Wieder in Saltus
Vor Mittag jagten wir dahin wie eine Jacht. Der Wind heulte im Takelwerk, und die ersten dicken Regentropfen bespritzten das Schiff wie auf die Leinwand geschleuderte Farbe. Von meiner Position an der Achterdeckreling verfolgte ich, wie das Topsegel und das Großbramsegel eingeholt und die übrigen Segel immer wieder gerefft wurden. Als Hadelin zu mir kam und mich überaus höflich darum ersuchte, mich nach unten zu begeben, fragte ich ihn, ob es nicht klüger wäre anzulegen.
»Geht nicht, Sieur. Es gibt keinen Hafen zwischen hier und Saltus. Wir würden stranden im Wind, wenn wir versuchten, am Ufer festzumachen, Sieur. Ein Sturm kommt, Herr, jawohl. Wir haben schon schlimmere überstanden, Sieur.« Er flitzte davon, um die Leute am Besanmast zu bearbeiten und den Steuermann mit Obszönitäten zu beschimpfen.
Ich ging nach vorn. Obwohl ich damit rechnen mußte zu ertrinken, genoß ich den Wind und war recht unbesorgt. Ob mein Leben nun ein Ende fand oder nicht, ich hatte viel erreicht und versagt zugleich. Ich hatte eine Neue Sonne gebracht, deren Ankunft über die weite Kluft des Alls weder ich noch irgend jemand zu meinen Lebzeiten Geborener erleben würde. Sollten wir nach Nessus gelangen, wollte ich meinen Anspruch auf den Phönixthron geltend machen, die Amtsführung des Oberherrn prüfen, der Vater Inire nachgefolgt war (denn ich war mir sicher, daß der von den Dorfbewohnern erwähnte Monarch nicht Inire sein konnte), und ihn belohnen oder bestrafen, wie er’s eben verdiente. Dann würde ich den Rest meines Lebens im sterilen Pomp des Hauses Absolut fristen oder auf grausamen Schlachtfeldern ausharren; und sollte ich je davon berichten, wie ich von meinem Aufstieg berichtet habe, um mich dann der Niederschrift zu entledigen, womit diese Geschichte ihren Anfang genommen hat, so wäre darin kaum etwas Aufregendes zu vermerken, sobald der Ausgang dieser Reise dargelegt wäre.
Der Wind ließ meinen Mantel wehen wie eine Fahne und das Lateinsegel am Fockmast flattern wie die Flügel eines Riesenvogels, während der sich verjüngende Mastbaum sich immer wieder neigte, um die Stöße abzufedern. Das Focksegel war gerefft, so weit es möglich war, und mit jedem Windstoß strebte die Alcyone dem felsigen Ufer des Gyoll zu wie ein scheuendes Roß. Die Hand am Backstag, beobachtete der Maat das Segel und fluchte so monoton wie eine Drehorgel. Als er mich bemerkte, hielt er sofort inne und fragte: »Kann ich Euch sprechen, Sieur?«
Er wirkte lächerlich mit der Mütze in der Hand bei dem Wind; ich nickte lächelnd. »Das Focksegel läßt sich wohl mehr nicht reffen, ohne das Steuern noch zu erschweren?«
Just in dem Moment kam der Sturm mit voller Gewalt über uns. Obwohl so viele Segel gestrichen oder gerefft waren, bekam die Alcyone starke Schlagseite. Als sie sich wieder aufrichtete (denn zur Ehre der Erbauer richtete sie sich wieder auf!), brodelte das Wasser ringsum im Hagel, und das Prasseln der Schloßen auf den Decks war ohrenbetäubend. Der Maat lief unter den Überbau des Sonnendecks. Ich folgte ihm und staunte nicht schlecht, als er sich auf die Knie warf, sobald ich den Unterstand erreichte.
