9

 

Eine Woche nach diesem feierlichen Abend am Ufer treffen sie sich zu viert am Rosebud Diner, einem schmuddeligen Lokal am südlichen Ausläufer der Stadt in der Nähe von Reed’s Falls. Red Bear, Kevin, Leon und Toof. Toof macht ein beschämtes Gesicht, weil er sich auf dem Weg zum Rosebud – einem Laden, in dem er nach Kevins Schätzung schon mindestens dreimal gewesen ist – verlaufen hat und die anderen auf ihn warten mussten. Red Bear sagt nichts, sondern starrt Toof nur mit diesen Husky-Augen an. Dann nimmt er sie mit in den Wald.

Zuerst folgen sie der Reihe von Masten über den Hügel, dann schwenken sie auf einen um diese Jahreszeit unbenutzten Pfad für Schneemobile ein. Nach ein paar hundert Metern biegen sie auf etwas ein, das wohl ein Pfad sein soll, was man aber dazusagen muss, denn er ist kaum begehbarer als das dickste Gestrüpp rundum. Irgendwann kommen sie auf eine felsige Lichtung auf einer Kuppe.

Red Bear ließ sie ein Altarfeuer aufbauen, wie er es ihnen das letzte Mal gezeigt hatte. Er wies auf den fast vollen Mond. »Ideal«, sagte er. »Einfach ideal.« Er trug Wildlederhose und Weste, beides mit Fransen versehen, dazu an der Weste feine Perlenstickerei. Hollywood-Indianer, dachte Kevin, an jedem anderen Mann völlig deplatziert, aber nicht an Red Bear. An seinem Gürtel klapperte eine Feldflasche neben einem langen Messer in Wildlederscheide.

Red Bear verharrte, bis das Feuer loderte.

»Unser Opfer wartet auf der anderen Seite des Hügels. Ihr drei bleibt hier und rührt euch nicht – egal, was ihr hört – rührt euch nicht. Vielleicht hört ihr auch gar nichts. Wenn ich zurückkomme, werde ich einen Ritualtanz vollziehen. Falls das für euch zu seltsam ist, falls ihr euch nicht für andere Kulturen und Gebräuche öffnen könnt, dann möchte ich euch bitten, jetzt zu gehen. Jetzt zu gehen und nie wiederzukommen.«

Niemand rührte sich.

»Falls ihr jedoch bleibt, dürft ihr niemals mit irgendjemandem darüber sprechen, habt ihr verstanden?«

Red Bear trat so dicht an Kevin heran, dass nur wenige Zentimeter ihre Gesichter trennten; der Blick in seinen hellen Augen schien entrückt. »Verstehst du?«

»Ja, sicher. Ich hab verstanden. Ich bleibe.«

Dasselbe machte Red Bear mit Leon. Auch Leon sagte, er würde bleiben.

Dann Toof. Toof, der mickrige Wicht mit seiner Himmelfahrtsnase – fast wie der Rüssel eines Schweins. Im Schein des Feuers sah er wie eine Kreatur der Finsternis aus.

»Hast du verstanden?«, sagte Red Bear zu Toof. »Du darfst niemals mit irgendjemandem über das hier sprechen.«

»Werde ich nicht. Versprochen.«

»Bei Androhung des Todes«, sagte Red Bear.

»Wegen mir brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, sagte Toof. »Ich werd’s keiner Menschenseele sagen, okay? Ihr seid schließlich so was wie meine Brüder.«

»Genau. Wir sind jetzt deine Familie.«

Red Bear zog sein Messer aus der Scheide.

»Wartet hier und verhaltet euch ruhig. Ich bin in zehn Minuten wieder da. Unterdessen redet kein Wort. Starrt in die Flammen und macht euch innerlich leer. Ich werde die Geister um Führung bitten.«

Red Bear hielt sein Messer hoch über seinen Kopf und reckte sich auf Zehenspitzen in die Höhe, als wartete er darauf, vom Blitz getroffen zu werden. Er fing an, in einer Sprache zu reden, in der Kevin Ojibwa oder Chippewa vermutete oder weiß der Geier was. Klang anders als alles, was er bis jetzt gehört hatte, voller Schnalz- und Rachenlaute, weniger Sätze als vielmehr ein Auf und Ab von Silben. Es gab eine Menge Wiederholungen. Schließlich ließ Red Bear das Messer sinken und schritt über den Kamm, so dass die Perlen leise klirrten.

