Gundula Gause
Heilige Orte in meinem Leben
Auf den ersten Blick wirkt es alles andere als heilig. Nkandla ist ein Ort in der Mitte des Nichts. Eine Straßenkreuzung, eine Tankstelle, ein winziger Shop. Die staubige Piste windet sich durch grüne Hügel. Dann erreichen wir das Zentrum des Ortes und des gleichnamigen Gebiets, etwa 230 km westlich von Durban (Südafrika).
In der Stadt leben nur etwa 2.700 Einwohner, in der Region aber fast 160.000 Menschen. Es ist ein großes, dünn besiedeltes Gebiet, in dem mehr als 90 Prozent der Bevölkerung arbeitslos sind. Armut, wohin man schaut. Einfache Lehmhütten, verrostete Wellblechdächer, Kinder in zerlöcherten T-Shirts. Und jeder Vierte, vielleicht sogar jeder Dritte ist HIV-infiziert. Viele, sehr viele, sterben früh. Am Härtesten trifft es die kleinen Kinder, es gibt zahllose, sogenannte Aidswaisen. Sie leben in sogenannten child-headed-families, Familien, in denen es nur noch Kinder gibt. Fast die Hälfte der Bevölkerung ist unter 15 Jahre alt, die traditionellen afrikanischen Familienverbände existieren in dieser Region kaum noch. Irgendwo, einige Dörfer weiter, gibt es vielleicht noch eine Verwandte, die gelegentlich nach den Kindern ihrer verstorbenen Schwester schaut, aber sonst sind diese auf sich allein gestellt. Die Größeren kümmern sich um die Kleinen. Für viele von ihnen wird das Sizanani Waisenhaus in Nkandla zu einem Ort der Hoffnung. Sizanani bedeutet helft einander.
Dort arbeitet die deutsche Ordensschwester Dr. Ellen Lindner. Nahezu täglich fährt sie mit ihrem Geländewagen über holprige Pisten zu den Menschen in die entlegensten Dörfer der südafrikanischen Provinz Kwa-Zulu-Natal. Im Gepäck hat sie Medikamente, Verbandsmaterial und Lebensmittel. Als sie vor etwa 25 Jahren nach ihrem Medizinstudium überlegte, was der nächste Schritt für sie sein könnte, entschied sie sich für die Arbeit im Krankenhaus von Nkandla. Dort wurde sie gebraucht, denn damals gab es für 266 Betten nur zwei Ärzte. Vor einigen Jahren stieg sie aus dem Krankenhausbetrieb aus und kümmert sich nun mit acht anderen Schwestern ihres Ordens um eine Pflegestation für HIV-Patienten, ein Waisenhaus und die mobile medizinische Versorgung der Menschen. Regelmäßig betreuen sie gemeinsam mit den von ihnen ausgebildeten Helfern ungefähr 800 Zulu-Familien, darunter etwa 4.000 Kinder. Als sich die AIDS-Krankheit mehr und mehr ausbreitete, brauchte es neue Wege. Für die HIV-Infizierten gab es im Krankenhaus keinen Platz, man schickte sie fort. Das war für Schwester Ellen der Anstoß, zu den Menschen, in deren Häuser zu gehen und sie zu Hause in ihren Familien zu versorgen.
In der Gegend nennt man sie die Nardini-Sisters nach ihrem aus der Pfalz stammenden Gründer Paul Josef Nardini. In der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der junge Pfarrer in der aufsteigenden Industriestadt Pirmasens die Schwesterngemeinschaft der Armen Franziskanerinnen von der Heiligen Familie (Mallersdorfer Schwestern) gegründet. Mit ihr kümmerte er sich um verwahrloste Kinder, arme, alte und kranke Menschen. Später engagierte sich die Gemeinschaft auch an vielen Stellen in Afrika. Seit über 50 Jahren sind die Schwestern mit ihrer Gemeinschaft bereits in Nkandla.
Der Weg von ihrem Sizanani-Zentrum dort zu den notleidenden Zulu-Familien ist weit. Über vom Regen ausgewaschene Feldwege voller Schlaglöcher führt die Fahrt mit dem Jeep zu den kleinen Siedlungen, den sogenannten Krals. Dort leben die Familien in Rundhütten aus Lehm. Meist muss das letzte Stück bis zu den Hütten zu Fuß zurückgelegt werden, über unbefestigte und staubige Trampelpfade geht es Schritt für Schritt, bergauf und bergab.
Vor der Hütte stehen ein kleiner Junge, vielleicht acht Jahre alt, und seine Schwestern. Ihre Mutter ist irgendwann an Aids gestorben. Der Vater hat sie vor langer Zeit verlassen, um in der Hauptstadt Arbeit zu finden. Insgesamt hatte er fünf Kinder und fragte sich, wie die Größeren ohne ausreichende Schulbildung und Arbeit ihr Leben meistern sollten. Er war einfach hilflos, ertrug das Elend nicht allein und ging. In der Hütte ist es dunkel, Fenster gibt es keine. Auf dem Lehmboden liegen die wenigen Habseligkeiten der Familie verstreut. Ein Tisch, drei wacklige Stühle, mehr Einrichtung besitzen sie nicht.
