Bei den Dorfbewohnern

 

Mein Leben hat mir viel Kummer und Freude beschert, aber wenige Wonnen jenseits des simplen Genusses von Liebe und Schlaf, frischer Luft und gutem Essen, wie das jeder kennt. Zu den größten Freuden zähle ich das Mienenspiel des Hetmans beim Anblick des Arms seiner Tochter. Es war eine Mischung aus Staunen und Scheu und heller Freude, so daß ich ihm gern den Bart rasiert hätte, um es besser zu sehen. Herena genoß es wohl ebenso wie ich; als sie sich daran geweidet hatte, umarmte sie ihn und sagte, sie habe uns eine Stärkung versprochen, woraufhin sie im Eingang verschwand, um der Mutter um den Hals zu fallen.

Sobald auch wir das Haus betreten hatten, schlug die Furcht der Dorfbewohner in Neugier um. Die Kühnsten drängten herein und hockten sich wortlos hinter uns, die wir auf Matten um ein Tischchen saßen, wo die Frau des Hetmans – die unentwegt weinte und sich auf die Lippen biß – unser Festmahl auftrug. Die übrigen lugten durch den Eingang und spähten durch Risse in den fensterlosen Mauern.

Es gab Pfannkuchen aus zerstoßenem Mais, lädierte Äpfel, die Frost abbekommen hatten, Wasser und (eine Delikatesse, die bei manchem stummen Betrachter den Speichelfluß sichtlich anregte) die Keulen zweier Hasen, die gedünstet, eingelegt und gesalzen waren und kalt serviert wurden. Der Hetman und die Seinen enthielten sich des Fleisches. Ich habe es Festmahl genannt, denn ein solches ist es in den Augen dieser Leute gewesen; die schlichte Seemannskost indes, die wir vor wenigen Wachen auf dem Tender zu uns genommen hatten, wäre im Vergleich dazu ein Bankett gewesen.

Ich hatte keinen großen Hunger, wie sich zeigte, sondern war müde und ungemein durstig. Ich aß einen Pfannkuchen und kostete lustlos vom Fleisch, während ich reichlich Wasser trank. Dann beschloß ich, daß es weitaus höflicher sei, dem Hetman und seiner Familie nicht alles wegzuessen, wo sie doch offenbar so wenig hatten, und fing an, Nüsse zu knacken.

Das betrachtete der Gastgeber anscheinend als Aufforderung zum Sprechen. Er sagte: »Ich bin Bregwyn. Unser Dorf heißt Vici. Meine Frau heißt Cinnia. Unsre Tochter Herena. Diese Frau«, – er nickte in Richtung Burgundofara –, »sagt, du bist ein guter Mensch.«

»Ich heiße Severian. Sie heißt Burgundofara. Ich bin ein schlechter Mensch, der danach strebt, ein guter zu sein.«

»Wir in Vici erfahren wenig von der weiten Welt. Vielleicht willst du uns sagen, welcher Umstand euch in unser Dorf geführt hat.«

Obwohl er, um seine Neugier zu stillen, durchaus höflich darum bat, zögerte ich. Er wäre ein leichtes gewesen, den Dorfbewohnern irgendeine Geschichte von einer Geschäftsreise oder einem Pilgergang weiszumachen, und wenn ich gesagt hätte, ich wollte Burgundofara in ihr Dorf am Ozean zurückbringen, so wäre das nicht unbedingt gelogen gewesen. Aber hatte ich das Recht dazu? Um diese Leute zu retten, war ich, wie ich Burgundofara versichert hatte, ans Ende des Universums gegangen. Ich betrachtete die von Arbeit gezeichnete weinende Frau des Hetmans und die Männer mit ihren grauen Bärten und rauhen Händen. Welches Recht hatte ich, sie wie Kinder zu behandeln?

»Diese Frau«, sagte ich, »stammt aus Liti. Vielleicht kennst du’s?«

Der Hetman schüttelte den Kopf.

