Antlitz. »Du wirst alles in allem weniger als einen Tag auf dieser Insel bleiben. Du mußt – wir müssen, wenn du willst – das Beste daraus machen.«
»Ich will«, gestand ich, und es war nicht einmal gelogen. Ich sagte bereits, sie war eine normal aussehende Frau mittleren Alters, und das stimmte: nicht groß, ein paar Fältchen um Mund und Augen, ergraute Schläfen. Dennoch hatte sie etwas an sich, das sie unwiderstehlich machte. Vielleicht lag das nur an der besonderen Atmosphäre der Insel – wie anziehend ist eine Beglückte fürs gemeine Volk! Vielleicht waren es die Augen, die strahlten und groß waren und blau, tiefblau wie das hiesige Meer, vom Alter ungebrochen. Vielleicht war es etwas ganz anderes, dessen ich mir nicht bewußt wurde. Abermals fühlte ich, was ich in so viel jüngeren Jahren gefühlt hatte, als ich Agia begegnete – ein Verlangen, das mich in seiner Heftigkeit geistiger als jeder Glaube anmutete, dessen körperliche Züge die Glut des Begehrens versengte und tilgte.
»… nach der Voruntersuchung«, sagte sie.
»Natürlich«, antwortete ich, »natürlich. Ich bin Euer Gnaden Diener.« Ich wußte nicht recht, auf was ich mich einließ.
Eine breite Treppe aus weißem Stein, von Springbrunnen flankiert, erhob sich vor uns luftig beschwingt wie ein Wolkenturm. Mit einem neckischen Lächeln, das ich ungemein anziehend fand, blickte sie auf. »Wenn du wahrlich mein Diener bist, so möchte ich über die Treppe getragen werden, ob Hinkebein oder nicht.«
»Das tue ich gern«, sagte ich und bückte mich, um sie aufzuheben.
»Nein, nein!« Schon stieg sie die Stufen mit jugendlicher Leichtigkeit empor. »Was würden deine Schiffskameraden denken?«
»Sie würden es sicher für eine Auszeichnung halten, Frau.«
Lächelnd flüsterte sie: »Dächten sie nicht, du hättest die Urth aufgegeben, wärst abtrünnig geworden? Aber es bleibt noch ein Moment Zeit, bis wir im Gericht sind, und ich will versuchen, deine Fragen zu beantworten, so gut ich kann. Wir sind nicht lauter Hierogrammaten. Sind auf Urth alle Kinder von Sannyasins etwa selbst Heilige? Ich spreche nicht in deiner Sprache, wie keiner von uns in deiner Sprache spricht und wie auch du nicht sprichst, wie wir sprechen.«
»Gnä’ Frau …«
»Du verstehst nicht.«
»Nein.« Ich suchte nach Worten, aber was sie gesagt hatte, erschien mir dermaßen absurd, daß ich nicht wußte, was ich darauf sagen sollte.
»Ich erklär’s dir nach der Untersuchung. Aber nun muß ich dich um einen kleinen Gefallen bitten.«
»Gern, Frau.«
»Danke. Du sollst die Inkarnation zur Anklagebank führen.«
Ich sah sie verdutzt an.
»Wir prüfen ihn, wir urteilen über ihn im Namen der Völker der Urth, die ihn an ihrer Stelle nach Yesod entsandt haben. Zum Zeichen dafür muß jemand von Urth, der in freilich weniger prominenter Weise gleichfalls seine Welt vertritt, ihn geleiten.«
Ich nickte. »Das tue ich für dich, Frau, wenn du mir zeigst, wohin ich ihn bringen soll.«
»Gut.« Sie wandte sich an den Mann und die andere Frau mit den Worten: »Der Wächter ist bestellt.« Diese nickten, woraufhin sie den Gefangenen beim Arm packte und ihn (obwohl er sich leicht hätte widersetzen können) vor mich zerrte. »Wir bringen deine Schiffskameraden in den Gerichtssaal, wo ich das Vorgehen erklären werde. Du bedarfst, glaube ich, einer Erklärung nicht. Wie – wie heißt du?«
Ich zögerte und überlegte, ob ihr der Name der eigentlichen Inkarnation vielleicht ein Begriff wäre.