Die Schwestern haben für die nächsten Tage Lebensmittel mitgebracht. Neben der medizinischen Betreuung kümmern sie sich auch um viele andere Dinge und sind auf diese Weise den Kindern zu wirklichen Lebensbegleitern geworden. Wann immer es geht, besuchen sie diese vielen child-headed-families, erkundigen sich nach der Schule und schauen nach ihnen. Das Ziel besteht darin, ihnen so zu helfen, dass sie sich irgendwann selbst versorgen können und aus ihrer Not herauskommen. Die Kinder brauchen dringend Hilfe von außen. Zum Glück gibt es Menschen wie Schwester Ellen.
In Nkandla und den umliegenden Siedlungen gibt es unendliches Leid, große Einsamkeit – wenig Hoffnung. Und doch ist Nkandla für mich ein heiliger Ort, weil es dort Menschen gibt, die ihr Leben in ganz besonderem Maße mit anderen teilen und sich für die Schwächsten und Ärmsten der Gesellschaft einsetzen. Heilig ist diese Gegend für mich wahrscheinlich auch deswegen, weil ich dort im wahrsten Sinne des Wortes christliche Nächstenliebe erlebt habe. In diese unwirtliche und in jeder Hinsicht arme Region tragen die Schwestern durch ihre Anwesenheit den Reichtum hinein, den der Glaube ausmachen kann.
Es gibt natürlich auch noch andere Orte, die ich als heilig bezeichnen würde. Dazu gehört der Mainzer Dom mit der Gotthard-Kapelle. Wenn man vom Marktplatz zum Dom schaut, fällt einem dieser Anbau am Dom aus dem 12. Jahrhundert sofort auf. Gebaut aus hellem Muschelkalkstein hebt sich die Kapelle von dem roten Sandstein des Doms ab. Sie ist wohl eine der ältesten romanischen Kapellen in Deutschland. In ihr hängt ein ganz besonderes Kreuz, das sogenannte Udenheimer Kreuz. Es wurde Mitte des 11. Jahrhunderts geschaffen und gehört zu den wenigen Kreuzen, die aus der Zeit der Romanik erhalten sind. Es besteht aus einfachen Holzbalken, der Korpus wurde geschnitzt und bemalt. Wenn ich dort bin, wird mir die Dimension des Glaubens und der Kirche immer wieder neu bewusst. Seit Jahrhunderten kommen dort Menschen zusammen, beten, danken für das Gute in ihrem Leben oder bringen ihre Sorgen und Nöte vor Gott.
Manchmal ist es ein wenig düster im riesigen Dom. Und dennoch strahlt der Raum eine große Lebendigkeit aus. Und der Mainzer Kardinal Lehmann mit seiner den Menschen zugewandten Art ist für mich von besonderer Bedeutung. Ein heiliger Ort ist für mich nie nur der umbaute Raum. Es sind die Menschen, die den Ort mit ihrem Glauben füllen. Mein Glaube an Gott hat sich erst nach und nach entwickelt. Meine Großeltern stammten ursprünglich aus Hamburg und aus Ostpreußen, alle waren evangelisch. Durch die Familie meines Mannes kam ich dann nach und nach mit dem katholischen Glauben in Berührung. Heute engagiere ich mich an verschiedenen Stellen für beide große christliche Konfessionen. Auf der evangelischen Seite ist da zum Beispiel das Kuratorium der Stiftung der ekhn, der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, deren Anliegen es ist, über Kunst, Kultur und Wissenschaft die evangelische Kirche in der Gesellschaft erlebbar zu machen. Ich bekenne mich zu meinem christlichen Glauben, ohne dass ich dieses Bekenntnis vor mir hertrage. Es ist für mich eine selbstverständliche Koordinate meines Lebens.
In meinem Arbeitszimmer liegt seit einigen Jahren ein Rosenkranz. Er erinnert mich an folgende besondere Begegnung: Der Franziskanerpater Hermann Schalück, der frühere Präsident von missio, hatte mich vor einigen Jahren gebeten, die ehemalige Kindersoldatin China Keitetsi zu einer Audienz bei Papst Benedikt XVI. zu begleiten. Er meinte, dass der Papst stärker auf ihr Anliegen aufmerksam würde, wenn ich dabei wäre. So flog ich also mit den beiden nach Rom.
Wie immer waren im Audienzsaal sehr viele Menschen versammelt und warteten auf den Papst. Mitten unter ihnen war in der ersten Reihe China Keitetsi, eine Schwarze mit einem großen Kreuz aus Gewehrläufen und dem Anliegen, dass die Welt sich stark machen möge gegen den Einsatz von Kindersoldaten.
