Gundula Gause

Dankbarkeit und viele Fragen

Das Sinnbild der Lebenslandkarte gefällt mir gut. Es war spannend, mich darauf einzulassen, manchen Weg, den ich einmal gegangen bin, in Gedanken nachzuvollziehen. Einiges hatte ich längst vergessen, vielleicht auch verdrängt oder es war mir im Alltagstrubel schlicht aus dem Blick geraten. Wo hat etwas seinen Anfang genommen? Was waren die Höhepunkte, was waren Täler, was waren und sind wichtige, vielleicht auch heilige Orte in meinem Leben? Was gilt es vielleicht wiederzuentdecken?

Das Sinnbild der Lebenslandkarte ist hilfreich, weil man daraus viele Analogien ableiten kann. Welcher Maßstab gilt, und wenn ja, wofür? Eine Landkarte, deren Maßstab wir nicht kennen, hilft uns nur wenig. Ist die Wegstrecke einen Kilometer lang, sind es vielleicht zehn oder sogar einhundert? Das will ich wissen, bevor ich losgehe! Im Leben ereignet sich vieles, was wir anfangs nicht überblicken können. Da ist es gut, einen Maßstab und Koordinaten zu kennen, an die wir uns halten können, denn es sind doch ziemlich viele Fragen, die sich im Laufe des Lebens stellen, ziemlich viele Weggabelungen, an denen man stehen kann.

Natürlich versuchen Eltern, Lehrer und andere Wegbegleiter, früh den Blick für das Wesentliche zu schärfen, Werte zu vermitteln, vielleicht von ihrem Glauben zu erzählen, auf jeden Fall ihre Sicht der Welt weiterzugeben, aber dennoch bleibt manches über lange Strecken hinweg unklar. Oftmals natürlich auch, weil wir es schlicht besser zu wissen glauben. So rennt und stürmt man – hoffentlich mit Begeisterung – ins Leben und testet aus, was geht und was nicht.

Meinen beruflichen Weg konnte ich nicht planen und nicht ahnen, wohin er mich führen würde. In einer Mainzer Lokalzeitung sah ich irgendwann Mitte der 80er-Jahre eine Stellenanzeige, die mir quasi entgegensprang und bei der ich gleich dachte: Das ist es. So bewarb ich mich mit Anfang 20 auf eine Assistenzstelle bei einem Privatradio, das 1985 in der Anstalt für Kabelkommunikation in Ludwigshafen startete. Der Rheinland-Pfälzische Rundfunk, kurz RPR, suchte zum Sendestart Mitarbeiter für quasi alle Arbeitsbereiche von der Technik über die Verwaltung bis zur Redaktion und Moderation. Viele private Sender gründeten sich in dieser Zeit und kamen neu auf den Markt, die gesamte Medienlandschaft war im Umbruch ähnlich wie heute im digitalen Zeitalter.

Als ich die Bewerbung losschickte, machte ich mir eigentlich keine Hoffnungen. Monatelang hörte ich nichts und hatte die Geschichte auch schon fast vergessen, als ich eines Tages einen Anruf erhielt: „Hier Radio RPR, Sie haben sich bei uns beworben.“ Kurz darauf hatte ich ein Vorstellungsgespräch und bekam im Alter von 21 Jahren in Ludwigshafen einen Halbtagsjob als Redaktionsassistentin – übrigens die einzige Festanstellung meines Lebens. Zunächst habe ich Sendebänder sortiert und andere kleinere Aufgaben erfüllt. Aber dann erhielt ich zu meiner großen Überraschung sehr schnell die Chance, selbst Sendungen zu moderieren. Die Kollegen merkten: Die hat nicht nur einen Plan, sondern auch eine gute Stimme. Die ist schlagfertig und kann auch moderieren. Das habe ich dann auch gemacht. Ich bediente die Technik im sogenannten Selbstfahrerstudio, spielte Musik ab, führte Interviews und moderierte. Kurze Zeit später bekam ich eine eigene kleine Sendung, die ich auch redaktionell betreute.

Im gleichen Haus saß Sat 1 und irgendwann habe ich mir ein Herz gefasst und bin einen Flur weiter gegangen, wo die damalige Chef-Programm-Moderatorin Irene Joest ihr Büro hatte, wir kannten uns vom Sehen. Ich klopfte an ihre Tür und sie sagte gleich im ersten Gespräch: „Ja, an Sie habe ich auch schon gedacht. Wir machen mal ein Casting.“ Und ehe ich mich versah, hatte ich für ein Jahr einen Moderatorinnen-Job bei Sat 1. Das war eine ziemlich glückliche Fügung! Voller Begeisterung fing ich beim Fernsehen an und hoffte, dass ich diesen Job weitermachen könne, auch um mein Studium zu finanzieren.

Zunächst hatte ich als Tochter eines Juristen mit einem Jurastudium in Heidelberg geliebäugelt und in einem Nachrückverfahren auch tatsächlich einen der begehrten Plätze bekommen. Aber ich merkte schnell, dass ich einen anderen Weg einschlagen wollte. Im Wintersemester 1988/89 begann ich, in Mainz Politikwissenschaft, Mittlere und Neuere Geschichte sowie Germanistik auf Magister zu studieren. Nach zwei Semestern wechselte ich im Nebenfach der Germanistik zur Publizistik.

