Rainer Wälde
Orte: Ich finde die Säulen meiner Identität
Wenn wir jemanden kennenlernen, der aus dem gleichen Ort stammt wie wir oder im selben Ort aufgewachsen ist – dann bekommen wir leuchtende Augen und fühlen eine gewisse Verbundenheit mit unserem Gegenüber. Wir teilen dieselben Erfahrungen und Prägungen mit ihm – und genau das ist es, was Lebensorte so wichtig macht. An ihnen lassen wir uns nieder, schlagen wir Wurzeln. Zu ihnen entwickeln wir Zugehörigkeit und Nähe – und das ganz besonders zu jenen Orten, an denen wir Kinder waren. Das ist bei mir nicht anders.
Ich komme aus Freudenstadt im Schwarzwald. Es ist somit der erste Ort, den ich auf der Landkarte meines Lebens eingezeichnet habe. Und nun, einige Wochen nach meinem 49. Geburtstag, stehe ich auf dem großen quadratischen Freudenstädter Marktplatz mit seinen schönen Arkadenhäusern und friere. Obwohl es Mai ist, herrschen sehr kühle Temperaturen. Ich war schon jahrelang nicht mehr hier – und staune: Das etwas verschlafene Kurstädtchen hat sich zu einem deutlich moderneren Tourismusort gewandelt. Es gibt eine Fußgängerzone, Bistros und nette Kneipen, sogar eine Tiefgarage für die Autos der Besucher. Aus dem alten Schuhmacherladen ist eine moderne Bar geworden und meine Lieblingsbuchhandlung ist einem Telekom-Shop gewichen. Es sieht gar nicht mehr so vertraut und heimelig aus, wie ich das von meinen früheren Besuchen kenne. Ich bin deswegen etwas irritiert, spüre aber gleichzeitig den Reiz des Neuen, den mir diese Begegnung mit meiner alten Heimatstadt bietet.
Am anderen Ende des Marktplatzes steht das Postamt. Als ich es betrachte, stürmen tausend Bilder auf mich ein. Während des Zweiten Weltkriegs war das Postamt zerstört worden und mein Großvater hat es in den Jahren danach wieder aufgebaut – denn er war der Postinspektor. Auch meine Mutter hat dort gearbeitet, als „Fräulein vom Amt“. Zuerst in einer Ruine ohne Dach über dem Kopf und ohne sanitäre Einrichtungen, später dann in dem wiederhergestellten Gebäude. Es ist untrennbar mit der Geschichte meiner Familie verbunden. Dasselbe gilt für den Marktplatz, auf dem ich stehe und langsam kalte Füße bekomme. Erbaut wurde er mitsamt der umliegenden Altstadt 1599 vom württembergischen Hofbaumeister Heinrich Schickhardt, der von 1558 bis 1635 lebte. Mein Großvater hat immer behauptet, dass unsere Familie von diesem wichtigen Baumeister der Renaissance abstamme, beweisen konnte er es nie. Das ist mir erst viele Jahre später gelungen, als ich intensiv Ahnenforschung betrieben habe und die Linien unserer Familie tatsächlich bis zu Heinrich Schickhardt zurückverfolgen konnte. Auf dieser Reise in meine Vergangenheit sind mir interessante und für ihre Zeit außergewöhnliche Menschen begegnet: Architekten, Chirurgen, Kaufleute, Pfarrer – alles Menschen, die Verantwortung übernommen haben, für ihre Familien, für die Kommune, für Bauwerke, für Patienten. Schon damals habe ich gemerkt: Das Thema, Verantwortung zu übernehmen, ist in unserer Familie fest verwurzelt. Es ist ein wichtiger Teil meiner Identität.
Und so kann ich an diesem kühlen Tag im Mai auf dem Marktplatz von Freudenstadt nicht nur meine eigene Geschichte sehen, sondern auch die meiner Vorfahren. Diese jahrhundertealte Geschichte meiner Familie fühlt sich für mich auf einmal ganz tief an – so wie ein Brunnen, in dessen Schacht man schaut. Ich bin 49 Jahre alt und zwischen mir und meinem Vorfahr Heinrich Schickhardt liegen 500 Jahre – dennoch bin ich hier an diesem Ort, den er geplant und gebaut hat, mit ihm verbunden. Ob es sich so anfühlt, wenn man den roten Faden seines Lebens gefunden hat?