Rainer Wälde

Wegstrecken: Ich folge meinen Spuren

„Ich gehe jetzt meinen eigenen Weg“, das sagen Menschen, wenn sie aus ihrem Elternhaus ausziehen oder sich von Lebenspartnern trennen. Damit meinen sie nicht, dass sie nun einen anderen Weg zur Universität oder zu ihrem Arbeitsplatz zurücklegen müssen, weil sie fortan woanders wohnen. Sondern, dass sie etwas Neues tun, etwas ganz anders machen als bisher in ihrem Leben. Sie brechen aus ihren Alltagsmustern und -routinen aus und beginnen einen neuen Lebensabschnitt. Dieses Ausbrechen muss nicht immer so dramatische Formen annehmen, wie sie eine Trennung von einem Lebenspartner meist bedeutet. Neue Wege können sehr unspektakulär sein – auf den ersten Blick. Doch auch diese unspektakulären neuen Wege verändern alles – unsere Sicht auf unser Leben, auf die Welt, auf unseren Partner. Denn wir fühlen uns anders, beschwingt und beglückt von einem Neuanfang.

Das, was einmal zu einer der schönsten Erfahrungen meines ganz persönlichen Halljahres werden sollte, fing dagegen gar nicht beglückend an. Ich erinnere mich noch deutlich an dieses Gefühl, das ich hatte, als ich an jenem Morgen von der Waage stieg: „So, jetzt reicht’s!“ Ich war fast schon zornig auf mich. Wie hatte ich es nur zulassen können, dass ich mich über Monate und Jahre hinweg so ungesund ernährte? Sicher, meine Frau Ilona und ich sind die meiste Zeit des Jahres unterwegs, essen oft mit Kunden in Restaurants, haben wenig Zeit, uns zu Hause etwas zu kochen. Aber es musste doch möglich sein, so für sich zu sorgen, dass man nicht 15 Kilo zu viel mit sich herumschleppte und das Gefühl hatte, nur noch ungesunde Dinge zu essen!

Zugegeben, dies war nicht der einzige Impuls, den ich bekam, einen ausgetretenen Pfad zu verlassen. Meine Frau Ilona war mir mal wieder ein paar Schritte voraus. Sie hatte sich über ein bestimmtes Programm informiert, das dabei helfen sollte, den Stoffwechsel umzustellen. Weil man bei diesem Programm medizinisch betreut wird, entschloss sie sich, es auszuprobieren – und nun schaute ich ihr jeden Tag zu, wie sie sich Gerichte kochte, die sie genau mit den Vitaminen und Vitalstoffen versorgten, die sie brauchte. Und es roch immer absolut lecker, was sie da zauberte. Sie fühlte sich fitter und gesünder und nahm etliche Kilo ab.

Also gut. Ich ging ebenfalls in diese Praxis, wälzte Fachliteratur und Kochbücher, lernte, was ein glykämischer Index ist und dass die omnipräsenten und vielgepriesenen Light-Produkte zwar wenig Fett haben, aber deswegen noch lange nicht gesund sind. Und ich lernte noch etwas: kochen. Das hatte ich bis dahin nämlich nicht gekonnt. Oder sagen wir: nicht auf dem Niveau, auf dem ich nun agierte. Ilona und ich standen jeden Tag gemeinsam in der Küche und kochten das, was wir anschließend voller Begeisterung aßen. Frisches Obst und Gemüse, schnell und einfach zubereitet – ein echtes Plus an Lebensqualität! Die Umstellung war allerdings nicht ganz so einfach, wie es sich jetzt vielleicht anhört – nach drei Tagen schleppte ich mich schlecht gelaunt, erschöpft und mit brüllenden Kopfschmerzen in die Praxis. „Alles ganz normal!“, beruhigte man mich. „Sie machen gerade einen Entgiftungsprozess durch. Ihnen fehlen einfach die Industrieprodukte, die fast nur noch aus Geschmacksverstärkern und Einfachzuckern bestehen. Machen Sie sich keine Sorgen, das geht von ganz allein wieder weg. Und dann werden Sie sich besser fühlen als je zuvor, versprochen!“

Und so kam es dann auch. In den ersten 30 Tagen nach unserer Ernährungsumstellung nahm ich bereits zehn Kilo ab – und das, obwohl ich nicht hungerte, weder auf Butter, Käse, Olivenöl, Vollmilch oder auf ganz normalen Quark oder Joghurt verzichtete. Seit ich das Gegenteil von dem machte, was ich immer für richtig hielt, fühlte ich mich nicht nur besser und fitter, sondern nahm auch noch ab! Seitdem ich also meinen vertrauten Weg verlassen hatte, machte ich jeden Tag neue und beglückende Erfahrungen.

