22

 

Ich verschwinde, Dave. Ehrlich, Mann, ich steh auf Lyrik, nicht auf Gewalt. Ja, ich mag Dope. Ja, kostenloses Dope mag ich noch mehr. Aber Leute umbringen – also, da bin ich strikt dagegen. Entschieden und unwiderruflich dagegen.«

Letterman brach in dieses Grinsen aus, bei dem seine Zahnlücke zu sehen war. Der Junge von nebenan, sollte das heißen. Ich würde Sie nie was Heikles fragen.

»Also, Kevin, machen Sie mal ’n Punkt. Wenn Sie gehen wollten, könnten Sie jederzeit da weg. Wieso hängen Sie immer noch mit diesen beiden Psychopathen rum?«

»Ich brauch Zeit zum Nachdenken, Dave. Die Typen lassen mich nicht einfach davonmarschieren. Ich weiß zu viel. Ich muss mir was einfallen lassen, wie ich mich absetzen kann, ohne dass sie sauer sind. Sie haben gut reden – Sie haben nicht durchgemacht, was ich durchgemacht habe. Sie haben nicht mit angesehen, wie Ihr Freund – na schön, Toof war eigentlich kein richtiger Freund –, wie Ihr Partner zuerst in den Kopf geschossen und dann mit einem Baseballschläger totgeschlagen wird. Glauben Sie mir, wenn Sie gesehen hätten, was ich gesehen habe, bräuchten Sie auch einen Schuss. Danke, dass Sie mich in Ihre Sendung eingeladen haben, Dave, aber ich hab noch was zu erledigen, also adiós, amigo.«

Kevin war sich plötzlich nicht sicher, ob er sich die Unterhaltung mit Letterman nur ausgedacht oder ob er laut vor sich hin geredet hatte. Er stand draußen im Gebüsch hinter Leons Hütte, und die Mücken fraßen ihn bei lebendigem Leibe. Reiß dich zusammen, mahnte er sich. Du kannst keine Selbstgespräche führen, wenn du gerade in Leons persönliches Depot einbrechen willst. Leon ist nicht mehr einfach nur ein Geschäftspartner, Leon ist ein verdammt übler Typ; genau wie Red Bear.

Wieso also mach ich das hier? Wieso gehe ich dieses wahnwitzige Risiko ein? Nun ja, er kannte die Antwort darauf. Weil ich ein Junkie bin, weil ich high werden muss. Muss mit einem großen M, danke schön. So wie in »Ich geh drauf, wenn ich mir nicht augenblicklich einen Schuss verpasse«.

In der Hütte war es dunkel; Kevin schlich sich noch ein wenig näher heran. Leon war drüben bei Red Bear. Diese Schweine verbrachten immer mehr Zeit zusammen. Kevins Plan sah vor, sich eine Prise von Leons Vorrat zu stibitzen und augenblicklich zu seinen eigenen Glücksrezeptoren zu transportieren. Nur so konnte er hoffen, diesen Moment irgendwie durchzustehen, der zweifellos der düsterste in seinem Leben war. Das Hauptdepot würde er nicht anrühren.

Das Hauptdepot, ihr Hauptvorrat an Dope, war in einem winzigen, fensterlosen Zementschuppen Richtung Strand versteckt. Leon war für die Sicherheit verantwortlich und hatte die Schlüssel immer dabei.

Kevin stand still und lauschte. Aus der Hütte war nichts zu hören. Aus Red Bears Hütte allerdings genauso wenig, wer konnte also sagen, was sie im Schilde führten? Er dachte an das Blut, das Toof den Rücken hinunterlief, und an die grotesken Stolperschritte, als sein Gehirn die Bewegungen nicht mehr koordinieren konnte.

»Rutsch rüber«, hatte Leon gesagt, als er mit Toof fertig war. »Ich fahre.«

Er warf den Baseballschläger in den Kofferraum seines TransAm und setzte sich hinters Lenkrad. Kevin wich auf den Beifahrersitz aus. Er fühlte noch Toofs Körperwärme auf dem Sitz.

Leon ließ sich Zeit damit, von der Baustelle wegzukommen. Der TransAm lag tief, nicht sehr sinnvoll, die Kiste in die Kraterfurchen eines Löffelbaggers zu setzen. Doch seine Augen leuchteten aufgeregt, und ihm glühten die Wangen, als hätte er gerade ein wichtiges Rennen gewonnen.

