Tzadkiel

 

Am Vortag hatten die Seeleute in den vorderen Reihen des Gerichtssaals gesessen. Nun fiel mir, als ich ihn abermals betrat, sofort auf, daß sie nicht an ihren Plätzen waren. Diejenigen, welche nun ihre Plätze einnahmen, waren in Dunkelheit gehüllt, welche von ihnen selbst auszugehen schien, während die Seeleute beim Portal und an den Saalseiten warteten.

Durch die düsteren Gestalten und den langen Gang blickend, der zu Tzadkiels Richterstuhl führte, sah ich Zak auf dem Thron sitzen. Beidseitig waren die Wände aus weißem Stein anscheinend mit Tapisserien aus feinsten Garnen mit einem Augenmuster in prächtigsten Farben behangen. Erst als sie sich bewegten, merkte ich, daß es seine Flügel waren. Apheta hatte mich am Fuße der Treppe alleingelassen, und von dem Moment an war ich unbewacht. Als ich Zak verdutzt anstarrte, kamen zwei Matrosen, nahmen mich am Arm und führten mich zu ihm. Sodann entfernten sie sich, und ich stand gebeugten Hauptes vor ihm. Diesmal drängte sich keine Rede des alten Autarchen auf. Ich war völlig durcheinander. »Zak«, stammelte ich schließlich, »ich stehe hier als Verteidiger der Urth.«

»Ich weiß«, sagte er. »Willkommen.« Seine Stimme war tief und rein wie ferner Hörnerklang, so daß ich an ein Märchen über Gabriel denken mußte, der das Kriegshorn des Himmels, das am Regenbogen aufgehängt war, auf dem Rücken trug. Es erinnerte mich an Theclas Buch, worin ich sie gelesen hatte; und das wiederum an den mannsgroßen Band, der in schillerndes Leder gebunden war und den mir der alte Autarch gezeigt hatte, als ich nach dem Weg in den Garten fragte, vermutete er doch, nachdem er von mir erfahren hatte, ich sei gekommen, um seinen Platz einzunehmen und mich unverzüglich als Verteidiger der Urth auf den Weg zu machen.

Nun wußte ich, daß ich Tzadkiel gesehen hatte, bevor ich Sidero und den andern half, ihn in Gestalt von Zak einzufangen, und daß die männliche Gestalt, die ich gesehen hatte, ebensowenig (aber auch ebensogut) echt war wie die geflügelte Frau, deren Blick mich gebannt hatte, und daß weder die eine noch die andere Gestalt echter oder unechter war als die Kreatur, die mich gerettet hatte, als Purn mich vor dem Käfig ermorden wollte.

Und ich sagte: »Sieur – Zak – Tzadkiel, mächtiger Hierogrammat – ich verstehe nicht.«

»Meinst du, du verstehst mich nicht? Kein Wunder. Ich verstehe mich selber nicht, Severian, wie ich auch dich nicht verstehe. Dennoch bin ich, was ich bin und wozu deine Rasse uns gemacht hat vor der Apokatastase. Wurde dir nicht gesagt, sie hätte uns nach ihrem Ebenbild geformt?« Ich wollte etwas sagen, aber brachte nichts hervor. Schließlich nickte ich.

»Die Form, die du nun hast, war ihre erste, die Gestalt, die sie ausbildete, als sie frisch vom Tier abstammte. Alle Rassen ändern sich in den Mühlen der Zeit. Bist du dir dessen bewußt?«

Ich entsann mich der Menschenaffen in der Mine. »Nicht immer zum bessren.«

»Du sagst es. Aber die Hieros nahmen die eigene Formgebung selbst in die Hand und ebenso, damit wir ihnen folgten, die unsre.«

»Sieur …«

»Frag! Deine letzte Prüfung rückt näher, und es kann keine gerechte sein. Was wir an Reparationen leisten können, das werden wir wiedergutmachen. Jetzt oder später.«

Mir stockte das Herz bei diesen Worten. Hinter mir auf den Bänken wurde geraunt; das Tuscheln klang wie das Rascheln von Blättern im Wald. Nichtsdestoweniger wußte ich nicht, wer da saß.