Schritt 2 auf dem Weg zu Ihrem Lebenstraum:

Tragen Sie in Ihre Lebenslandkarte die Wege ein, die Sie immer gehen und die Sie früher gegangen sind. Das können ganz reale Wege sein – Wege zu Ihrem Arbeitsplatz, Wege, die Sie aus anderen Gründen häufig zurücklegen, Wege zwischen den Orten Ihres Lebens, aber auch alte Gewohnheiten, Dinge, die Sie immer tun, Routinen und Rituale, die Sie pflegen.

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Gehen Sie noch einmal die alten Wege!

Sie merken schon: Mit dem Begriff „Wegstrecken“ meine ich nicht nur die ganz konkreten Wege, die Sie im Laufe Ihres Lebens zurückgelegt haben, sondern ganz bewusst auch Routinen und Rituale, die jeder Mensch hat und pflegt. Das können Abläufe sein, die jeden Tag gleich sind – wann jemand aufsteht und ins Bad geht, was er dort als Erstes tut und was als Zweites –, aber auch Familienroutinen: Jeden Samstag frühstücken alle gemeinsam. Jeden Juli kommt Tante Erna für eine Woche zu Besuch. In unseren Ferien fahren wir immer in unser Haus nach Schweden. Und an Weihnachten treffen wir uns immer alle bei Oma und Opa. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Routinen sind gut, weil sie Sicherheit bieten. Sie sind wie ein Geländer, an dem man sich festhält, während man die Treppe hinunterläuft. Man muss sich keine Gedanken über gewisse Dinge machen, nicht alles ständig neu planen und abstimmen.

Wer dagegen gewohnte Wege verlässt, erlebt sicher hin und wieder unliebsame Überraschungen. Aber: Es lohnt sich ganz bestimmt, auch einmal altbekannte Wegstrecken zu verlassen, vertraute Pfade abzubrechen und etwas ganz Neues auszuprobieren. Der Lohn dafür sind manchmal ein paar Kilo weniger auf den Rippen oder auch eine ganz neue Aussicht aus einem Hotelzimmer – das erlebte ich letztes Jahr auf Juist. Als ich in meinem Hotel ankam, war mein „Stammzimmer“ bereits belegt, ich musste also ein anderes nehmen und stellte nach anfänglichem Unbehagen sehr begeistert fest, dass auf den Balkon des neuen Zimmers abends die Sonne scheint und ich dort von meinem Korbsessel aus ganz wunderbar den Sonnenuntergang genießen konnte.

Kilo und Sonnenuntergänge sind das eine. Wer vertraute Wegstrecken verlässt, gewinnt manchmal aber auch etwas ganz anderes: überraschende Einsichten in seine eigene Persönlichkeit. Als ein wunderbares Beispiel dafür fällt mir die biblische Geschichte von Jakob und Esau ein. Die beiden Zwillingsbrüder – Söhne von Isaak und Rebekka und damit Enkel von Abraham – wurden von ihren Eltern ungleich behandelt: Isaak hatte den erstgeborenen Esau lieber, Rebekka den zweitgeborenen Jakob. Als Esau eines Tages hungrig von der Feldarbeit nach Hause kam, verkaufte er sein Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht an seinen Bruder Jakob. Und einige Jahre später, als ihr Vater Isaak alt und gebrechlich war, erschlich sich Jakob mithilfe seiner Mutter tatsächlich den Erstgeburtssegen seines Vaters – er gab sich dem blinden Jakob gegenüber als Esau aus.

Esau ließ sich das natürlich nicht gefallen, und aus Angst vor seinem Zorn schickte Rebekka ihren Liebling Jakob zu ihrem Bruder Laban – Jakob musste also den einmal eingeschlagenen Weg als Augapfel seiner Mutter verlassen. Kaum bei seinem Onkel angekommen, verliebte er sich in seine Kusine Rahel, die er aber erst heiraten durfte, nachdem er Laban zweimal sieben Jahre gedient hatte – und auch ertragen musste, dass Laban ihn erst einmal betrog, indem er ihm Rahel nicht schon nach den ersten sieben Jahren zur Frau gab, sondern ihn zunächst mit deren älterer Schwester Lea verheiratete. Jakob bezahlte also für den Betrug, den er begangen hatte, indem er selbst mehr als einmal betrogen wurde. Viele Jahre später kehrte er mit seiner Familie nach Kanaan zurück. Auf dem Weg dorthin begegnete er Gott in Person eines ihn angreifenden Mannes, mit dem er eine ganze Nacht lang rang und den er schließlich besiegte. Von ihm erhielt er den Namen Israel. Zurück in Kanaan versöhnte er sich mit seinem Bruder Esau. Und seine zwölf Söhne wurden schließlich die Väter der zwölf Stämme Israels.

