Die Vernehmung
Ich lief hinter ihm her und sah bald, daß seine Schritte zwar lang, aber schwerfällig waren – Baldanders war ein bessrer Läufer gewesen – und daß ihn die auf den Rücken gefesselten Hände behinderten.
Behindert war auch ich. Ich hatte das Gefühl, an meinem lahmen Bein hinge ein Klotz, und das Wettrennen war für mich ganz bestimmt schmerzhafter als sein Sturz. Die Fenster – entweder magisch oder lediglich geschickt angelegt – zogen an mir vorbei, als ich durch den Korridor humpelte. Durch manche schaute ich absichtlich, durch andere unbewußt. Dennoch habe ich sie mir alle bewahrt in der staubigen Kammer, die hinter oder vielleicht unter meinem Verstand liegt. Da war das Gerüst, auf dem ich einst eine Frau gebrandmarkt und enthauptet hatte, ein dunkles Flußufer und das Dach eines bestimmten Grabes.
Ich hätte über die Fenster gelacht, wenn ich nicht bereits über mich selbst gelacht hätte, um nicht in Tränen auszubrechen. Die Hierogrammaten, die das Universum beherrschten und das, was hinter dem Universum lag, hatten nicht nur einen andern mit mir verwechselt, sondern versuchten nun, mich, der ich nichts vergessen konnte, an Szenen meines Lebens zu erinnern. Dies gelang ihnen (wie mir schien) weniger vollkommen, als es mein Gedächtnis zustande gebracht hätte; denn obschon die Details stimmten, mangelte es jeder Ansicht an Feinheiten.
Ich konnte nicht stehenbleiben oder glaubte zumindest, ich dürfe nicht stehenbleiben. Allerdings drehte ich zuletzt den Kopf und betrachtete eines der Fenster im Vorübergehen, wie ich keines so genau betrachtet hatte Es öffnete sich zum Sommerhaus in Abdiesus’ Lustgarten, wo ich Cyriaca ausgefragt und schließlich befreit hatte; und bei dieser näheren Betrachtung merkte ich schließlich, daß ich diese Orte nicht sah, wie ich sie gesehen und mir eingeprägt hatte, sondern wie Cyriaca, Jolenta, Agia und so weiter sie gesehen hatten. So gewahrte ich beispielsweise, als ich ins Sommerhaus blickte, daß jemand Furchteinflößendes, aber zugleich Gütiges präsent war jenseits des vom Fenster umrahmten Ausschnitts – meine Person.
Es war das letzte Fenster. Der düstere Korridor endete, und vor mir tat sich ein zweiter Bogen auf, der in der Sonne strahlte. Bei seinem Anblick wußte ich mit der krankmachenden Gewißheit, die nur nachvollziehen kann, wer in der Zunft aufgewachsen ist, daß mir mein Klient entwischt war.
Ich stürmte durch den Torbogen und sah ihn verwirrt im Säulengang des Justizpalastes stehen, wo ihn eine wogende Menge umringte. Im selben Moment sah er auch mich und versuchte sich durch die Menge zum Haupteingang zu zwängen.
Ich rief, man solle ihn aufhalten, aber die Menge bildete eine Gasse vor ihm, während sie mich anscheinend absichtlich behinderte. Ich fühlte mich wie in einem der Alpträume, die mich als Liktor von Thrax heimgesucht hatten, und glaubte schon, jeden Moment keuchend zu erwachen und die drückende Klaue an der Brust zu spüren.
Eine schmächtige Frau aus der Menge stürzte sich auf Zak und faßte ihn am Arm, aber der schüttelte sich nur, wie ein Stier sich schüttelt, um sich der Spieße in der Haut zu entledigen. Sie stürzte, packte ihn aber am Fußgelenk.