»Die Leute von Liti sind Fischer. Sie sucht einen Heimweg.« Ich holte tief Luft. »Ich …« Der Hetman beugte sich unmerklich vor, während ich nach Worten suchte. »Ich habe Herena helfen können. Sie ganz machen können. Das weißt du.«

»Dafür danken wir«, sagte er.

Burgundofara tippte mich auf den Arm. Als ich sie ansah, sagten mir ihre Augen, daß es gefährlich sein könne, was ich hier tat. Aber das wußte ich selbst.

»Auch die Urth ist nicht ganz.«

Der Hetman und alle andern Männer, die mit dem Rücken zur Wand saßen, rückten näher. Ich sah ein paar nicken.

»Ich bin gekommen, um sie ganz zu machen.«

Als würde er die Worte unfreiwillig herauslassen, sagte einer der Männer: »Es hat geschneit, ehe das Getreide reif gewesen ist. Schon das zweite Jahr.« Einige nickten, und derjenige, der hinter dem Hetman und somit mir gegenüber saß, bemerkte: »Das Himmelsvolk grollt uns.«

Ich versuchte zu erklären. »Das Himmelsvolk – die Hierodulen und Hierarchen – haßt uns nicht. Es steht uns nur fern und fürchtet uns dessentwegen, was wir dereinst getan haben, als unsre Rasse noch jung war. Ich bin bei ihnen gewesen.« Ich betrachtete die ausdruckslosen Gesichter und fragte mich, ob mir denn einer glaubte. »Ich habe geschlichtet – die Distanz zwischen uns und ihnen wohl verringert. Sie haben mich zurückgeschickt.«

In jener Nacht, als ich bei Burgundofara in der Hütte des Hetmans lag (die zu räumen er und seine Frau und Tochter sich nicht hatten nehmen lassen), hatte sie gesagt: »Zuletzt werden sie uns wohl umbringen.«

Ich hatte ihr versprochen: »Wir ziehen morgen weiter.«

»Sie werden uns nicht lassen«, hatte sie erwidert; und der Morgen zeigte, daß ein jeder von uns auf seine Weise recht behielt. Wir zogen tatsächlich weiter, aber die Dorfbewohner erzählten uns von einem andern wenige Meilen entfernten Dorf, das Gurgustii hieß, und begleiteten uns dorthin. Als wir dort ankamen, wurde Herenas Arm vorgezeigt, der großes Aufsehen erregte, und abermals wurden wir (nicht nur Burgundofara und ich, sondern auch Herena, Bregwyn und die andern) groß bewirtet, wobei frischer Fisch die Hasen ersetzte.

Anschließend wurde mir von einem Mann berichtet, der ein herzensguter Mensch und für Gurgustii sehr bedeutsam war und der nun todkrank darniederlag. Ich erklärte den Dorfbewohnern, daß ich nichts versprechen könne, aber ihn untersuchen und ihm eventuell helfen würde.

Die Hütte, in der er lag, mutete mich so alt an wie der Mann selbst und roch nach Siechtum und Tod. Ich hieß die Dorfbewohner, die mit mir hereingeströmt waren, die Hütte zu räumen. Nachdem sie gegangen waren, stöberte ich herum, bis ich eine alte Matte fand, die groß genug war, um den Eingang zu verhängen.

Als die Tür verhängt war, wurde es so dunkel, daß ich den Kranken kaum mehr sehen konnte. Als ich mich über ihn beugte, hatte ich den Eindruck, daß sich meine Augen auf die Dunkelheit einstellten. Sogleich merkte ich, daß es nicht mehr stockfinster war. Ein schwacher Lichtschein umspielte ihn, der sich synchron zu meinen Augen bewegte. Mein erster Gedanke war, er stamme vom Dorn, den ich im Ledersäckchen verwahrte, das Dorcas für die Klaue genäht hatte, obwohl es undenkbar war, daß er durchs Leder und mein Hemd leuchten könnte. Ich nahm ihn heraus. Er war dunkel wie damals, als ich den Korridor vor meiner Kabine damit erleuchten wollte. So steckte ich ihn wieder weg.