Und wieder kam es anders als geplant: Kollegen, die ich vom Radio kannte, meldeten sich bei mir, um mich zu informieren, dass das ZDF Nachrichtensprecherinnen suche. Obwohl ich mich eigentlich viel zu jung und unerfahren dafür fühlte, machte ich das Casting mit und wurde tatsächlich in die Riege der freiberuflichen Nachrichtenmoderatoren aufgenommen. Heute kann man sich das alles kaum noch vorstellen: Damals gab es im Fernsehen nur das erste und das zweite Programm sowie einige dritte; generell wurde nur nachmittags und abends gesendet. Mit der medienpolitischen Entscheidung für die Gründung von Privatsendern kam Bewegung in die Szene. Die neue Konkurrenz bewirkte, dass auch die öffentlich-rechtlichen Sender ihr Programm ausdehnten und neue Sendungen und Formate entstanden. Und so etablierten im Herbst 1989 ARD und ZDF im wöchentlichen Wechsel das mittagsmagazin, auch um die Zuschauer über den Fall der Berliner Mauer zu informieren. Mein Part war es, für dieses Magazin jede zweite Woche die Nachrichtenmoderation für das ZDF zu übernehmen. Es war eine sehr spannende Zeit!

1992 schließlich begannen ARD und ZDF mit der Ausstrahlung eines morgenmagazins. Peter Frey, der damalige Chef des Magazins und heutige ZDF-Chefredakteur, bot mir wenig später die Vertretung der Hauptmoderatorin Maybrit Illner an. Begeistert übernahm ich diese neue Aufgabe bis zur Geburt meines ersten Kindes 1998. Gleichzeitig moderierte ich drei Jahre lang alle zwei Wochen ein gesellschaftspolitisches Magazin namens Nachbarn. Tür um Tür öffnete sich, immer neue Herausforderungen stellten sich. Im März 1993 kam dann der Job meines Lebens, denn seither arbeite ich hauptsächlich als Co-Moderatorin im heute journal. Nebenher lief auch immer noch mein Studium weiter, das ich 1997 mit einer Magisterarbeit zum Thema „Rechtsextremismus in Deutschland: ideologische Grundlagen und öffentliche Ausdrucksformen im Jahr 1994“ beendete. Im Rückblick weiß ich kaum, wie ich alles unter einen Hut bekam und bewältigen konnte. Es waren aber auch wunderbare Jahre, prall gefüllt mit Leben, das dann durch Ehe und Familiengründung Mitte/Ende der 90er-Jahre noch einmal eine ganz neue Wende bekam.

In meinem Leben hat sich bisher vieles ziemlich gut gefügt. Ich war nie eine Karriere-Kämpferin, sondern habe einfach nur meine Arbeit gemacht und bin meinen Weg gegangen. Immer mal wieder habe ich etwas gewagt, etwas Neues ausprobiert. Einiges habe ich mir jahrelang hart erarbeitet, anderes ist mir unverhofft in den Schoß gefallen und immer wieder hatte ich das Glück, faszinierende Menschen zu treffen, die mir neue Türen geöffnet haben. Ich glaube schon, den Weg geführt worden zu sein, den ich gewählt habe – und dafür bin ich dankbar.

Über vieles habe ich beim Schreiben dieses Buches lange nachgedacht: Hatte ich, habe ich die richtigen Maßstäbe? Was ist es wirklich wert, festgehalten und von mir aufgeschrieben zu werden? Welche Erfahrung lohnt es, zu teilen? Manches habe ich im ersten Moment für wichtig erachtet und dann, nach längerem Nachdenken, wieder verworfen. Vieles bewertet man im Rückblick völlig anders. Woran lag es, dass ich mich damals für etwas oder für jemanden entschieden habe? Was hat mich angetrieben? Was hat mich gereizt oder auch zurückgehalten?

Die Betrachtung der eigenen Lebenslandkarte fordert auch dazu heraus, sich Sinnfragen zu stellen: Was ist im Leben wirklich wichtig, was bleibt, was zählt? Sind es Beruf, Karriere und Erfolge? Sind es Familie, Bekannte und Freunde, gemeinsame Erlebnisse? Auf der Lebenslandkarte und in der Realität kommt es immer wieder auf die Details an. Ohne die Bedeutung der Linien, Zeichen und Symbole zu kennen, ist keine Karte lesbar, bleibt nicht mehr als ein buntes Bild. In der Mitte des Lebens den bisherigen Weg in Ruhe und durchaus kritisch zu betrachten, ist lohnend. Wo stehe ich heute? Was ist das nächste Ziel für mich, oder bin ich angekommen? Stimmt meine eigene Einschätzung? Wie sehen mich die anderen, diejenigen, die mich gut kennen, die ein längeres Stück Weg mit mir gemeinsam gegangen sind?

Ich möchte immer wieder auch Neues wagen und erfahren, den bisherigen Lebenshorizont bewusst durchbrechen. Zugleich schätze ich das Beständige sehr: Das Zusammensein mit der Familie, in unserem Haus und Garten als Rückzugsorte in meinem Leben. Und ich weiß um meine besondere Aufgabe als Mutter von zwei Kindern, die mich brauchen. Man kann alle Klaviaturen mehr oder weniger perfekt spielen, aber man kann nicht alles beherrschen. Vieles kann man initiieren, vieles versuchen, sich mühen, sich immer noch ein wenig mehr anstrengen. Aber am Ende bleibt die Erkenntnis – frei nach dem Gedanken: „Johannes, nimm dich nicht so wichtig“ –, dass man nicht alles in der Hand haben kann. In diesem Sinne sind im Geflecht der Landkarten des Lebens auch immer wieder Gelassenheit und Geduld unerlässlich, um Grenzen zu überwinden, Berge und Täler zu bewältigen. Dabei hilft mir zum Teil auch mein Glaube, denn ich kann mir kaum vorstellen, ohne das Vertrauen auf eine höhere Instanz zu leben. Ohne, dass ich diesen Aspekt meines Lebens vor mir hertrage, ist mir mein christliches Bekenntnis einfach wichtig. Gottes Geist und der Glaube sind ein Geschenk. Man muss es nur annehmen.