Als ich meiner Stimme wieder mächtig war, sagte ich: »Sieur, es ist eine dumme Frage. Aber ich kenne zwei Geschichten von Gestaltwandlern, und in der einen reißt sich ein Engel – und ein solcher seid wohl auch Ihr, Sieur – die Brust auf und gibt seine Gabe zur Verwandlung der Gestalt einer Hausgans, welche sie benutzt, um hinfort eine schnelle Graugans zu sein. Gestern abend sagte die Dame Apheta, ich müsse nicht immer ein lahmes Bein haben. Sieur, war er – war Melito – beauftragt, mir diese Geschichte zu erzählen?«

Ein feines Lächeln umspielte Tzadkiels Mundwinkel, das mich an Zaks Grinsen erinnerte. »Wer weiß? Von mir nicht. Du mußt wissen, wenn eine Wahrheit bekannt ist, wie diese seit so vielen Äonen, so dringt sie hinaus und wandelt sich und nimmt mannigfache Gestalt an. Aber wenn du verlangst, daß ich dir meine Gabe abtrete, so kann ich das nicht. Könnten wir sie willentlich übertragen, gäben wir sie unsern Kindern weiter. Du bist ihnen begegnet; sie sind nach wie vor gefangen in der Form, die du noch innehast. Hast du noch eine Frage, bevor wir fortfahren?«

»Ja, Sieur. Tausend. Aber wenn mir nur eine gestattet ist: Warum seid Ihr dann an Bord des Schiffes gekommen?«

»Weil ich dich kennenlernen wollte. Hast du als Knabe in deiner Welt nicht das Knie vor dem Schlichter gebeugt?«

»An Sankt Katharinen, Sieur.«

»Und hast du an ihn geglaubt? Von ganzem Herzen geglaubt?«

»Nein, Sieur.« Ich glaubte schon, für meinen Unglauben bestraft zu werden, und bis zum heutigen Tag weiß ich nicht, ob ich tatsächlich bestraft worden bin.

»Angenommen ja. Hast du denn keine Gleichaltrigen gekannt, die geglaubt haben?«

»Die Akulothen, Sieur. Zumindest wurde uns das gesagt, die wir Lehrlinge der Folterer waren.«

»Hätten diese nicht mit ihm gehen wollen? Ihm beistehen wollen in der Gefahr? Ihn pflegen wollen bei der Krankheit? Ich war ein solcher Akoluth in einer nun verschwundenen Schöpfung. Auch die hatte ihren Schlichter und ihre Neue Sonne, obwohl diese anders hießen. Aber jetzt müssen wir über etwas anderes sprechen, und zwar schnell. Ich habe viele Pflichten, die mich teilweise mehr beanspruchen. Ich darf dir also offen sagen, daß wir dich getäuscht haben, Severian. Du bist gekommen, um dich unsrer Prüfung zu stellen, und so haben wir es dir gegenüber formuliert. Wir haben dir sogar weisgemacht, dieses Haus sei unser Justizpalast. Nichts von alledem stimmt.«

Ich war sprachlos.

»Oder, wenn ich mich anders ausdrücken darf, du hast die Prüfung bereits bestanden, eine Prüfung der Zukunft, die du schaffen wirst. Du bist die Neue Sonne. Du wirst auf deine Urth zurückgebracht, und der Weiße Born geht mit dir. Die Todesqualen der Welt, wie du sie kennst, werden dem Increatus geweiht. Und sie werden unbeschreiblich sein: Ganze Kontinente werden, wie gesagt, untergehn. Vieles Schöne wird vergehn und damit der Großteil deiner Rasse; aber deine Heimat wird wiedergeboren werden.«

Obwohl es mir gegeben ist, den genauen Wortlaut niederzuschreiben, was ich hiermit getan habe, vermag ich nicht, den benutzten Tonfall oder die Überzeugung wiederzugeben, die darin zum Ausdruck gekommen ist, auch nur anzudeuten. Seine Gedanken schienen vorauszueilen und Bilder in mir zu erwecken, die realer als die Realität wirkten, so daß ich, während ich mir den Untergang der Kontinente vorstellte, Bauten einstürzen hörte und den beißenden Seewind der Urth roch.