»Sieur, laßt sie nicht sinken! Ich bitt nicht für mich, Sieur, ich habe eine Frau – zwei kleine Kinder – haben erst letztes Jahr geheiratet, Sieur. Wir …«
Ich fragte: »Wie kommst du darauf, daß ich euer Schiff retten könnte?«
»Es ist der Kapitän, nicht wahr, Sieur? Ich kümmere mich um ihn, sobald es dunkel wird.« Er griff nach dem Heft des langen Dolches, der ihm von der Seite hing. »Ich habe ein paar Kameraden, auf die Verlaß ist, Sieur. Ich tu’s – ich schwöre es, Sieur.«
»Was faselst du da für einen Blödsinn von Meuterei?« erwiderte ich. Wieder lag das Schiff zum Kentern, bis die Großrah untertauchte. »Ich kann weder Sturm rufen noch …«
Dies sagte ich vor mich hin. Der Maat war auf und davon und im Hagelregen verschwunden. Ich setzte mich abermals auf die schmale Bank, von der ich das Beladen des Schiffes beobachtet hatte. Besser gesagt eilte durchs All, wie ich durchs All eilte, seit Burgundofara und ich auf Yesod in die schwarze Leere unter der wunderlichen Kuppel gesprungen waren; und zugleich ließ ich die Marionette, die ich an Fäden bewegte, mit denen ich halb Briah hätte erdrosseln können, auf der Bank Platz nehmen.
Nach einem Dutzend oder auch hundert Atemzügen kehrte der Maat mit Herena und Declan zurück. Abermals kniete er nieder, während die beiden andern sich vor mir niederduckten.
»Gebietet dem Sturm Einhalt, Sieur«, flehte Herena. »Ihr seid gütig zu uns gewesen. Ihr werdet nicht umkommen, während wir sterben – Declan und ich. Ich weiß, wir haben gegen Euch gesündigt, aber wir haben nichts Böses gewollt und bitten um Vergebung.«
Declan nickte stumm.
Ich erwiderte darauf: »Starke Gewitterstürme sind nicht ungewöhnlich im Herbst. Er wird bald vergehn wie alle andern auch.«
»Sieur …«, begann Declan.
»Was ist?« fragte ich. »Sprich, du kannst ruhig alles sagen.«
»Wir haben Euch gesehn. Sie und ich. Wir sind dort oben gewesen, als der Regen gekommen ist und Ihr gegangen seid. Der Maat ist gelaufen. Ihr aber seid gegangen, Sieur. Ihr seid gegangen, und der Hagel hat Euch nicht verschont. Seht meine Kleider, Sieur, oder die ihrigen.«
»Was meinst du, Declan?«
»Sie sind klitschnaß, Sieur«, meinte der Maat ergriffen. »Wie die meinen. Aber faßt Eure Kleider an, Sieur, Eure Wangen.«
Ich fühlte. Alles trocken.
Der Verstand fällt, wenn mit Unglaublichem konfrontiert, auf Gemeinplätze zurück. Die einzige Erklärung, die mir plausibel schien, war die andersartige Webart meiner Stoffe, die Wasser abwies, und daß mein Gesicht von der Kapuze geschützt worden war. Ich zog sie ab und trat ins Unwetter hinaus.
Das Gesicht in den Wind gekehrt, sah ich den Regen mir entgegenpeitschen und hörte die Schloßen an meinen Ohren vorbeiprasseln; aber kein Korn traf mich, und Gesicht und Hände und Mantel blieben trocken. Anscheinend hatten sich die Sprüche – die dummen Sprüche, wie ich immer glaubte – der Munis bewahrheitet und alles, was ich sah und hörte, war bloße Illusion.
Fast gegen meinen Willen besprach ich den Sturm. Ich wollte sprechen wie von Mensch zu Mensch, aber mußte erfahren, daß meine Lippen Laute formten wie das Säuseln von Wind, das ferne Rollen von Donner in den Bergen und das sanfte Trommeln von Regen auf Yesod.
Momente verstrichen. Der Donner verhallte und Wind setzte aus. Letzte Hagelkörner plumpsten ins Wasser wie Kiesel, die ein Kind wirft. Ich wußte, daß ich mit jenen knappen Lauten den Sturm in mich zurückgerufen hatte, und das Gefühl war unbeschreiblich. Zuvor hatte ich irgendwie meine Gefühle herausgelassen, welche zu einem Monstrum wurden, das tobte wie ich selbst, ein Monstrum mit der Kraft von zehntausend Riesen. Nun waren es wieder bloße Gefühle, und ich wurde wieder ärgerlich, wie ich ärgerlich gewesen war, ärgerlich vor allem deshalb, weil ich nicht mehr wußte, wo die Trennlinie zwischen dieser wunderlichen schäbigen Welt von Urth und mir selbst lag. War der Wind mein Atem? Oder war mein Atem der Wind? War das Sausen in den Ohren mein aufwallendes Blut oder der Gesang des Gyoll? Ich hätte am liebsten geflucht, fürchtete aber das, was mein Fluch anrichten mochte.