»Komm, ist das ein so großes Geheimnis?«
Bald müßte ich sowieso ein Geständnis ablegen, obwohl ich hoffte, zuvor die Voruntersuchung hören zu können, um besser gewappnet zu sein, wenn ich an die Reihe käme. Am Säulengang angekommen, sagte ich: »Severian. Darf man fragen, wie du heißt, Frau?«
Ihr Lächeln war so unwiderstehlich wie beim ersten Mal. »Es besteht keine Notwendigkeit für dergleichen unter uns, aber da ich nun jemanden kenne, der Namen braucht, will ich Apheta heißen.« Sie sah mein Zweifeln und setzte hinzu: »Keine Angst, jeder, der den Namen hört, wird wissen, wen du meinst.«
»Danke, Frau.«
»Nun nimm ihn! Der Bogen zu deiner Rechten.« Sie deutete hinüber. »Durch den geh. Du kommst in einen langen elliptischen Korridor, aus dem du nicht entweichen kannst, weil keine Türen von ihm abgehen. Folge ihm bis zum Ende, und er führt dich in den Vernehmungssaal. Betrachte seine Hände; siehst du, wie sie gefesselt sind?«
»Ja, Frau.«
»Im Saal siehst du den Ring, an dem die Handschellen festgemacht werden. Führ ihn dorthin und kette ihn an – da ist ein Haken mit beweglichem Verschluß, den du sofort verstehst – und nimm deinen Platz bei den Zeugen ein. Wenn die Vernehmung vorbei ist, warte auf mich. Ich werde dir alle Wunder der Insel zeigen.«
Ihr Tonfall verriet, was sie meinte. Ich verneigte mich und sagte: »Frau, ich bin deiner nicht würdig.«
»Das laß nur mich beurteilen. Geh nun. Tu, was ich gesagt habe, und du erhältst deinen Lohn.«
Nach einer zweiten Verbeugung wandte ich mich um und nahm den Riesen beim Arm. Ich sagte bereits, daß er größer war als jeder Beglückte, was stimmte; er war fast so groß wie Baldanders. Aber er war nicht so schwerfällig, sondern jung und kräftig (jung wie ich, wie ich fand, an dem Tag, als ich, mit Terminus Est bewaffnet, durch die Leichenpforte die Zitadelle verließ). Er mußte sich bücken unterm Bogen, aber folgte mir, wie man einen Jährlingsbock auf dem Markt einem Hirtenjungen folgen sieht, der ihn zahm gemacht hat und nun verkaufen möchte an eine Familie, die ihn als Festbraten mästen will.
Der Korridor hatte die Form eines Eis, das ein Zauberkünstler auf den Tisch stellt: eine hohe spitz zulaufende Deckenwölbung, ausgebauchte Wände und eine abgeflachte Trittfläche. Die Dame Apheta hatte gesagt, daß keine Türen abführten, was auch stimmte; dafür gab es beidseitig Fenster. Dies verwunderte mich, weil ich vermutete, der Gang führe um einen Gerichtssaal in der Gebäudemitte.
Ich sah beim Gehen links und rechts aus den Fenstern, zunächst aus einer gewissen Neugier auf die Insel von Yesod, dann mit Verwunderung ob der Ähnlichkeit zur Urth und schließlich mit Staunen. Denn schneebedeckte Gipfel und weite Ebenen wichen zurück und gaben seltsame Ansichten frei, als würde ich durch jedes Fenster in ein anderes Gebäude blicken. Da war eine weite, leere, mit Spiegeln verkleidete Halle, eine noch breitere mit Regalen, die mit Büchern vollgestopft waren, eine enge Zelle mit hohem Gitterfenster und strohbedecktem Boden und ein dunkler schmaler Korridor mit einer Flucht von metallenen Türen.
Ich wandte mich an den Klienten und sagte: »Man hat mich erwartet, das steht wohl fest. Ich sehe Agilus’ Zelle, die Oubliette unterm Matachin-Turm und so weiter. Aber man hält dich für mich, Zak.«
Als hätte das Aussprechen seines Namens einen Bann gebrochen, drehte er sich um, schüttelte das lange Haar zurück und funkelte mich an. Die Muskeln seiner Arme quollen hervor, als wollten sie die Haut zum Bersten bringen, während er an den Handschellen zerrte.
Ganz automatisch trat ich neben sein Bein und warf ihn über die Hüfte, wie Meister Gurloes es mich vor so langer Zeit gelehrt hatte.
Er fiel auf den weißen Boden, wie ein Stier in der Arena fällt, und der Aufschlag schien das Gemäuer zu erschüttern. Aber im nächsten Moment war er trotz seiner Fesseln wieder auf den Beinen und türmte in den Korridor.