Das reichte. Ich bekam ihn zu fassen, und obwohl ich wieder einmal lahm war hier, wo Yesod mit gleicher oder nahezu gleicher Gier wie Urth alles an sich zog, war ich doch stark und er immerhin gefesselt. Den Arm um seinen Hals geschlungen, beugte ich ihn nach hinten, wie man einen Bogen spannt. Augenblicklich ließ er locker; und ich wußte, wie man zuweilen auf mysteriöse Weise durch eine bloße Berührung spürt, was ein anderer beabsichtigt, daß er mir keinen Widerstand mehr leisten werde. Ich ließ ihn los.
»Wehr mich nicht«, sagte er. »Lauf nicht mehr weg.«
»Gut«, meinte ich darauf und bückte mich, um die Frau aufzuheben, die mir geholfen hatte. Nun erkannte ich sie wieder und richtete, ohne lange zu überlegen, den Blick auf ihr Bein. Es war völlig normal, das heißt vollständig geheilt.
»Danke«, murmelte ich. »Danke, Hunna.«
Sie machte große Augen. »Hielt Euch für meine Herrin. Weiß nicht warum.«
Oftmals muß ich mich beherrschen, um nicht Theclas Stimme über meine Lippen kommen zu lassen. Nun ließ ich es zu. Wir sagten noch einmal danke und setzten hinzu: »Du hast dich nicht geirrt«; und lächelten ob ihrer Verwirrung. Kopfschüttelnd tauchte sie wieder in die Menge ein, und ich bemerkte eine hochgewachsene Frau mit dunklem lockigen Haar, die durch den Bogen trat, in den ich Zak geführt hatte. Selbst nach so vielen Jahren konnte kein Zweifel, keinerlei Zweifel bestehen. Wir versuchten, sie beim Namen zu rufen. Der Name blieb uns im Hals stecken, so daß wir kläglich verstummten.
»Nicht weinen«, sagte Zak, dessen tiefe Stimme irgendwie kindlich klang. »Bitte nicht. Es wird bestimmt alles wieder gut.«
Ich wollte ihm sagen, daß ich nicht weinte, als ich merkte, daß ich doch weinte. Falls ich je geweint habe, dann in früher Kindheit, so daß ich es praktisch vergessen habe: Der Lehrling lernt, die Tränen zu beherrschen; wenn nicht, wird er von den übrigen Lehrlingen gefoltert, bis der Tod eintritt. Thecla hatte manchmal geweint, weinte öfter in der Zelle. Thecla, die ich gerade gesehen hatte.
Ich sagte: »Ich weine, weil ich unbedingt zu ihr will. Wir müssen hineingehen.«
Er nickte, und so nahm ich ihn beim Arm und führte ihn in den Vernehmungssaal. Der Korridor, in den die Dame Apheta mich geschickt hatte, verlief rings um den Saal, und ich führte Zak durch einen breiten Mittelgang, während uns die Seeleute von den erhöhten Sitzen betrachteten. Es waren allerdings mehr Sitzplätze vorhanden als Seeleute, so daß diese nur die vordersten Reihen einnahmen.
Vor uns stand der Richterstuhl, der weitaus erhabener und strenger war als jeder Richterstuhl, den ich auf Urth gesehen hatte. Der Phönixthron war – oder ist, falls er noch existiert unter den Wassern – ein wuchtiger güldener Stuhl, auf dessen Lehne jener Vogel abgebildet ist, der als Symbol der Unsterblichkeit gilt, dargestellt in Gold, Jade, Karneol und Lapislazuli; den Sitz (der ansonsten höllisch unbequem gewesen wäre) schmückte ein samtenes Kissen mit goldenen Quasten.
Der Richterstuhl des Hierogrammaten Tzadkiel war ganz, ganz anders, war gar kein Stuhl, sondern eher ein riesiger Findling aus weißem Gestein, den die Zeit und der Zufall so geformt hatten, daß er einem Sitzmöbel insoweit glich, wie eine Wolke, in der wir das Gesicht eines Geliebten oder das Haupt eines Paladins zu erkennen glauben, der eigentlichen Person gleicht.