Jakob durfte also den Weg nicht gehen, den er sich gewünscht hatte und auf dem er sich mehr als einmal schon befunden zu haben glaubte. Und er lernte viel daraus, dass er von seinem ursprünglichen Weg abwich: Er erlangte Kenntnisse über eine unbekannte Kultur und völlig ein anderes Leben, nämlich das bei seinem Onkel. Er lernte, Verantwortung zu übernehmen. Er lernte, für etwas zu kämpfen und diesen Kampf nicht aufzugeben. 15 Jahre zu arbeiten, um eine ganz bestimmte Frau heiraten zu dürfen – das ist eine Heldentat. Er lernte, selbstständig zu werden. Er wurde erwachsen. Etwas, das ihm am Rockzipfel seiner Mutter hängend, sicherlich nicht so gut gelungen wäre.

Ich bin der tiefen Überzeugung, dass Menschen wachsen, wenn sie den von ihrer Tradition und ihrer Familie vorgegebenen Weg verlassen – denn dann emanzipieren sie sich von den Ansprüchen und Erwartungen ihrer Eltern, entwickeln ihren eigenen Willen und finden einen ganz neuen Weg für sich selbst. Das können sie aber nur, wenn sie ihren eigenen Spuren folgen, sprich: sich mit den Wegen beschäftigen, die sie früher gegangen sind.

Gott ist mit Ihnen auf allen Wegen

Wenn Sie sich mit Ihren eigenen biografischen Wegen befassen, indem Sie diese Wege noch einmal gehen – sei es, indem Sie die Wendungen noch einmal nachvollziehen, die Ihr Leben genommen hat oder indem Sie tatsächlich die alten Wege zu Ihrer ehemaligen Schule, zu Ihrem Ausbildungsplatz, zu Ihrer ersten Arbeitsstelle noch einmal beschreiten – was verbinden Sie damit? Welche Gefühle entstehen dann in Ihnen? Was überrascht Sie? Was gibt Ihnen Sicherheit? Trauern Sie längst vergangenen Zeiten nach? Oder sind Sie froh, dass Ihre Vergangenheit auch tatsächlich hinter Ihnen liegt?

Es gibt einen Weg, den gehen viele Menschen ganz bewusst, um sich selbst und auch Gott zu begegnen – ich meine den Jakobsweg. Viel wurde darüber geschrieben und berichtet, eines der besten Bücher über den großen Pilgerweg hat Hape Kerkeling verfasst. Wen er alles auf dem Weg getroffen hat und wie er sich selbst erlebt und empfunden hat, darüber schreibt er ausführlich. Über seine Gottesbegegnung allerdings, die er auf diesem Weg sehr wohl auch hatte, schweigt er sich aus. Ich glaube, das hat vielen Lesern an diesem Buch am besten gefallen. Ich erzähle Ihnen auch gleich, warum.

Zu Beginn meines Halljahres reisten meine Frau Ilona und ich mit unseren Mitarbeitern für ein paar Tage nach Schottland. Diese Reise sollte unseren Dank für unsere Mitarbeiter ausdrücken, die gemeinsam mit uns Tag für Tag arbeiten und unsere Kunden so hervorragend bedienen. Wir wollten in der Community von Northumbria ein paar Tage Ruhe und innere Einkehr suchen. Einer dieser Tage ist mir sehr eindrücklich in Erinnerung, denn an ihm gingen wir einen ganz besonderen Weg: Wir liefen bei Ebbe durch das Watt von der Küste hinüber zu einer vorgelagerten Insel – nach Holy Island, wo der iro-schottische Mönch Aidan gelebt und gewirkt hat und wo auch heute noch die Ruinen des Klosters stehen, das er gegründet hat. Wir hatten vorher vereinbart, dass wir diesen Weg schweigend zurücklegen wollten. Und so geschah es dann auch. Wir suchten uns still unseren Weg durch das Watt, jeder für sich. Und das war gar nicht so leicht, denn die Priele und Schlammlöcher sind auch bei Ebbe da, und wir mussten unseren Weg durch sie hindurch finden und gehen. Dass wir alle unterschiedliche Wege gegangen waren, konnten wir, zurück auf dem Festland, leicht sehen: Der eine hatte Schlammspritzer und nasse Hosen bis übers Knie, der andere sah so sauber aus, als seien seine Hosen gerade frisch aus der Waschmaschine gekommen. Ganz erstaunlich fand ich, dass wir alle aus unserem Schweigen nur sehr langsam wieder herausfanden. Wir tauschten uns erst spät am Abend über das aus, was uns während unserer Wanderung bewegt hat. Und manche von uns sagten auch gar nichts darüber. Sie hüteten diese Erfahrung wie einen Schatz – wie Hape Kerkeling. Ich bin mir sicher: Wer seinen Weg selbst sucht und ihn geht, der begegnet nicht nur sich selbst, sondern noch viel mehr: Er findet Gott in all seiner Unergründlichkeit. Dazu muss man nicht unbedingt den Jakobsweg gehen. Man kann jeden Weg zu einem Pilgerweg machen.

