Gundula Gause

Ich folge meinen Spuren

Alles Nachdenken über Lebenswege führt mich immer wieder zu den Orten der Herkunft meiner Eltern. Ich wollte sehen und erleben, wo ihre Wiege stand, auch weil die jeweiligen Geburtsstädte hochinteressante und bewegende Geschichten haben. Deshalb unternahm ich im Jahr 2005 mit meinem Vater eine Reise nach Insterburg, wo er 1934 geboren wurde. Sein Elternhaus entspricht in architektonischer Hinsicht in etwa dem Haus, in dem ich heute mit meiner Familie lebe. Beide Häuser wurden in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts gebaut und haben eine gewisse solide Grundausstrahlung.

Mit meinem Vater besuchte ich damals auch Königsberg, das heutige Kaliningrad. Einer meiner Großonkel, Fritz Gause, war einer der Stadthistoriker von Königsberg. Die von ihm verfasste Stadtgeschichte ist bis heute ein auch ins Russische übersetztes Standardwerk. Das Goethe-Institut St. Petersburg hatte mich gebeten, in Kaliningrad einen Vortrag über Fritz Gause zu halten und tatsächlich folgten viele Stadtführer der Einladung, um etwas über den Autor der von ihnen genutzten Literatur zu erfahren. Auch wegen dieses Termins befasste ich mich einmal mehr mit den Spuren meiner ostpreußischen Familiengeschichte, die Jahrhunderte zurückzuverfolgen wäre.

Lissabon, Portugal – die Heimat meiner Mutter. Ich erinnere mich an viele Sommer, in denen wir wochenlang unsere Ferien am Strand der Costa da Caparica verbrachten, dem Hausstrand von Lissabon, wo meine Großmutter seit den späten 20er-Jahren lebte. Die Schwester meiner Mutter, die seit den 70er-Jahren in den USA lebt, hatte ein kleines Ferienhaus ganz in der Nähe. Jeden Sommer trafen sich dort meine Mutter und ihre Schwester mit den insgesamt vier Kindern und verbrachten gemeinsame Urlaube am Atlantikstrand. Es waren sehr glückliche Zeiten in einem ganz anderen Umfeld. Ich sehe noch die Korkeichen, mit denen mein Großvater als Kaufmann gehandelt hat, vor meinem inneren Auge, den Weg durch einen Pinienwald zum Meer, den kleinen Transpraia-Zug, der die Lissabonner zum Strand brachte. Allerdings ist mir auch die damalige Armut Portugals gegenwärtig. So erinnere ich mich an Gehwege voller Schlaglöcher, auf denen man ständig aufpassen musste, nicht zu stolpern und zu fallen.

Lissabon ist einer der besonderen Orte in meinem Leben. Ich denke zunächst an die Wohnung meiner Großmutter, voller alter Möbel, von meinem Großvater entworfen und nach seinen Plänen gebaut. Diese Wohnung hatte eine ganz besondere Atmosphäre! Heute stehen einige dieser Möbel aus der Lissaboner Wohnung in meinem Haus in Mainz. Wie manch andere Erinnerungsstücke platziere ich sie bewusst in meinem Leben. Sie sind mir wichtig, weil ich an ihnen viel festmache. Das geht weit über Erinnerungswerte hinaus. In einer Zeit, die sehr schnelllebig ist, einer Zeit, die immer wieder von mir und anderen fordert „du musst dich ändern“, ist es eine wesentliche Entscheidung, sich treu und bei Traditionen zu bleiben, die man für sich als gut definiert hat. Rings um unsum mich ist vieles in Bewegung. Die Welt ändert sich permanent. Ein Trend jagt den anderen, immer wieder könnte und sollte man sich neu einrichten – und das nicht nur mit Blick auf die Wohnung, sondern auch auf die ganz persönliche Lebenssituation.

Auf jeden Trend aufzuspringen, ist nicht meine Sache. Ich umgebe mich gerne mit Dingen, die die Zeiten überdauert haben, ich schätze sie bewusst, auch weil sie meinem Leben Konstanten geben. Was nicht heißt, dass ich Entwicklung ablehne. Als Medienfrau nutze ich wie alle Welt selbstverständlich moderne Kommunikationsmittel und bin täglich online. Die virtuelle Welt, das Internet ändert unser Leben in einer bislang ungeahnten Dimension: Gegenstände und Orte verlieren an Bedeutung, unsere Kommunikation verändert sich und uns und damit die Gesellschaft. Dieses Thema ist ein weites Feld, das an anderer Stelle weiterer Vertiefung bedarf. Eines ist sicher: In dieser schnelllebigen, virulenten Zeit sucht der Mensch einmal mehr Halt, den ich zum Beispiel schlicht in Beständigkeit und Kontinuität finde. Das mag darin zum Ausdruck kommen, dass ich über viele Jahre einer im Kern ähnlichen Arbeit nachgehe oder in dem Wunsch, sich mit den Möbeln meiner verstorbenen Mutter und Großmutter zu umgeben.