Kevin starrte in die Flammen.

Von der anderen Seite des Hügels war nichts zu hören, und keine der drei Gestalten, die um das knisternde Feuer saßen, sagte ein Wort.

Kevins Gesicht glühte heiß, während sein Rücken unangenehm durchgefroren war. Er wünschte sich, in der Stadt zu sein und in der World Tavern ein paar Halbe zu kippen.

Da war ein Schrei zu hören, und wenig später kam eine dunkle Gestalt über den Hügel. Red Bear beschleunigte seine Schritte und schrie erneut, dann sprang er zwischen sie und das Feuer. Jetzt verfiel er in einen Sprechgesang, während er mit baumelnden Gliedern um die Flammen tanzte. Zuerst war es eigentlich kein Tanz, sondern eher ein Schlurfen im Takt zu seinem leisen Gesang. Der Schatten, den das Feuer von ihm warf, ragte über die Felsen und Bäume rund um die Lichtung.

Ganz allmählich kam Leben in den Tanz. Red Bear sprang und drehte sich, so dass seine Arme und Schultern im Schein der Flammen schimmerten. Seine Arme waren bis zu den Ellbogen blutverschmiert. Er hatte einen großen Lederbeutel in der Hand, den er um seinen Körper rotieren ließ, während er um das Feuer tanzte, so dass ein doppelt kreisendes Bewegungsmuster entstand. Dann blieb er plötzlich stehen, öffnete den Sack und drehte ihn um. Der Inhalt plumpste in die brennenden Scheite, so dass es Funken sprühte.

Die anderen drei fuhren unwillkürlich zurück und strichen sich hustend über die Kleider. Als Kevin wieder hinsah, brutzelte ein Schweinekopf in den Flammen, dessen kleine Augen fest geschlossen waren und an den Winkeln kleine Fältchen bildeten, als wäre das Ganze zu komisch, wenn es nicht zu traurig wäre. Sein Rüssel war mit Isolierband verklebt. Seine vier Pfoten schmorten rund um den Kopf in der Glut.

Red Bear stand dicht am Feuer und reckte sich gen Himmel, wobei er jeden Muskel in seinem Körper dehnte. Seine Halsadern traten wie Stromkabel vor. Seine Stimme war dünn und rau geworden, und die Worte sprudelten mit schrecklicher Dringlichkeit hervor.

Die Worte – falls es denn Worte waren – überstürzten sich. Spucke flog über die Flammen, und an einem Punkt klang es, als würde Red Bear ersticken. Kevin fragte sich, ob er übergeschnappt war. Leon schien nicht sonderlich beunruhigt, während Toof wie ein Kind im Zirkus mit offenem Mund staunte.

Dann setzte plötzlich Stille ein, und Red Bear schien zu erschlaffen, von dem, was ihn ergriffen hatte, wieder freigegeben. Langsam sank er zu Boden.

Niemand sprach ein Wort.

Nach einer Weile fragte Red Bear mit seiner gewohnten Stimme: »Hab ich was gesagt?«

»Allerdings«, antwortete Kevin. »Sogar ’ne ganze Menge. Nur leider nicht auf Englisch.«

»Manchmal weiß ich nicht, ob ich einfach nur Stimmen höre oder ob ich sie übermittle.«

»Also, du hast sie laut und deutlich übermittelt.«

»Umso besser«, sagte Red Bear. »Wir kennen jetzt die Richtung.«

»Und wohin soll’s gehen?«, wollte Toof wissen. »Nach Norden?«

Leon sah ihn mitleidig an. »Nicht die Art Richtung, du Schwachkopf.« Er wandte sich an Red Bear. »Wie genau? Wissen wir, was wir als Nächstes zu tun haben?«

»Allerdings. Ich hab Ort und Zeit und sogar eine Adresse.« Red Bear schlug sich auf die Knie und sah die anderen an. »Hattet ihr Angst?«

»Nein, es war phantastisch«, sagte Toof. »Wie im Kino, Mann. Cooler Tanz.«

»Und du?« Red Bear sah Leon an.

»Nö, ich hatte keine Angst, auch wenn ich mich schon wohler gefühlt habe.«

»Und du?« Red Bears Blick fiel auf Kevin.