»Habt Dank, Sieur, habt Dank!«
Es war der Maat, der wieder niederkniete und mir den Stiefel küssen wollte, wenn ich es geduldet hätte. Ich hieß ihn aufstehen und verbat mir einen Mord an Kapitän Hadelin. Zu guter Letzt war ich gezwungen, ihn einen entsprechenden Schwur tun zu lassen, ahnte ich doch, daß er – wie Declan oder Herena – unbekümmert in meinem vermeintlichen Interesse gehandelt hätte entgegen meinen ausdrücklichen Befehl. Ich war zum Wundertäter geworden, ob es mir gefiel oder nicht, und gegenüber einem Wundertäter wird Gehorsam anders ausgelegt als gegenüber einem Autarchen.
Über die verbleibenden Wachen dieses Tages ist, so lange es hell war, wenig zu berichten. Ich grübelte viel, spazierte aber ansonsten lediglich ein-, zweimal vom Achter- zum Vordeck und umgekehrt und betrachtete die vorüberziehenden Ufer. Herena und Declan und darüber hinaus die gesamte Besatzung blieben mir vom Leib; aber als die Urth die rote Sonne gleich zu berühren schien, rief ich Declan zu mir und deutete aufs Ostufer, das nun in hellem Schein lag.
»Siehst du diese Bäume?« fragte ich. »Bald stehn sie in Reih und Glied wie Soldaten, bald in bunten Haufen und bald in verflochtenen Dreiecken. Sind das Obstgärten?«
Er schüttelte traurig den Kopf. »Ich hatte eigene Obstbäume, Sieur. Gaben heuer nichts als grüne Apfel zum Kochen.«
»Aber es sind Obstgärten?«
Er nickte.
»Und auf dem Westufer auch? Sind das ebenfalls Obstgärten?«
»Die Ufer sind zu steil für Äcker, Sieur. Pflügt man den Boden, schwemmt der Regen alles weg. Aber für Obstbäume sind sie recht gut geeignet.«
Halblaut vor mich hin sagte ich: »Einst machte ich in einem Dorf Station, das Saltus hieß. Dort gab es kaum Äcker und kaum Vieh, aber reichlich Obst nördlich davon.«
Hadelins Stimme kam für mich überraschend. »Seltsam, daß Ihr davon sprecht. Wir legen in einer halben Wacht in Saltus an, Sieur.« Er schaute drein wie ein Junge, der weiß, daß er eine Tracht Prügel verdient. Ich schickte Declan weg und versicherte Hadelin, daß er nichts zu befürchten habe, daß ich ihm und Burgundofara obendrein tatsächlich gegrollt hätte, aber keinen Groll mehr hegte.
»Danke, Sieur, habt Dank.« Er wandte sich kurz ab, kehrte sich mir zu und schaute mir in die Augen, um mir zu sagen, was mehr Zivilcourage erforderte als alles, was mir bisher gesagt wurde: »Ihr müßt denken, daß wir uns über Euch lustig gemacht hätten, Sieur. Das stimmt nicht. Im Chowder Pot hielten wir Euch für tot. Drunten in Eurer Kabine dann überkam es uns, und wir waren machtlos. Wir fühlten uns magisch angezogen. Wir brauchten uns nur anzuschauen. Ehe wir uns versahen, war’s um uns geschehen. Dachte, es würde uns das Leben kosten, und das hätte es beinahe wohl auch.«
»Nun hast du nichts mehr zu fürchten«, versicherte ich ihm.
»Dann gehe ich schnell hinunter und rede mit ihr.«
Ich begab mich nach vorn, stellte aber bald fest, daß mit den dichtgeholten Segeln die Sicht vom höheren Achterdeck am besten war. Von dort betrachtete ich das nordwestliche Ufer, als Hadelin zurückkehrte, diesmal in Begleitung von Burgundofara. Als sie mich sah, ließ sie seine Hand los und stellte sich auf die andere Seite des Decks.
»Wenn Ihr nach der Stelle Ausschau haltet, wo wir anlegen, Sieur, so kommt sie eben in Sicht. Seht Ihr sie? Schaut zum Rauch, Sieur, nicht zu den Häusern.«
»Jetzt sehe ich sie.«
»In Saltus wird schon unser Abendessen gekocht, Sieur. Gibt ein gutes Wirtshaus dort.«
»Ich weiß«, gab ich zur Antwort und dachte dabei zurück, wie Jonas und ich durch den Wald dorthin wanderten, nachdem die Ulanen uns am Erbärmlichen Tor versprengt hatten, wie wir in unsrer Wasserkanne Wein fanden und dergleichen mehr. Das Dorf selbst kam mir größer vor, als ich es in Erinnerung hatte, wobei ich mich zu entsinnen glaubte, daß die Häuser aus Stein errichtet waren. Jetzt standen Holzbauten.