»Mann, hast du gesehen, wie der Kerl rumgetorkelt ist? Jetzt weiß ich, wieso es immer heißt, die Leute wissen nicht, wann es Zeit ist, aufzugeben. Zwei Kugeln hab ich ihm in den Kopf verpasst, Mann. Zwei Kugeln! Und der läuft immer noch durch die Gegend. Hast du das gesehen?«

»Öhm ja, hab ich gesehen.«

»Hör mal, ich hab doch kein Blut an den Wagen gekriegt, oder? Hast du was am Armaturenbrett gesehen?«

»Nee, sieht okay aus.«

»Was ist mit dem Sitz? Beug dich mal ’n Moment vor.« Kevin beugte sich vor.

»Nee, ich denke, wir sind sauber. Alles im grünen Bereich. Die verfluchte Knarre hat nicht viel getaugt, wie’s aussieht. Aber mit dem Schläger hab ich ihm ordentlich eins übergebraten. Glatten Volltreffer gelandet, Mann, Jahrhunderttreffer.«

Als Toof um den Wagen herumstolperte, war ihm das Blut in roten Fäden aus den Schusswunden gelaufen wie rotes Haar.

»Der Scheißkerl musste damit rechnen, Mann. Er wusste, wie der Hase läuft. Man quatscht nicht über unser Geschäft. Mit keinem. Mir war das absolut klar, Kevin. Und wie ist das mit dir? Hast du mit irgendwem gequatscht? Irgendjemandem gesteckt, dass wir die Scheiß-Viking-Riders beklaut haben?«

»Eh, nein. Ich hab mit keinem gequatscht.«

»Sag ich doch, Mann. Ich auch nicht. Das ist eben das Problem mit Toof. Bei dem kannste dir den Mund fusselig reden, der kapiert nix, ist einfach zu blöde. Toofie-Doofie.«

»Ja«, sagte Kevin, »Toofie-Doofie.«

Leon sah ihn von der Seite an. Seine Augen leuchteten.

»Hab dir ’n ganz schönen Schrecken eingejagt, wetten?«

»Du hast mich jedenfalls überrascht, Leon.«

»Klar, du hast dir vor Angst in die Hosen gemacht. Gib’s zu.«

»Ich hab mir vor Angst in die Hosen gemacht. Du hast recht.« Mach ich immer noch, ich mach mir immer noch vor Angst in die Hosen.

»Keine Sorge, Kev, du gewöhnst dich dran. Hör einfach nur auf Red Bear, Mann, der hat’s echt drauf. Du gewöhnst dich an vieles. Man tut einfach, was zu tun ist. Toof kannte die Regeln. Er hat alles aufs Spiel gesetzt und verloren.«

»Haushoch verloren.«

»Nur gerecht«, sagte Leon. »So ’n Plappermaul kann uns alle Kopf und Kragen kosten.« Er bog auf den Highway 11 ab und startete durch, so dass der Doppelauspuff dröhnte und der TransAm Richtung Süden bretterte.

»Nur gerecht«, wiederholte Leon. »So muss man die Sache sehen.«

Süchtige lernen früh, sich alle Möglichkeiten offen zu halten. Deshalb wusste Kevin, dass Leon einen Privatvorrat unter einem Dielenbrett in seiner Hütte versteckt hatte. Das war auch der Grund, weshalb Kevin, als Leon einmal wegen irgendetwas den Raum verließ, sein Fenster von innen entriegelt hatte. Es war nachts immer noch zu kühl, hier draußen am See, um bei offenem Fenster zu schlafen. Und sie hatten keine Fliegengitter. Ein offenes Fenster war eine Einladung an die Mücken, die um Kevins Kopf und Hals herumschwirrten.

Das unverriegelte Fenster befand sich an der Rückseite; dort war er von Red Bears Hütte aus nicht zu sehen. Kevin öffnete das Fenster zwanzig bis fünfundzwanzig Zentimeter. Er zwängte sich hindurch und ließ sich mit den Händen zuerst auf den Boden herunter.