»Nervös«, räumte Kevin ein. »Die Sache mit der Stimme hat mich ganz schön nervös gemacht. Außerdem hast du ’ne Menge Blut an dir.«

Red Bear betrachtete seine Arme, als sähe er sie zum ersten Mal. Er drehte seine Feldflasche auf und goss sich nacheinander Wasser auf beide Arme. Er brauchte ein paar Minuten, um das Blut abzukriegen.

»Hast du da drüben wirklich ein Schwein erlegt?«, fragte Toof.

Red Bear ignorierte die Frage oder hörte sie einfach nicht, während er sich darauf konzentrierte, sich rein zu waschen. »Meine Stimme war vermutlich auch verändert, oder?«

»Kann man wohl sagen«, bestätigte Toof. »Du hast dich ganz undeutlich angehört.«

»Das ist nicht meine Stimme. Das ist der Geist, der durch mich spricht. Er will nicht reden, das macht die Sache manchmal schwierig. Aber was er mir gesagt hat …« Red Bear schüttete den Rest aus seiner Flasche übers Feuer, so dass es zischte und dampfte. »Falls das, was er mir gesagt hat, stimmt, werden wir sehr erfolgreich sein.«

»Wann?«, wollte Toof wissen. »Wann soll’s denn losgehen?«

»In drei Tagen. Wir werden zusammen einen kleinen Ausflug machen.«

»Wohin? Wo willst du hin?«

»Du stellst zu viele Fragen. Ich sag euch, wohin, wenn es so weit ist.«

 

Ein paar Tage später ließ Red Bear Leon die anderen zusammentrommeln und zum Rosebud rauskommen. Leon weigerte sich, ihnen zu sagen, worum es ging; es sollte eine Überraschung sein. Red Bear wartete an seinem üblichen Tisch.

»Ich hab das perfekte Zuhause für uns gefunden«, sagte er und warf für seinen Kaffee einen Fünf-Dollar-Schein auf den Tisch.

Draußen stieg er in seinen BMW, und die Übrigen folgten in Leons TransAm. Wie sich zeigte, steuerten sie ein verlassenes Sommerlager draußen am Südufer des Lake Nipissing an. Die Ansammlung kleiner Blockhütten sollte aller Wahrscheinlichkeit nach abgerissen werden, um einem Hotelneubau Platz zu machen.

Red Bear hatte Beziehungen zur Abrissfirma und mit den Leuten vereinbart, dass er die Hütten über den Sommer benutzen durfte. Das Lager umfasste ein überwuchertes Baseballspielfeld, eine große, aus Steinen gebildete Feuerstelle zum Kochen unter freiem Himmel und einen verfallenen Anlegeplatz.

»Mann, wir haben sogar einen eigenen Strand und so«, sagte Toof. »Volleyballpfosten, vielleicht lässt sich sogar irgendwo ein Netz auftreiben.«

»Wieso? Willst du ’ne Mannschaft aufmachen?«, fragte Leon zurück. »Es gibt kein Netz, keinen Ball – rein gar nichts. Wir haben nur die Hütten.«

»Was soll der Spaß denn kosten?«, fragte Kevin.

»Keinen Cent«, sagte Red Bear und lächelte hinter seiner blitzenden Sonnenbrille. »Wir zahlen nur für Strom und Wasser.«

Noch am selben Tag waren sie alle eingezogen. Jeder hatte seine eigene Hütte, und sie konnten kommen und gehen, wie sie wollten. Die Kochgelegenheiten waren im Lager allerdings äußerst bescheiden, so dass sie oft im Rosebud essen würden, doch Red Bear und Leon verbrachten so viel Zeit wie möglich im Camp. Kevin und Toof dagegen zogen tagsüber das städtische Leben vor, doch die Miete war unschlagbar.

 