Ich suchte nach dem Pfahl, an den Morwenna gekettet gewesen war, als ich das erste Gespräch mit ihr führte. Als die Besatzung die Segel einholte und wir in die kleine Bucht glitten, entdeckte ich das brache Stück Land, auf dem ich gestanden hatte, aber von Pfahl und Kette fehlte jede Spur.
Ich erforschte mein Gedächtnis, das, von einigen winzigen Lücken und kleinen Verzerrungen einmal abgesehen, vollkommen ist. Ich erinnerte mich an den Pfahl und das Klirren der Kette, als Morwenna unterwürfig die Hände erhob, das Surren der stechenden Mücken und Burdochs Haus, ganz aus Bruchstein gefügt.
»Ist lange her«, meinte ich zu Hadelin.
Matrosen lösten die Falleinen, Segel um Segel landete auf Deck und die Alcyone glitt mit der verbliebenen Fahrt in ihren Hafen. Matrosen mit Bootshaken standen auf den Rosten, die Sonnen- und Vordeck verlängerten, um uns vom Kai abzustoßen und hinzuziehen.
Sie mußten kaum tätig werden. Ein halbes Dutzend Herumstehender eilte herbei und fing unsre Leinen und machte sie fest, und der Steuermann legte so behutsam an, daß die Fender aus altem Tauwerk, die vom Achterschiff der Alcyone hingen, die eichenen Bohlen nur zärtlich küßten. »Fürchterlicher Sturm heute, Kapitän!« rief einer der Herumstehenden. »Hat sich eben erst verzogen. Wasser bis zur Straße gestanden. Glück gehabt, daß ihr in den nicht geraten seid.«
»Sind auch hineingeraten«, erklärte Hadelin.
Ich ging an Land in der Annahme, daß es wohl zwei Dörfer gleichen Namens geben müsse – Saltus und Neusaltus oder etwas in der Art.
Beim Gasthaus angelangt, zeigte sich, daß es anders war, als ich es in Erinnerung hatte, aber auch nicht vollständig anders. Der Hof mit Brunnen war ziemlich gleich geblieben; ebenso die breiten Tore, durch die Reiter und Wagen eingelassen wurden. Ich setzte mich in die Gaststube und bestellte Abendessen bei einem Wirt, den ich nicht kannte, wobei ich mich immer wieder fragte, ob Hadelin und Burgundofara sich zu mir setzen würden.
Das taten sie nicht; statt dessen kamen nach einer Weile Herena und Declan an meinen Tisch und brachten den rauhen Seemann mit, der den Haken am Achterschiff gehalten hatte, und eine speckige Frau mit verkniffenem Gesicht, die sie als Köchin des Schiffs vorstellten. Ich lud sie ein, bei mir Platz zu nehmen, was sie nur widerwillig taten und erst, nachdem sie recht deutlich zu verstehen gegeben hatten, daß sie sich von mir weder Essen noch Wein spendieren ließen. Ich fragte den Seemann (der wohl schon oft hier eingekehrt war), ob es keine Bergwerke in der Gegend gäbe. Er erzählte, vor rund einem Jahr sei ein Stollen in einen Berg getrieben worden auf Anraten eines Hatifs, der mehreren bedeutsamen Bürgern des Dorfes zugeredet habe, und daß einige interessante, wertvolle Funde ans Licht gekommen seien.
Von der Straße draußen dröhnte Stiefelstampfen herein, das auf ein scharfes Kommando innehielt. Es erinnerte mich an die Kelau, die mit Gesang vom Fluß herauf und durch jenes Saltus marschiert waren, das ich als verstoßener Geselle aufgesucht hatte, und ich wollte schon von ihnen erzählen in der Hoffnung, damit das Gespräch auf den Krieg gegen Ascien zu lenken, als die Tür aufflog und ein farbenprächtig uniformierter Offizier hereintrat, dem Füsiliere folgten.
Es war munter geplaudert worden in der Gaststube; nun wurde es totenstill.
Der Offizier brüllte den Wirt an: »Zeig mir den Mann, den ihr Schlichter nennt!«
Burgundofara, die mit Hadelin an einem Tisch saß, erhob sich und deutete auf mich.