Der Kranke schlug die Augen auf. Ich nickte ihm zu und rang mir ein Lächeln ab.

»Seid Ihr gekommen, um mich zu holen?« fragte er. Seine Stimme war nur ein Hauch.

»Ich bin nicht Gevatter Tod«, stellte ich richtig, »obwohl ich oft mit ihm verwechselt worden bin.«

»Ich hielt Euch dafür, Sieur. Ihr seht so gütig aus.«

»Willst du sterben? Du bist im Nu hin, wenn du willst.«

»Ja, wenn ich nicht geheilt werden kann.« Er schlug die Augen wieder zu.

Ich zog die wollenen Decken zurück, in die er gehüllt war. Er war nackt darunter. Seine rechte Seite war angeschwollen, hatte eine kindskopfgroße Beule. Ich glättete sie mit ein paar streichenden Handbewegungen, gepackt von der Kraft, die mir aus der Urth in die Beine fuhr und mir aus den Fingern strömte.

Plötzlich war es wieder finster in der Hütte. Ich hockte auf dem gestampften Lehmboden und lauschte gebannt dem Atmen des Kranken. So verstrich anscheinend eine lange Zeit. Dann stand ich auf; ich war müde und fühlte mich krank – genauso hatte ich mich nach der Hinrichtung von Agilus gefühlt. Ich entfernte die Matte und ging hinaus ins Freie, wo die Sonne schien.

Burgundofara umarmte mich. »Fehlt dir etwas?«

Ich beruhigte sie und fragte, ob wir uns nicht irgendwo setzen könnten. Ein stark gebauter Mann mit lauter Stimme – vermutlich ein Verwandter des Kranken – bahnte sich mit den Ellbogen einen Weg durch die Menge und wollte wissen, ob ›Declan‹ wieder gesund werde. Ich erwiderte, das wisse ich nicht, während ich in die Richtung drängte, in die Burgundofara deutete. Es war nach Mittag und warm, wie man es an solchen Herbsttagen zuweilen erlebt. Wäre ich in bessrer Verfassung gewesen, hätte ich die wogende schwitzende Menge der Leibeigenen als komisch empfunden; es war der gleiche Haufen, den wir am Ctesiphon-Kreuz nach Dr. Talos’ Spiel das Fürchten gelehrt hatten. Nun freilich erstickte mich die Menge.

»Sag!« schrie mir der starke Mann ins Gesicht. »Wird er wieder gesund?«

Ich wandte mich an ihn. »Mein Freund, wenn du meinst, weil dein Dorf mit mir Speise und Trank aufgewartet hat, so müßte ich dir nun Rede und Antwort stehen, so irrst du!«

Er wurde fortgezerrt und vermutlich niedergeschlagen. Zumindest hörte ich einen Schlag.

Herena nahm mich bei der Hand. Die Menge teilte sich vor uns, und sie führte mich zu einem ausladenden Baum, unter dem wir uns auf dem blanken weichen Boden niederließen, wo vermutlich die Dorfältesten Rat hielten.

Jemand trat vor uns, verneigte sich und fragte, ob ich etwas wünschte. Ich verlangte nach Wasser. Eine Frau brachte kühles Naß vom Fluß in einem Krug, der sich beschlug und über den ein Becher gestülpt war. Herena hatte zu meiner Rechten Platz genommen und Burgundofara zur Linken, und wir reichten den Becher zwischen uns umher.