Im Dialog mit unserem Schöpfer

Im Winter waren Ilona und ich bei Bekannten zum Kaffee eingeladen, gar nicht weit von unserem Wohnort entfernt. Gemeinsam mit ihnen machten wir anschließend einen Spaziergang in einem wunderschönen Tal, das wir – obwohl es quasi direkt in unserer Nachbarschaft liegt – noch gar nicht kannten. Ich erinnere mich an dieses Tal, als wäre ich gerade gestern dort gewesen: Im Talgrund fließt ein Bach, links und rechts zieht sich ein wunderschöner Laubwald die Hänge hinauf. Es ist ein Ort voller Abgeschiedenheit, Frieden und Ruhe. Quer über dem kleinen, von Gras und Wiesenblumen fast überwachsenen Weg, der durch das Tal führt, lagen hier und dort Baumstämme. Wir kletterten darüber und setzen unseren Weg fort – aber an jedem Baumstamm überlegte ich, ob wir ihn problemlos überwinden könnten oder ob es nicht vielleicht besser sei, ihn aus dem Weg zu räumen.

Baumstämme auf unseren Wegen – als wir diesen Wiesenpfad entlangliefen, musste ich an einen Menschen denken, der einmal mein bester Freund war. Wir haben uns viele Jahre gekannt und in guten wie in stürmischen Zeiten einander beigestanden, auch unsere Familien – er lebte mit seiner Frau und seinen beiden Kindern zusammen – hatten sich gut verstanden. Doch dann ging die Ehe meines Freundes und seiner Frau durch eine tiefe Krise. Die beiden trennten sich. Mein Freund zog sich danach zurück. Auch von mir. Unsere Beziehung geriet zu einer Einbahnstraße. Ich meldete mich immer wieder bei ihm, besuchte ihn, sprach mit ihm, doch irgendwann merkte ich: Es kommt ja gar nichts mehr zurück. Sämtliche Kontaktversuche gingen von mir aus. Ich verlor die Motivation und wollte ihm nicht länger hinterherlaufen. Unsere Freundschaft schlief ein. Damals war ich sehr verletzt, heute denke ich mir: Mein Freund hat das Scheitern seiner Ehe als persönliches Versagen empfunden und schämte sich dafür. Diese gescheiterte Ehe oder vielmehr seine Scham lag wie ein Baumstamm über seinem und meinem gemeinsamen Lebensweg. Ich versuchte immer und immer wieder, über diesen Baumstamm hinwegzuklettern oder ihn aus dem Weg zu räumen, aber alleine wollte mir das einfach nicht gelingen. Wie auch – es war ja sein Baumstamm, der uns da im Weg lag.

Unter den Briefen, die ich zu Beginn meines persönlichen Halljahres an Freunde und Familienmitglieder verschickt hatte, war auch einer an diesen Freund. Ich wollte nichts unversucht lassen, diesen Baumstamm doch noch aus dem Weg zu schaffen. Doch der Brief an ihn kam nach ein paar Tagen mit dem Vermerk „Empfänger unbekannt“ zurück. Ich rief die Ex-Frau meines Freundes an, um zu erfahren, wo er nun lebte. Sie erzählte mir, dass er umgezogen sei und gab mir seine aktuelle Adresse. Ich schickte meinen Brief also dorthin und mein Freund rief mich ganz begeistert an. Er wolle mich unbedingt bald sehen und er würde wieder heiraten. Natürlich freute ich mich für ihn und sprach ihm meine Glückwünsche aus. Aus beruflichen Gründen müsse er oft an meinem Wohnort vorbeifahren, so erzählte er mir noch, und versprach mir, das nächste Mal anzuhalten und mich zu besuchen. Auf diesen Besuch wartete ich fast ein Jahr vergeblich.

