Rainer Wälde
Legende: Ich weiß, wer ich bin
Von den Wanderungen, die Ilona und ich schon miteinander unternommen haben, ist mir besonders eine in guter Erinnerung: die durch den „Canyon des Hunsrücks“, das Baybachtal, zwischen Rhein und Mosel. Als wir diese Tour machten, war es warm und sonnig – ein Frühlingstag wie aus dem Bilderbuch. Die Buchen hatten gerade ganz frische Blätter, und ihr Grün leuchtete weithin. Ich liebe diese Jahreszeit, wenn alle Zeichen auf Wachstum und Neuwerdung stehen. Unsere Rucksäcke waren mit ausreichend Proviant und Wasser bestückt, denn wir hatten auf der Wanderkarte schon gesehen, dass es unterwegs keine Ortschaften gab. Es war zwar eine bewirtschaftete Mühle auf der Karte eingezeichnet, außerdem eine Forellenzucht, wir wussten aber nicht, ob wir dort auch etwas zu essen bekommen würden. Ebenfalls auf der Karte gesehen hatten wir, dass durch das Tal keine Straße führt, sondern lediglich kleine Stichsträßchen zu den dort gelegenen Mühlen. Und wir wussten, dass neben unserem Weg unbeirrbar der Baybach fließt, den wir immer wieder mal auf kleinen Brücken überqueren würden.
Also begannen wir unsere Wanderung, vorbei an den ehemaligen Mühlen, die zum Teil bereits verfallen waren, vorbei an nicht mehr genutzten Stolleneingängen, durch klammartige Engstellen und über Felsen. Es war wunderschön in diesem ruhigen und abgeschiedenen Tal, das mit seinen steilen Seitenwänden seinem Namen alle Ehre machte. Bei der bewirtschafteten Mühle angekommen stellte sich heraus, dass es dort tatsächlich frische Forellen zu essen gab, und wir speisten ganz hervorragend. Den restlichen Weg nahmen wir anschließend frisch gestärkt und guter Dinge unter die Sohlen. Auf der Karte konnten wir sehen, dass nicht weit entfernt die Burg Waldeck lag, die wir gerne noch besucht hätten. Wir sahen allerdings auch die vielen Höhenlinien, die zwischen unserem Standort und der Burg lagen, und so entschieden wir uns, doch lieber unten im Tal zu bleiben. Als wir dann in Burgen, am Zielort unserer Wanderung ankamen, lagen 23 Kilometer Wegstrecke hinter uns. Wir waren erschöpft und glücklich.
Vor allem eins ist mir auf dieser Wanderung wieder einmal bewusst geworden: Ohne Landkarte hätten wir nicht so gut Bescheid gewusst über das, was uns erwartet – und vor allem nicht ohne die Legende. Sie ist Quintessenz und Herzstück einer Landkarte. In ihr ist erklärt, was die Symbole auf der Karte bedeuten; wie das Zeichen für Bergwerkstollen aussieht, das Zeichen für die Mühlen und das für eine bewirtschaftete Hütte. Die Legende sagt uns auch, in welchem Maßstab die Karte gehalten ist und wir können deshalb einschätzen, wie weit ein Weg ist, den wir zurücklegen wollen. Wer sich die Legende nicht anschaut, bevor er losgeht, hat kein Maß für das, was vor ihm liegt. Eine Legende gibt uns deshalb Orientierung und Sicherheit auf all unseren Wegen.
Auch unsere Lebenslandkarte hat eine Legende. Sie ist die Essenz, das Motto unseres Lebens. Sie drückt aus, welcher rote Faden sich durch unser Leben zieht, welche Botschaft wir haben, für welche Werte wir stehen, was uns ausmacht. Wer sich eine Lebenslandkarte erstellt, kommt deshalb um die Frage: „Was ist die Quintessenz, die Zusammenfassung, das Motto meines Lebens?“ nicht herum.