Apheta hatte mir nur gesagt, ich würde einen Ring vorfinden im Saal, und während ich mit Zak langsam durch den langen Gang schritt, suchte ich einen Moment lang mit den Augen danach. Der Ring war, was ich zunächst für den einzigen Schmuck des Richterstuhls gehalten hatte: ein schmiedeeiserner Reif, den ein wuchtiger Eisenhaken hielt, der am Ende einer der Armlehnen in den Stein getrieben war. Nun suchte ich nach der erwähnten Schließe, aber sah keine. Dennoch führte ich Zak zum Ring in der Annahme, es werde dort sicher jemand hervortreten und mir helfen.
Niemand half. Ein Blick auf die Handschellen genügte, und ich verstand alles, wie Apheta angekündigt hatte. Dort befand sich die Schließe. Sie war, wie ich fand, so leicht zu öffnen, daß auch Zak sie mit dem Finger aufbekommen hätte. Sie hielt die einzelnen Ketten um die Handgelenke zusammen, so daß das Ganze mit Öffnen der Schließe abfiel. Ich hob es auf, streifte mir die Ketten über die Handgelenke, erhob die Hände über den Kopf, so daß ich die Schließe in den Ring haken konnte, und wartete darauf, vernommen zu werden.
Eine Vernehmung fand nicht statt. Die Matrosen sperrten den Mund auf. Ich hatte gedacht, man würde Zak ergreifen, um seine Flucht zu verhindern. Aber man ließ ihn in Ruhe. Er hockte sich zu meinen Füßen auf den Boden, aber nicht im Schneidersitz (wie ich es an seiner Stelle getan hätte): seine Art zu sitzen erinnerte mich zunächst an einen Hund, dann an ein Atrox oder eine andere Großkatze.
« Ich bin die Inkarnation der Urth und aller ihrer Völker«, erklärte ich den Matrosen. Es war die gleiche Rede, die der alte Autarch gehalten hatte, wie mir erst auffiel, als ich damit begann, obwohl seine Vernehmung so ganz anders ausgefallen war. »Ich bin hier, weil ich sie alle in mir trage, ob Mann oder Frau oder auch Kind, ob arm oder reich, jung oder alt, ob jene, welche die Welt retten, oder jene, welche sie plündern und ihr aus Gewinnsucht den Todesstoß versetzen wollten.«
Ohne mein Zutun stellten sich die Worte ein. »Ich bin auch hier, weil ich der rechtmäßige Herrscher der Urth bin. Wir haben viele Nationen, wovon manche größer sind als unsre Republik und stärker; aber wir Autarchen, und wir allein, denken nicht nur an die eigenen Länder, sondern wissen, daß unser Wind in allen Bäumen weht und unsre Gezeiten alle Gestade umspülen. Dies habe ich bewiesen, indem ich hier stehe. Und daß ich hier stehe, beweist, daß ich berechtigt bin.«
Die Matrosen hörten sich all das schweigend an; aber noch während ich sprach, suchte ich hinter den Matrosen nach den andern, wenigstens nach der Dame Apheta samt Begleitung. Sie waren nicht zu sehen.
Dennoch gab es noch andere Zuhörer. Die Menge vom Säulengang stand nun im Portal, durch das Zak und ich hereingekommen waren. Als ich meine Rede schloß, marschierten sie im Gänsemarsch in den Vernehmungssaal, wobei sie nicht den Mittelgang beschritten, den wir und den sicherlich auch die Matrosen genommen hatten, sondern sich links und rechts verteilten auf die Seitengänge zwischen Bänken und Wand.
Ich hielt die Luft an, denn es war darunter auch Thecla, in deren Augen ich solches Mitleid, solche Trauer sah, daß mir das Herz stockte. Ich habe mich selten gefürchtet, aber nun wußte ich, daß ihr Mitleid, ihre Trauer, die mir in ihrer Intensität Angst machten, mir galten.
Schließlich wandte sie sich von mir ab, wie auch ich mich von ihr abwandte. Dann sah ich Agilus in der Menge und Morwenna mit dem schwarzen Haar und dem Brandmal auf den Wangen.