Ausdruck der Schnelllebigkeit unserer Zeit ist auch die von vielen Seiten angeprangerte „Wegwerf“-Mentalität. Ich bin ein Sammler und Jäger und werfe viel zu wenig weg. Auch das kann man natürlich kritisieren, allerdings ist es für mich unvorstellbar, Dinge wegzugeben oder wegzuwerfen, zu denen meine Großeltern oder Eltern einen wichtigen Bezug hatten. Das sind für mich Spuren des Lebens – eine Selbstverständlichkeit, sie zu erhalten.

Auch in Bezug auf meinen christlichen Glauben folge ich ein Stück weit dem, was mir meine Mutter vorgelebt hat. Sie legte quasi religiöse Wurzeln, die ich für mich nach und nach entdeckte. Meine Mutter war eine aktive Protestantin, die mich zum christlichen Glauben führte, mit uns Kindern betete und von Gott sprach. Diese Instanz war für sie eine wichtige Lebenskoordinate.

Gleichwohl bin ich ihr zuliebe auch nicht zum katholischen Glauben konvertiert, was durchaus immer wieder im Raum steht, da ich in eine sehr katholische Familie eingeheiratet habe. Mein Mann und ich leben relativ bewusst unseren christlichen Glauben und akzeptieren die unterschiedliche Konfession des anderen. Die Kinder sind katholisch getauft und werden ebenso erzogen. Es ist uns wichtig, dass sie im christlichen Glauben groß werden und Religion als etwas Positives erleben. Auch das führt zu Beständigkeit und im weiteren Sinn zu einer gewissen Standfestigkeit.

In meiner Kindheit zogen wir häufig um. Mein Vater war Jurist bei der Deutschen Bahn, die ihn von Berlin nach Hannover, Fulda, Stuttgart, 1975 nach Mainz und schließlich nach Hamburg schickte. Ich erinnere mich an die Umzüge, das Verabschieden von alten Freunden, das nicht immer leichte Finden neuer Freunde, das Aufgeben und Verlassen und das Neudefinieren von Wegen und Strukturen.

Auch mein Vater musste als junger Mensch seine Heimat verlassen. Als seine Heimatstadt Insterburg 1944 bei einem britischen Bombenangriff erheblich zerstört und im Januar 1945 von der Sowjetunion besetzt wurde, wurde die Zukunft der Familie dort immer ungewisser, zumal auch mein Großvater kurz nach dem 11. Geburtstag meines Vaters fiel. Mein Vater hat seinen Vater, seitdem er sich an seinem Geburtstag von ihm verabschiedet hatte, nicht mehr wieder gesehen. Durch den Krieg veränderte sich für meinen Vater die Landkarte seines Lebens dramatisch. Er verlor sein Zuhause, seine Heimat. Mit Mutter, Großmutter und zwei Geschwistern floh er nach Berlin. Ihm hatte man das noch vorhandene Geld in den Kindermantel eingenäht. Außer dem, was man am Leibe und in zwei Koffern tragen konnte, hatte die Familie nichts mehr. Tausende ereilte das gleiche Schicksal. Vertrieben und entwurzelt mussten viele von Neuem beginnen.

Die Reise 2005 an den Geburtsort meines Vaters war ein sehr wichtiger Weg für mich. Ich wollte das Haus und den Garten in Insterburg sehen und die Fotos aus den 30er-Jahren mit der Realität abgleichen, verstehen, wie schlimm der Verlust der Heimat für einen Menschen sein kann. Die Geschichte unserer Eltern prägt uns. Ihre Geschichte ist auch unsere Geschichte. Ohne Herkunft, keine Zukunft ist ein häufig gebrauchtes Bild, das ich allerdings als hilfreich empfinde bei allem Nachdenken über Spuren meines Lebens. Die Geschichte unserer Eltern ist natürlich durch besondere historische Begleitumstände bedingt, wie den Krieg, den Verlust der Heimat und das Leben in dem geteilten Deutschland. Innerhalb dieser Bahnen haben sie ihre Entscheidungen gefällt und Spuren gelegt.

Ab Mitte der 80er-Jahre gingen meine Eltern getrennte Wege. Mein Vater heiratete ein zweites Mal und lebte über 20 Jahre in Hamburg. Vor einiger Zeit hatte er die Möglichkeit, in meine unmittelbare Nachbarschaft zu ziehen. Er hat den Sprung gewagt, der ihm als „altem Ostpreußen“ nicht leichtfiel. Mit 74 Jahren zogen er und seine Frau noch einmal um, in meine Nähe eine bewegende Spur des Lebens.