Ungehaltenes Raunen wurde hinter mir laut.

»Sieur«, sagte ich, »ich kann mich an die Prüfung meines Vorgängers erinnern.« Ich fühlte mich, wie ich mich als jüngster unsrer Lehrlinge gefühlt hatte.

Tzadkiel nickte. »Es war notwendig, daß du dich daran erinnerst; allein aus diesem Grunde wurde er geprüft.«

»Und entmannt?« Der alte Autarch in mir zitterte, und ich spürte, wie mir die Hände zitterten.

»Ja, andernfalls hätte ein Kind zwischen dir und dem Thron gestanden, und deine Urth wäre für immer untergegangen. Der Tod des Kindes war die Alternative. Wäre das besser gewesen?«

Ich konnte nicht sprechen; sein dunkler Blick schien die Herzen, die in mir schlugen, zu durchbohren. Zuletzt schüttelte ich den Kopf.

»Nun muß ich gehn. Mein Sohn wird dafür sorgen, daß du nach Briah und auf die Urth zurückkehrst, die vernichtet wird auf dein Geheiß.«

Er nahm den Blick von mir und schaute hinter mich in den Gang, wo ich den Mann stehen sah, der uns vom Schiff hergebracht hatte. Die Matrosen erhoben sich und zückten die Messer, was ich kaum wahrnahm. Die Plätze in der Mitte, die sie am Vortag innegehabt hatten, waren nun von anderen besetzt, die nicht länger im Dunkeln saßen. Der Schweiß brach mir aus der Stirn wie das Blut, als ich Tzadkiel zum ersten Mal gesehen hatte, und ich wandte mich um, um ihm zuzurufen.

Er war weg.

Ob lahmes Bein oder nicht, ich rannte, ich humpelte, so schnell ich konnte, um den Richterstuhl herum, um die Stiege zu finden, durch die ich am Vorabend abgeführt worden war. Es ist wohl nur gerecht, wenn ich sage, daß ich nicht sosehr vor den Matrosen davonrannte, sondern vor den Gesichtern der andern, die ich im Saal gesehen hatte.

Jedenfalls war auch die Stiege weg. Ich fand lediglich einen Boden aus glatten Platten vor, wovon sich zweifelsohne eine durch einen geheimen Mechanismus heben ließ.

Nun setzte sich ein anderer Mechanismus in Gang. Schnell und zügig versenkte sich Tzadkiels Thron, wie ein Wal wieder ins Packeis der Südmeere taucht. Noch stand der wuchtige Sitzstein unverrückbar wie eine Mauer zwischen mir und dem Saal; aber im nächsten Moment schob sich der Boden darüber zu und entbrannte vor mir eine phantastische Schlacht.

Der Hierarch, den Tzadkiel seinen Sohn genannt hatte, lag niedergestreckt im Mittelgang. Über ihn hinweg stürmten mit blitzenden, meist blutverschmierten Dolchen die Matrosen an. Ihnen widersetzten sich knapp zwei Dutzend Gestalten, die zunächst schwach wie Kinder wirkten – und in der Tat sah ich wenigstens ein Kind darunter –, aber heldenhaft die Stellung hielten und schließlich, als sie keine Waffen mehr hatten, mit blanken Händen kämpften. Weil sie mir den Rücken zukehrten, so redete ich mir ein, erkannte ich sie nicht; aber ich wußte, das war gelogen.