Er ging unverzüglich zu der Diele unter Leons Bett und hob sie an. Dort lagen genügend Pergamentbriefchen mit Stoff, um eine Herde Elefanten flachzulegen, doch Kevin nahm nur eins. Er tauschte es gegen ein anderes, das er präpariert hatte und das nichts Gefährlicheres als Puderzucker enthielt. Irgendein Junkie würde eine herbe Enttäuschung erleben.

Toofs Gesicht. Die verdrehten, bestürzten Augen. Das Geräusch, als sein Schädel unter dem Holz einbrach. Kevin würde dieses Geräusch nie vergessen. Bei der Erinnerung zitterten ihm derart die Beine, dass er Schwierigkeiten hatte, aus dem Fenster zu klettern. Er ließ sich draußen auf den Boden fallen und hätte sich beinahe den Knöchel gebrochen.

Hastig rannte er durchs Gebüsch in seine eigene Hütte zurück. Er wollte nicht Leon über den Weg laufen, wenn der gerade von Red Bear zurückkam. Dem neuen Leon. Er wusste, dass es in Leons Vergangenheit Gewalt gegeben hatte, er hatte ein paarmal darauf angespielt. Und er hatte mitangesehen, wie er diesen Kerl im Pub entsetzlich zusammengeschlagen hatte. Doch jetzt war es, als hätte Red Bear ein niederträchtiges Geschöpf zum Leben erweckt, das bis dahin in Leons Brust geschlummert hatte. Das Ungeheuer.

Kevin rannte den Mücken davon und schloss die Tür seiner eigenen Hütte hinter sich ab. Muss hier raus, ganz entschieden raus. Aber zuerst mal brauch ich ein bisschen Ruhe, muss ich klar sehen, Mann.

Er zog den Löffel hervor, den er in der Wand versteckt hatte, und kochte die Schore mit seinem Feuerzeug. Er zog seine Spritze mit der milchigen Flüssigkeit auf, und diesmal war klar, wohin damit. Mit geübtem Griff zog er den Gürtel um seinen Bizeps enger, pumpte eine dicke Vene hoch und stieß die Nadel hinein. Als er den Gürtel lockerte, überschwemmte das Heroin sein Gehirn in einem Megatonnen-Orgasmus.

Ein paar Minuten später versteckte er sein Zubehör und legte sich ins Bett. Er rollte sich ein und steckte die Hände zwischen die Knie. Die reine Wonne durchströmte jeden Nerv in seinem Körper. Sein Bauch fühlte sich wie von Opium und geschmolzener Schokolade überflutet.

»Kevin, kommst du mit?«, sang Terris Stimme in seinen Ohren, und Kevin wünschte sich zum hundertsten Mal, seine Schwester würde heiraten und ihn in Frieden lassen.

»Kevin, kommst du mit?« Dieser flehentliche Blick in ihren ach so grünen Augen. Er fühlte ihre Liebe und Sorge wie eine Woge, die ihn trug.

»Ach, Terri«, stöhnte er. »Lass mich in Frieden, okay?« Doch vom Heroin musste er kichern.

Freudenschauer liefen ihm in trägen Wellen den Rücken herunter. Sein Bewusstsein war wie das durchsichtige Meeresblau der Bahamas. In diesem Himmel war für Angst und Schuldgefühle kein Platz.

Fast verloren in diesem blauen Ozean erschien eine winzige dunkle Gestalt wie ein Insekt, das über einen Fernsehbildschirm krabbelt. Doch es war ein Mann, ein winziger Mann, der Kevin wie vom falschen Ende eines Fernrohrs aus zuwinkte.

Kevin lächelte. Gute Neuigkeiten, der Kerl brachte gute Neuigkeiten. Auch wenn er die Worte nicht ganz verstand, wusste er, dass es gute Neuigkeiten waren.

Der winzige Mann rief ihm etwas zu. Winkte und rief aus der blauen Ferne. Es kam ihm so vor, als wäre dieser Winzling ein Gestrandeter und Kevin ein vorüberfliegender Düsenjet. Auch wenn er das Gesicht nicht erkennen konnte, wusste er, es war Toof.

Toof rief ihn aus der blauen Unermesslichkeit. Toof sagte ihm, er solle sich keine Sorgen machen. Es sei gar nicht so schlimm, tot zu sein. Eigentlich ganz okay. Kein Grund zur Sorge, Kevin. Kein Grund, sich aufzuregen. Dem alten Toof ging’s ganz gut, Mann. Alles war gut.