Ein paar Tage nach seinem Umzug ins Lager fand sich Kevin abends im Heck eines kleinen Kajütbootes wieder, auf dem Weg durch die kabbeligen Wellen der nördlichen Bucht. Toof lehnte sich über das Dollbord und ließ die Hand ins Wasser baumeln. Leon war am Ruder, während Red Bear es sich auf dem großen Ledersitz neben ihm gemütlich gemacht hatte. Ein angedeutetes Lächeln auf den Lippen, drehte er sich langsam in alle Richtungen und wieder zurück. Er trug immer noch seine Sonnenbrille, auch wenn es lange nach Sonnenuntergang war. Von Westen her blies eine steife Brise, und Kevin bereute, dass er keine Jacke mitgenommen hatte. Sie hatten an einem privaten Steg in Shanley abgelegt und sausten jetzt über die Weite der Bucht. Sie waren so weit draußen, dass Autoscheinwerfer zu Glühwürmchen schrumpften. Der silbrige Turm der Kathedrale und die Wohnblöcke, die zusammen die Skyline von Algonquin Bay bildeten, schimmerten im Vollmondlicht. Zu ihrer Linken glitten die Manitou Islands vorbei, zu ihrer Rechten das Anishinabeck-Reservat. Von da an machten sich die Lichter am Ufer rar. Als sich der Mond hinter eine Wolke duckte, breitete sich der See aus wie ein Teppich aus schwarzem Samt.

Zwanzig Minuten später deutete Red Bear auf eine Gruppe beleuchteter Bojen. »Der French River«, brüllte er über den Lärm des Innenbordmotors. »Sind gleich da.« Er stand auf und legte Leon eine Hand auf die Schulter. Er beugte sich zu ihm herunter und sagte etwas zu ihm, während er durch die Windschutzscheibe wies. Leon drehte das Ruder, und das Boot schwenkte Richtung Küste. Durch die Bäume blinkten drei Lichter, eine Dreieckskonstellation.

»Das hier hat mir der Geist gezeigt«, brüllte Red Bear über den Lärm. »Das Dreieck da vorne.«

Auf ein Zeichen von Red Bear stellte Leon den Motor ab, und sie ließen sich auf dem schwarzen Wasser treiben.

»Von hier ab sagt keiner ein Wort. Leon und ich übernehmen das Reden. Vielleicht ist niemand da, oder höchstens einer. So oder so ist es kein Problem. Toof, du bleibst im Boot.«

»Nee, ich will mit. Komm schon, Red Bear, lass mich mit rüber.«

»Du bleibst im Boot. Das ist wichtig. Du musst jeden Moment startklar sein. Kann ich dich damit betrauen?«

»Ach so, geht klar, Mann. Ich wär einfach nur lieber mitgekommen.«

Vor ihnen tauchte eine Anlegestelle in der Dunkelheit auf. Red Bear sprang darauf und wickelte ein Tau um die Klampe, bevor er im Flüsterton zu Kevin sagte: »Wirf mir das da zu.«

Kevin schleuderte ihm die Achterleine entgegen, und Red Bear zog das Heck so herum, dass der Bug auf den See hinaus wies. Dann nahm er eine andere Taurolle von backbord und hängte sie sich über die Schulter, als wollte er einen Berg besteigen.

Kevin und Leon sprangen auf den Landesteg. Schweigend liefen sie zu dritt über den Strand in Richtung der drei Lichter. Kevin folgte Leon die Steinstufen hinauf in den Garten hinter einem kleinen Bungalow, der zwischen hohen Büschen verborgen lag. Er sah sich um und stellte fest, dass Red Bear nicht mehr bei ihnen war. Im Haus waren die Lichter und der Fernseher mit seinem kühlen, flackernden Schimmer an. Das Herz pochte Kevin bis zum Hals.

Leon zögerte nicht. Er ging geradewegs bis zur Tür und klopfte an.

Der Fernseher verstummte, dann die keineswegs freundliche Stimme eines Mannes. »Wer ist da?«

»Peter Northwind schickt mich.«

Es war ein Geräusch zu hören, wie wenn jemand durch einen Raum schlich, dann schien Licht durchs Schlüsselloch. Es wurde schwächer, und die Stimme meldete sich wieder.

»Du bist nicht Northwind.«

»Klaro, Dummbacke. Deshalb hab ich ja auch gesagt, Northwind schickt mich. Bist du Wombat?«

»Tut nix zur Sache, wer ich bin. Du kommst zu früh. Ungefähr vier Stunden.«

»Wir hatten Rückenwind. Was erwartest du, sollen wir vielleicht stundenlang auf eurem beschissenen See rumschwimmen?«

»Losung.«

»Was?«

»Du hast mich verstanden. Wie lautet die Losung?«

»Es gibt keine, Cowboy. Ich hab zwanzig Pfund Losungen bei mir.« Leon hielt den Koffer hoch.

»Von der Tür zurück.«

Leon und Kevin traten ein Stück zurück.