Der Papst erblickte China und sagte zu ihr: „I know you, I read a lot about you, I pray for you.“ Anschließend gab es zwischen den beiden ein inniges Gespräch. Auch Pater Schalück begrüßte er, denn die beiden kannten sich vom Studium. Monsignore Gänswein, der Privatsekretär des Papstes, stand die ganze Zeit dabei und fragte mich: „Hat der Heilige Vater Sie überhaupt gesehen?“ Ich antwortete ihm: „Ich glaube nicht, aber das ist jetzt auch nicht wichtig.“ Daraufhin lächelte er freundlich und drückte mir einen Rosenkranz in die Hand, natürlich nicht wissend, dass er eine Protestantin vor sich hatte. Diese Begebenheit zeigt, dass es im Leben oft anders kommen kann als man denkt. Es stellte sich heraus, dass meine Anwesenheit an jenem Tag in Rom ziemlich unwichtig war – und trotzdem war es ein wichtiger Tag für mich. Es ist einfach unvergesslich, die Faszination zu spüren, die der Papst in der aufgeregt versammelten Menschenmenge auslöste. Und auch ich konnte mich dieser Begeisterung kaum entziehen. Ob das im weitesten Sinne mit der Kraft des Glaubens zu tun hat?
Und die Geschichte des Rosenkranzes geht sogar noch weiter: Neulich kam mein Sohn in mein Arbeitszimmer und erkundigte sich nach der Geschichte des Rosenkranzes. Wir redeten über das brutale Leben der Kindersoldaten und die Gewalt, die ihnen angetan wird. Von diesem Gespräch angerührt sprach er aus sich heraus ein kleines, freies Kindergebet. Das sind die besonderen Momente im Alltag. Momente, in denen plötzlich mitten im Leben ein heiliger Raum entsteht.
Seit jenem Tag in Rom erinnert mich der Rosenkranz immer wieder an das Schicksal der Kindersoldaten. Zurzeit gibt es weltweit immer noch geschätzt 220.000 von ihnen. Zum Glück geht die Zahl zurück, weil der Einsatz von Kindersoldaten nun seit Jahrzehnten international geächtet wird. Hier kann journalistische Arbeit im Übrigen einen Beitrag leisten. Indem über Kindersoldaten berichtet wird, erfahren sie Aufmerksamkeit und Interesse. Die Gewalt, die ihnen angetan wird und die sie gezwungen werden auszuüben, bleibt nicht mehr im Geheimen, sondern kommt über Zeitungsreportagen und Filme aus der Ferne afrikanischer Wälder in europäische Wohnzimmer.
Deshalb war ich froh, in Rom die Gelegenheit zu haben, China Keitetsi mit der Kamera begleiten zu können und über ihr Schicksal in einem Magazinbeitrag zu berichten. Sie berichtete mir von ihrer Kindheit in einem kleinen Dorf in West-Uganda und dass auch sie als Kind zu schrecklichen Gräueltaten gezwungen und mehrfach vergewaltigt wurde. Ganz jung bekam sie zwei Kinder, natürlich von verschiedenen Männern. Diese beiden Babys musste sie dann irgendwo unterwegs zurücklassen. Sie hat viel Leid erfahren. Leid, das sich kaum in Worte fassen lässt. Aber sie hat es geschafft. Sie konnte fliehen und ein neues Leben beginnen. Über das katholische Hilfswerk missio hat sie ihre Kinder schließlich nach vielen Jahren der Suche wiedergefunden. Irgendjemand hatte eine vage Ahnung, dass in Johannisburg in der Nähe einer Polizeistation eine Familie lebte, die ein kleines Mädchen aufgenommen hatte, das aus jenem Dorf stammte, an das sich China erinnern konnte. Das Mädchen, das die Familie aufgenommen hatte, war zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre alt. Weil eine kanadische Schwester ihrem Schicksal nachging, konnte herausgefunden werden, dass es sich tatsächlich um die Tochter von China Keitestsi handelte. Heute lebt China mit ihrer Familie in Dänemark und hat gerade ein drittes Kind bekommen. Zum ersten Mal kann sie Mutterschaft richtig leben und ist überglücklich.
Was einen Platz in unserem Leben zu einem heiligen Ort macht, ist schwer zu sagen. Aber es gibt sie, solche Orte. In Gedanken gehe ich manche Wege immer mal wieder: zum Waisenhaus der Ordensschwestern in Nkandla - dem Ort in der Mitte des Nichts, an dem die Nächstenliebe so konkret Gestalt gewinnt, und zur Gotthard Kapelle im Mainzer Dom, in dem seit Jahrhunderten Menschen ihrem Glauben Ausdruck verleihen. Beides Orte, an denen Gott in besonderer Weise erfahrbar ist – wenn man bereit ist, sich dem Glauben zu öffnen.