Der Hetman von Gurgustii kam herbei. Mit einer Verbeugung erklärte er, auf Bregwyn deutend: »Mein Bruder sagt, daß Ihr in einem Schiff in sein Dorf gekommen seid, das über die Wolken segelt, und daß Ihr gekommen seid, um uns mit den Mächten des Himmels zu versöhnen. All unser Lebtag sind wir zu den heiligen Stätten gegangen und haben unseren Opferrauch emporgesandt, dennoch zürnt das Himmelsvolk unsrer und sendet Frost. In Nessus sagt man, die Sonne erkalte …«

»Wie weit ist’s?« unterbrach Burgundofara.

»Das nächste Dorf ist Os, gnädige Frau. Von dort aus fährt man einen Tag per Schiff nach Nessus.«

»Und von Nessus kriegen wir eine Überfahrt nach Liti«, flüsterte Burgundofara mir zu.

Der Hetman fuhr fort: »Dennoch erhebt der Monarch Steuern wie eh und je und nimmt unsre Kinder, wenn wir ihm kein Getreide geben können. Wir sind zu den heiligen Stätten gegangen wie unsre Väter. Wir von Gurgustii haben unsern besten Widder verbrannt vor dem Frosteinbruch. Was ist’s, das wir statt dessen tun sollen?«

Ich versuchte, ihnen zu erklären, daß die Hierodulen uns fürchteten, weil wir uns in den alten glorreichen Tagen der Urth über alle Welten ausgebreitet und viele andere Rassen ausgerottet und unsre Grausamkeit und die Fackel des Krieges überall hingetragen hatten. »Wir müssen eins sein«, sagte ich. »Wir dürfen nur die Wahrheit sagen, auf daß Verlaß ist auf unsre Versprechen. Wir müssen die Urth hegen, wie ihr eure Äcker hegt.«

Er und manch anderer nickten, als hätten sie verstanden. Vielleicht verstanden sie mich wirklich, oder aber sie verstanden mich wenigstens teilweise.

Es brach ein Tumult aus hinten in der Menge; Geschrei und Jubel und Schluchzen. Alle, die gesessen hatten, sprangen auf, obwohl ich zu müde dazu war. Nach weiterem Geschrei und Geplärr wurde der Kranke vorgeführt, der immer noch nackt war bis auf ein Tuch, das ich als Stück seiner wollenen Decken erkannte und das er sich um die Lenden gebunden hatte.

»Das ist Declan!« rief jemand. »Declan, berichte dem Sieur, wie du gesund geworden bist.«

Er versuchte zu sprechen, aber ich konnte ihn nicht verstehen. Ich bedeutete den andern, still zu sein.

»Als ich in meinem Bett lag, Herr, erschien mir ein in Licht gewandeter Seraph.« Die Leibeigenen kicherten bei seinen Worten und stießen sich in die Seite. »Er fragte mich, ob ich sterben wolle. Ich antwortete ihm, ich wolle leben, worauf ich in Schlaf fiel. Als ich wieder erwachte, war ich, wie ihr mich jetzt seht.«

Die Leibeigenen lachten, und einige sagten: »Der Sieur hier hat dich geheilt«, und dergleichen mehr.

Ich rief ihnen zu: »Der Mann war dabei, ihr aber wart es nicht! Ihr macht euch lächerlich, wenn ihr behauptet, mehr zu wissen als ein Augenzeuge!« Das war die Frucht der vielen Verhandlungstage, denen ich beim Gericht des Archons zu Thrax beigewohnt hatte, und mehr noch, fürchte ich, die Frucht der Erfahrung, die ich als Autarch und Richter gesammelt hatte.

Obwohl Burgundofara nach Os weiterziehen wollte, war ich zu müde, um noch einen Schritt zu tun an jenem Tag; außerdem wollte ich nicht wieder in einer stickigen Hütte schlafen. Ich sagte den Dorfbewohnern von Gurgustii, daß Burgundofara und ich unter ihrem Ratsbaum schlafen wollten und daß sie in ihren Häusern Unterkünfte für diejenigen finden sollten, die mich von Vici begleitet hatten. Sie taten, was ich verlangte; als ich indes in den Wachen der Nacht erwachte, lag Herena bei uns.