11

 

Wenig später fuhr Cardinal an der Seite von Arsenault und seinen Phiolen mit den »Zeugen« den Highway 11 entlang. Arsenault trug eine Panorama-Sonnenbrille. Zusammen mit seinem Schnurrbart und dem langen Haar verlieh sie ihm mehr das Aussehen eines Viking Riders als eines Cops.

»Wieso zum Teufel nehmen wir Angus Chin?«, wollte Arsenault wissen.

»Weil wir uns, wenn wir nach Toronto runterfahren, wie jeder andere anstellen müssen, und das wird die Sache nur verzögern. Außerdem verfügt Angus Chin über drei Universitätsabschlüsse in Biologie, Entomologie und Parasitologie, und er weiß verdammt gut, wovon er redet.«

»Sicher, aber es ist ja wohl nicht ohne Grund, dass wir bis jetzt nicht mit ihm gearbeitet haben. Ich meine, Sie haben doch wohl auch was läuten gehört?«

Cardinal hatte was läuten gehört. Manche Leute sind einfach wie dafür geschaffen, Klatsch anzuziehen; andere fordern ihn geradezu heraus.

Auf Angus Chin traf beides zu. Zunächst war da schon mal sein familiärer Hintergrund – sein schottischer Vater war Matrose bei der Handelsmarine, seine Mutter Pharmazeutin aus Hongkong. An einem Ort wie Algonquin Bay war das exotisch, wenn nicht gar suspekt.

Und dann seine äußere Erscheinung: Der schottische Anteil von Chins Vorfahren hatte seine Augen ein wenig gerundet und sein Haar leicht gelockt, was ihn nicht daran hindern konnte, es zu einem Mandarin-Pferdeschwanz zusammenzubinden, der ihm bis ans Steißbein reichte, und das, obwohl er China nie näher gekommen war als bis zur University of California in L. A.

Die Gerüchteküche brodelte, kaum dass er nach seiner überaus langen Ausbildung in Toronto und Los Angeles wieder heimischen Boden betrat: Er rannte vor einer mörderischen homosexuellen Liebesaffäre davon; er arbeitete in irgendeiner finsteren Machenschaft für China; er war ein Arzt, dem wegen unorthodoxer Behandlungsmethoden die Lizenz entzogen worden war.

Doch nicht wegen dieser Gerüchte drehte Paul Arsenault sich zu Cardinal um und nahm seine alberne Sonnenbrille ab, um ihn eindringlich anzusehen.

»Ich rede nicht von diesem harmlosen Geschwätz. Ich rede von dem Gerücht, mit großem D und großem G.«

»Ach so, ja. Das große Gerücht«, sagte Cardinal.

»Und das ist Ihnen egal?« Arsenault knuffte Cardinal in den Arm. »Sie meinen, das hat keinen Einfluss auf den Fall?«

»Ich weiß nur so viel über das Gerücht, dass es ein Gerücht ist. Es ist keine Tatsache, und wir sollten wohl nicht gerade davon reden, wo wir dem Mann gleich gegenüberstehen.«

Arsenault zuckte dramatisch die Achseln. Er setzte die Sonnenbrille wieder auf und sah nach vorne auf die Straße.

Das große Gerücht drehte sich um Angus Chins Interesse an Parasitologie und das Studium von Bandwürmern. In der Stadt flüsterte man sich zu, dass er sich einen Bandwurm als Haustier halte. Natürlich knüpften sich die unvermeidlichen Fragen daran: Wie denn? Um Gottes willen, wo? Die Antwort lautete, dass Dr. Chin seinen Bandwurm dort hielt, wo Bandwürmer nun einmal leben, in seinem Darm. Er änderte seine Essgewohnheiten oder andere Variabeln und studierte die Reaktion des Wurms. Wuchs er langsamer oder schneller? Wurde er dicker oder dünner? Und wie konnte er diese Reaktionen messen? Wie bekam er Zugang zu seinem Versuchsobjekt? Er fastete zwei Tage. Am dritten legte er sich einen Würfel Zucker auf die Zunge. Der Wurm, der die Nähe von Nahrung witterte, arbeitete sich dann den Verdauungstrakt hinauf und erreichte irgendwann die Speiseröhre. Dann passte der Doktor den richtigen Moment ab und zog den Wurm aus seiner Kehle – kein Leichtes, wenn man bedenkt, dass die Kreatur angeblich einen Meter fünfzig lang war.