Bei ihnen waren noch hundert andere, Gefangene aus unsrer Oubliette und den Vincula von Thrax, Missetäter, die ich ausgepeitscht hatte im Namen von provinziellen Obrigkeiten und Mörder, die ich in deren Namen hingerichtet hatte. Und Aberhunderte mehr: Ascier, die große Idas und die verhärmte Casdoe mit dem kleinen Severian auf dem Arm, Guasacht und Erblon mit unserm grünen Schlachtbanner.
Ich blickte zu Boden und erwartete gesenkten Hauptes die erste Frage.
Es gab keine Fragen. Eine sehr lange Zeit nicht – schriebe ich davon, wie lange mir diese Zeit vorkam oder wie lange sie tatsächlich dauerte, so würde mir keiner glauben. Als wieder gesprochen wurde, stand die Sonne tief am hellen Himmel von Yesod und griff mit langen düstern Fingern die Nacht nach der Insel.
Mit der Nacht kam noch einer. Ich hörte das Kratzen der Klauen auf dem steinernen Boden, dann eine Kinderstimme: »Können wir jetzt nicht gehn?« Gekommen war der Alzabo, dessen Augen leuchteten in der Finsternis, die durchs Portal in den Vernehmungssaal eingezogen war.
»Hält man euch fest hier?« fragte ich. »Nicht ich bin’s, der euch hält.«
Hundertfach ertönten die Stimmen und riefen: »Ja, wir werden festgehalten1.«
Nun wußte ich, daß nicht sie, sondern daß ich Fragen zu stellen hatte. Dennoch wollte ich es nicht wahrhaben. »Dann geht doch!« sagte ich. Aber keiner rührte sich von der Stelle.
»Was ist es, was muß ich fragen?« wollte ich wissen. Ich bekam keine Antwort.
Nun wurde es vollends Nacht. Weil das Bauwerk aus weißem Marmor bestand und die hoch aufschießende Kuppel durchbrochen war, hatte ich gar nicht gemerkt, daß es unbeleuchtet war. Als sich der Horizont über die Sonne schob, wurde es im Vernehmungssaal dunkler als in den Gewölben, die der Increatus unter stattlichen Baumkronen einrichtet. Die Gesichter lösten sich auf, erloschen wie Kerzenflammen; nur die Augen des Alzabos fingen das schwindende Licht noch ein und leuchteten rotglühend.
Ich hörte die Matrosen bänglich raunen, hörte Messer mit einem leisen Ratsch aus ordentlich geölten Scheiden fahren. Ich rief ihnen zu, sie bräuchten sich nicht zu fürchten, dies seien meine Geister, nicht die ihren.
Die Stimme der kleinen Severa rief in kindlichem Trotz: »Wir sind keine Geister!« Die roten Augen rückten näher, und wieder kratzten die schrecklichen Klauen auf dem steinernen Boden. Alles zitterte auf seinen Plätzen, so daß das Rascheln der Gewänder den Saal erfüllte.
Ich rüttelte vergeblich an den Fesseln, tastete dann nach der Schließe und warnte Zak davor, sich dem Alzabo unbewaffnet in den Weg zu stellen.
Gunnie (deren Stimme ich erkannte) schrie: »Sie ist nur ein Kind, Severian.«
Ich antwortete: »Sie ist tot! Die Bestie spricht aus ihr.«
»Sie reitet darauf. Sie sind hier bei mir.«
Mit tauben Fingern fand ich die Schließe, öffnete sie aber nicht, erkannte ich doch plötzlich mit unumstößlicher Gewißheit, daß ich, befreite ich mich jetzt, um mich wie beabsichtigt unter den Matrosen zu verstecken, die Prüfung bestimmt nicht bestanden hätte.
»Gerechtigkeit!« rief ich ihnen zu. »Ich habe versucht, gerecht zu sein, und das wißt ihr! Ihr mögt mich hassen, aber könnt ihr sagen, daß ich euch grundlos ein Leid getan habe?«
Eine dunkle Gestalt sprang auf. Stahl blitzte wie die Augen des Alzabos. Auch Zak tat einen Satz, und ich hörte, wie die Waffe klappernd auf den steinernen Boden fiel.