Mit Gebrüll, das von den Wänden widerhallte, brach der Alzabo aus den Umzingelten hervor. Die Matrosen fielen zurück, und im nächsten Moment zermalmte er einen Mann mit seinen Kiefern. Ich sah Agia mit ihrem vergifteten Schwert und auch Agilus, der eine blutrote Averne wie einen Streitkolben schwang, und Baldanders, der unbewaffnet war, bis er eine Matrosin schnappte und einen andern damit zu Boden knüppelte.

Und Dorcas, Morwenna, Cyriaca und Casdoe. Thecla, bereits niedergestreckt; die Blutung am Hals stillte ein Lumpen auf dem Leib tragender Lehrling. Guasacht und Erblon hieben um sich, als säßen sie im Sattel. Daria schwang einen Säbel in jeder Hand. Irgendwie wieder in Ketten, erdrosselte Pia einen Seemann mit der Kette.

Ich stürzte an Merryn vorbei und fand mich zwischen Gunnie und Dr. Talos wieder, dessen blitzende Klinge einen Mann traf, der mir vor die Füße fiel. Ein grimmiger Matrose griff mich an, und ich – das schwöre ich – erwartete ihn froh ob seiner Waffe, packte ihn am Handgelenk, brach ihm den Arm und entwand ihm das Messer, alles mit einer Bewegung. Dies mit einer Leichtigkeit, die mich verwunderte, doch blieb mir keine Zeit zum Staunen; schon bohrte ihm Gunnie das Messer in den Hals.

Kaum hatte ich mich in den Kampf geworfen, schien dieser vorbei. Einige Matrosen flohen aus dem Saal; zwanzig bis dreißig Tote lagen auf dem Boden oder den Bänken. Die meisten Frauen waren tot, obwohl ich eine ihre blutenden Fingerstummel lecken sah. Der alte Winnoc lehnte müde auf einem Krummsäbel, wie er von den Sklaven der Pelerinen getragen wurde. Dr. Talos zerschnitt den Mantel eines Toten, um die Klinge seines Gehstockschwerts zu säubern, und ich sah, daß der Tote Meister Ash war.

»Wer sind die?« fragte Gunnie.

Ich schüttelte den Kopf, denn ich wußte es selbst nicht recht. Dr. Talos ergriff ihre Hand und berührte sie flüchtig mit den Lippen. »Gestatten, ich bin Dr. Talos, Arzt, Dramatiker und Impresario. Ich bin …« Ich hörte nicht länger zu. Triskele kam mit blutigen Läufen angetrabt, wedelte vor Freude mit dem Schwanz. Meister Malrubius im pelzverbrämten Zunftmantel kam hintendrein. Als ich Meister Malrubius sah, wußte ich es, was auch er, als er mich sah, wußte.

Sogleich zerfiel er – und mit ihm Triskele, Dr. Talos, der tote Meister Ash, Dorcas und die andern – in silbernen Staub, in nichts, wie er sich damals nachts am Strand aufgelöst hatte, nachdem er mich aus dem sterbenden Dschungel des Nordens befreit hatte. Gunnie und ich blieben allein zurück bei den toten Matrosen.

Nicht alle waren tot. Einer rührte sich stöhnend. Wir versuchten, die Wunden an der Brust (sie stammten vermutlich von der schmalen Klinge des Doktors) mit Fetzen zu verbinden, die wir von den Toten abrissen, obgleich auch aus dem Mund Blut quoll. Nach einer Weile kamen die Hierarchen mit Arzneien und richtigem Verbandszeug und trugen ihn fort.

Mit ihnen war die Dame Apheta gekommen, die nun bei uns blieb.

»Du hast gesagt, ich sähe dich nicht wieder«, gemahnte ich sie.

»Ich sprach von vielleicht«, korrigierte sie mich. »Wäre die Sache hier anders ausgegangen, hättest du mich nicht wiedergesehn.«

In der Stille dieser Totenkammer war ihre Stimme nicht mehr als ein Hauchen.