»Und ist Ihnen klar, was ein fähiger Verteidiger gegebenenfalls vor Gericht mit einer solchen Information machen wird?« Diesmal behielt Arsenault die Sonnenbrille auf. Er starrte Cardinal an, und es war, als würde man von einer riesigen Fliege beäugt. Er äffte einen Anwalt nach. »Dr. Chin, würden Sie dem Gericht wohl verraten – pflegen Sie irgendwelche Hobbys? Haben Sie Haustiere? Einen Bandwurm, verstehe. Und wo halten Sie Ihren kleinen Schatz? In Ihrem Darm. Wie höchst eigenartig. Und stimmt es auch, dass Sie ihm regelmäßig Auslauf gönnen?«

»Chin macht keine Aussagen vor Gericht«, sagte Cardinal. »Als Vollzeitakademiker kann man Richtern und Staatsanwälten nicht ständig auf Abruf zur Verfügung stehen.«

Er fand eine Parklücke, und sie liefen zum Gebäude der Naturwissenschaftlichen Fakultät hinüber. Im letzten Sonnenlicht glühte der Backstein dunkelorange. Vom See wehte eine frische, feuchte Brise herüber, und in den Bäumen raschelte der Wind. Der ganze Campus leuchtete um diese Zeit in einem intensiven Grün.

Aus dem Studententreff strömte eine Gruppe Mädchen, die lautstark und energisch plapperten.

»Mannomann«, sagte Arsenault, »Die werden mit jedem Jahr jünger. Mir kommen Collegestudenten wie Kinder vor.«

»Sind sie ja auch.« Cardinals eigene Tochter hatte das College erst ein paar Jahre hinter sich.

Sie folgten den Schildern zum Biologie-Institut und fanden nach ein paar Fehlversuchen Dr. Chins Büro. Cardinal klopfte an.

»Falls Sie Dr. Chin suchen«, erklärte ihnen ein junger Mann mit sehr dicken Brillengläsern, »der ist im Bio-Labor drei, die Treppe runter.«

Dr. Chin beaufsichtigte studentische Projekte, wozu er sich gerade über eine Anordnung von Petrischalen beugte. Er fasste einen Studenten am Arm und schüttelte ihn. »Überhasten Sie nichts. Manchmal haben Sie die Antwort am schnellsten, wenn Sie langsam vorgehen.«

»Dr. Chin?«

Er stand auf und warf seinen Pferdeschwanz über die Schulter zurück. »Wer sind Sie?«

»Ich bin Detective Cardinal, Kripo Algonquin Bay. Das ist Detective Arsenault von unserer Spurensuche.«

»Tatsächlich. Wie angenehm.«

»Können wir irgendwo ungestört reden?«

Chin rief einen älteren Studenten ein paar Tische von ihm entfernt, einen Mann mit schwabbeligen Zügen, die ihm ein ungesundes, knochenloses Aussehen verliehen. »Mr. Filbert?«

»Das ist Mr. Filbert«, sagte Chin. »Kann nicht schaden, wenn er unsere hiesigen Detectives kennen lernt. Mr. Filbert hat bei mir studiert, und dann hat ihn das harte Los getroffen, mein wissenschaftlicher Assistent zu sein. Ich behalte ihn ausschließlich hier, um ihn zu quälen.«

»Sie lassen mich unbenutzte Reagenzgläser spülen.«

»Promovierte Mitarbeiter spülen keine Reagenzgläser aus«, sagte Chin. »Mr. Filbert neigt zu Übertreibungen. Dennoch will ich ihm mal gestatten, mitzukommen, wenn er verspricht, sich zu benehmen.«

»Was ist mit den Studenten?«

»Ich denke, die werden ein paar Minuten ohne mich überleben.«

Chin führte sie in ein angrenzendes Labor und hängte seinen weißen Kittel über die Lehne eines Stuhls. Er war schlank, fast mager und wog mit seinen knapp eins siebzig sicher kaum über sechzig Kilo. Cardinal musste an den Bandwurm denken.

Chin setzte sich an einen Tisch mit einem Vergrößerungsglas auf einem beweglichen Gestell. »Also, dann zeigen Sie mal her.«

Arsenault reichte dem Professor eine Phiole.

Chin knipste sein Vergrößerungsglas an und hielt die Phiole darunter.