Als ich dann die Einladungen für das Fest zu meinem 50. Geburtstag verschickte, überlegte ich lange, ob ich ihn auch einladen sollte – und entschied mich dafür. Er rief mich wenige Tage, nachdem er die Einladung erhalten hatte, an, ich konnte an seiner Stimme hören, wie sehr er sich über die Einladung freute. Er sagte mir zu und ich buchte ein Zimmer für ihn. Am Morgen meines 50. Geburtstages rief er wieder an: Er könne leider nicht mit mir feiern, etwas Wichtiges sei ihm dazwischengekommen. Mein Freund hatte zum wiederholten Mal sein Wort nicht gehalten und ich fühlte mich wieder genauso verletzt wie damals, als er nach dem Scheitern seiner ersten Ehe einfach abtauchte. Aber ich stellte auch fest, dass sich meine Haltung ihm gegenüber verändert hatte: Sicher, er war einmal mein bester Freund gewesen. Aber nun hatte ich keine Ahnung mehr, wer er war. Wir hatten uns entfremdet. Ich wusste nicht, wie er lebte, wusste nicht, was ihn beschäftigte, kannte seine neue Frau nicht. Und ich wusste nicht, ob es zwischen uns jemals wieder so werden würde wie früher. Zu lange waren wir nicht auf unserem gemeinsamen Weg gegangen. Wir hatten zugelassen, dass dieser Weg ebenso überwuchert wurde wie der, auf dem ich gerade unterwegs war. Mein Freund schien dies ebenfalls zu spüren und auch den Baumstamm, der uns immer noch im Weg lag. Denn was sonst hielt ihn davon ab, mich tatsächlich zu besuchen und meinen Geburtstag mit mir zu feiern?

Heute hänge ich nicht mehr an dieser Freundschaft, sie ist für mich definitiv beendet. Und weil das so ist, möchte ich sie auch aktiv „begraben“, diese Freundschaft. Ich werde mir dafür ein Symbol suchen, vielleicht einen schönen Stein, und diesen Stein werde ich an einem friedlichen Platz in unserem Garten ablegen. Dann kann Gras darüber wachsen.

Auf unserem Weg über den Wiesenpfad fiel mir noch ein anderer Freund ein: Er ist eigentlich Künstler, folgt aber nicht seiner Berufung, sondern arbeitet als Pastor einer Gemeinde, in der er extrem unglücklich ist. Die finanzielle Sicherheit, die diese Aufgabe ihm bietet, bezahlt er mit massiven Bandscheibenproblemen und daraus resultierenden Schmerzen. Als er wieder einmal von Schmerzen so sehr geplagt war, dass er von Arzt zu Arzt rannte, um endlich jemanden zu finden, der ihn operierte – denn beileibe nicht alle Ärzte waren davon überzeugt, dass die riskante Operation sein Leid lindern würde –, riet ich ihm, sich endlich seiner wahren Berufung zu stellen und den Verwaltungsjob aufzugeben. Ich fühlte mich nicht wirklich wohl dabei, denn ich war mir nicht sicher, ob mein Verhalten nicht vielleicht doch unangemessen war. Schließlich war seine Erkrankung seine höchst persönliche Angelegenheit, die niemanden etwas anging. Aber so groß mein Unwohlsein auch sein mochte – noch größer war meine Überzeugung, dass mein Freund mit dieser OP eine Abkürzung gehen würde. Und zwar eine, die ihn auf seinem Weg zu einem erfüllenden und schmerzfreien Leben kein Stück weiterbringen würde. Das letzte Wort ist hier noch nicht gesprochen, die Operation steht noch aus.

Die gescheiterte Ehe des einen, die Bandscheibenvorfälle des anderen Freundes: Es sind Baumstämme, Blockaden auf ihren jeweiligen Lebenswegen. Ich glaube fest daran, dass Gott genau durch diese Baumstämme und Blockaden zu uns spricht. Gott zeigt uns etwas mit diesen Hindernissen, die er uns in den Weg stellt: Du bist auf dem falschen Weg! Du hast dich verlaufen! Das ist seine Botschaft für uns. Wir können sie allerdings nur dann verstehen, wenn wir in die Stille kommen, wenn wir in einen Dialog mit unserem Schöpfer treten: Innehalten und uns fragen: Was ist hier los? Bin ich noch auf dem richtigen Weg? Gibt es einen anderen Weg, den ich gehen kann? Wer sich in wildem Aktionismus und mit der Motorsäge über all die Baumstämme hermacht, die ihm den Weg versperren, bringt sich um eine großartige Chance: einfach einen anderen Weg zu gehen. Etwas Neues auszuprobieren. Sich selbst und andere auf eine ganz neue Art zu erfahren. Und nicht zuletzt wieder auf Gott zu hören und zu vertrauen.