»Sehr interessant. Da haben Sie ja eine hübsche Sammlung Maden. Gute Arbeit«, sagte er, ohne aufzusehen. »Gute Sorte.«

»Ich bin eben Connaisseur.«

»Okay, Sie haben im Freien eine Leiche gefunden. Vermutlich im Wald. An einer ziemlich kühlen Stelle, stimmt’s? Vielleicht zwischen Felsen versteckt? Außerdem in der Nähe von Wasser, denke ich.«

Arsenault blickte zu Cardinal und dann wieder zu Dr. Chin. »Das alles können Sie tatsächlich erkennen?«

»Nicht weiter schwer. Das sind Calliphora calliphoridae vomitoria. Die gibt’s viel in bewaldeten Gegenden.«

»Den Namen muss man einfach lieben«, sagte Filbert. »Wissen Sie, dass die Viecher ihn Linnaeus verdanken?«

»Nicht jeder ist ein Fliegenfreak, Mr. Filbert.« Chin starrte immer noch auf die Phiole unter seinem Vergrößerungsglas. »Da sind auch Phormia regina dabei. Das ist eine Schmeißfliegenart, die man wirklich überall findet. Aber hier ist noch Calliphora vicina. Und das sagt uns was, Mr. Filbert?«

»Vicina ist eine andere Schmeißfliegenart. Die hält sich nur an schattigen, kühlen Stellen auf.«

»Deshalb zieht Mr. Filbert die fetten Stipendien an Land«, sagte Dr. Chin. »Von keinem Geringeren als der juristischen Fakultät. Für mich tun die keinen Fatz, um es mal so zu sagen.«

»Justitia liebt nun mal die DNA«, sagte Filbert kryptisch.

»Ich kann hier keine anderen Arten entdecken. Ist das alles, was Sie haben?«

Arsenault reichte ihm drei weitere Phiolen. Chin untersuchte sie eine nach der anderen unter dem Vergrößerungsglas. »Okay, jetzt haben wir Cynomyopsis cadaverina. Glänzende Schmeißfliege. Die bekommt man nur bei fortgeschrittener Verwesung. Dann hier noch Kurzflügel- und Raubkäfer, also Staphylinidae. Die ernähren sich von Maden.«

»Normalerweise würde man an einem Fundort im Freien mit viel mehr Arten rechnen«, sagte Filbert. »Besonders in den letzten Stadien.«

»Die Leiche lag hinter einem Wasserfall«, sagte Cardinal.

»Aha!« Chin wackelte mit dem Finger. »Die Fliegen haben sie nicht gefunden. Konnten sie nicht riechen. Dann ist die Sache klar.« Er rollte seinen Stuhl vom Vergrößerungsglas zurück.

»Können Sie mir irgendeinen Anhaltspunkt zur Todeszeit geben?«, fragte Arsenault.

»Kann ich vielleicht hexen? Offensichtlich muss ich die erst mal unter ein Mikroskop packen, um absolut sicher sagen zu können, was wir vor uns haben. Und selbst dann müssen sie, damit sie gerichtsverwertbar sind, erst mal schlüpfen. Auf diese Weise können Sie die Spezies eindeutig bestimmen. Aber Sie haben das dritte Larvenstadium, und Sie haben Raubkäfer, somit können Sie von ungefähr vierzehn Tagen seit dem Todeseintritt ausgehen.«

»Können Sie das weiter eingrenzen?«

»Kommen Sie nächste Woche wieder, meine Herren. Dann kann ich Ihnen schon einiges mehr dazu sagen.«

Die Schwingtür des Labors schloss sich bereits hinter ihnen, als Arsenault plötzlich stehen blieb. »Tut mir leid«, sagte er. »Aber ich muss die Frage loswerden.«

Bevor Cardinal ihn daran hindern konnte, riss Arsenault einen der Türflügel auf. »Hey, Doc. Ich muss Sie noch was fragen. Ein Gerücht, das ich gehört habe.«

»Arsenault«, sagte Cardinal. »Lassen Sie das, verflucht noch mal.«

»Und was wäre das für ein Gerücht, Detective?«

Arsenault schien einen Moment zu überlegen. »Stimmt es, dass die Kriebelmücken im Mai immer vor dem Victoria Day auftauchen?«

»In dieser Gegend? Das ist kein Gerücht, Detective. Das ist Tatsache.«

»Also, dann, danke, dass Sie mir Klarheit verschafft haben, hat mich doch irgendwie beschäftigt.«

»Sehr witzig«, sagte Cardinal, als sie draußen auf dem Parkplatz waren. »Mit der Nummer könnten Sie auftreten.«

»Das muss ich Delorme erzählen«, sagte Arsenault. »Was Sie für ein Gesicht gemacht haben.«