»Eine Bewegung, und ich mach euch alle.«

»Keine Sorge. Wir rühren uns nicht.«

Die Tür ging auf, und ein Kloß in menschlicher Gestalt mit grauem Pferdeschwanz füllte den Türrahmen aus. Eine Pistole blitzte im Mondlicht auf.

»Niemand verscheißert die Viking Riders und hat noch Gelegenheit, drüber zu quatschen«, sagte er. »Ich kann nur für euch hoffen, dass ihr das nicht versucht.«

»Verflucht, nein«, beteuerte Leon. »Wir werden doch unsere tollen Beziehungen nicht versauen.«

»Ich hab keine Beziehungen mit euch. Ich hab eine Beziehung mit Northwind. Stell den Koffer ab und tretet zurück.«

Leon und Kevin taten, was er sagte. Es war das erste Mal, dass Kevin in eine Pistolenmündung blickte, und er staunte über die Wirkung. Ihm flatterten die Knie, und er musste dringend aufs Klo.

»Mach ihn auf.«

Leon kniete sich auf ein Bein und drückte auf die Verschlüsse des Köfferchens.

»Moment noch, ich glaub, die klemmen.« Fluchend rasselte er ein bisschen daran.

»Das gefällt mir nicht«, sagte der Mann. »Verpisst euch.« Ein dumpfer Schlag. Eine Klinge drückte sich an den Hals des Mannes.

»Lass sie fallen«, sagte Red Bear. »Oder ich schneide dir einen zweiten Mund.«

Die Pistole rührte sich nicht. »Wenn du mir auch nur einen Ritzer verpasst, mach ich deinen Freund hier alle.«

»Ja, aber er stirbt schnell. Du dagegen …«

»Und woher soll ich wissen, dass du mich nicht trotzdem kaltmachst?«

»Höchst einfach«, sagte Red Bear. »Wenn du mir keinen Grund gibst, dich umzubringen, tu ich’s auch nicht.«

Der Mann ließ die Waffe sinken. Red Bear riss sie ihm aus der Hand und ließ sie auf seinen Kopf niedergehen.

Der Mann sank auf die Knie, versuchte, sich hochzurappeln, doch Red Bear zog ihm noch eine über. Der Mann sackte zusammen und blieb am Boden. Red Bear warf Leon die Waffe zu, nahm das Tau von der Schulter und band dem Mann mit einem komplizierten Knoten die Hände.

Leon zupfte Kevin am Ärmel. »Komm schon.«

Er folgte Leon durch die Tür in die Küche.

»Jemand zu Hause?«, brüllte Leon und kicherte. »Ich liebe so was«, sagte er und winkte mit der Pistole. »Könnte mich glatt dran gewöhnen. Machen wir mal ’nen Rundgang, ich hätte nicht übel Lust, ein bisschen Geld abzuheben.«

Sie gingen von Zimmer zu Zimmer und suchten nach dem Bargeld, das laut Red Bear irgendwo versteckt sein musste. Das Haus wirkte unbewohnt, auf jeden Fall dürftig eingerichtet. Kevin riss ein paar Wandschränke auf, ohne etwas zu finden.

Schließlich rief Leon aus einem anderen Raum, »Hab’s gefunden!«

Leon stand in einem kleinen Schlafzimmer, in dem es nichts weiter als ein schmales Feldbett gab. Er hatte den Aktenkoffer schon aus dem Schrank gezogen. Es war die Sorte mit kleinen Zahlenschlössern und Schnappverschlüssen, von denen die Riders allerdings keinen Gebrauch gemacht hatten. Er ließ sie aufschnappen, und im nächsten Moment blickten sie auf die größte Bargeldsumme, die sie beide je gesehen hatten – alles fein säuberlich gebündelt und mit Banderole.

»Oh Mann«, sagte Kevin. »Wieso muss ich so dringend pinkeln?«

»Weil du dir in die Hosen machst, Junge. Wir sind reich.«

»Glaubt ihr jetzt an Magie, hey?« Red Bear war hinter ihnen eingetreten.

»Hab ich schon immer«, sagte Leon. »Aber jetzt ist es mein Evangelium. Ich bin ein Magie-Missionar. Ich möchte die Leute zur Magie bekehren.«

»Zurück zum Boot«, sagte Red Bear. »Wir sollten weg sein, wenn die übrigen Vikings kommen.«

Als sie wieder draußen waren, brachte Red Bear ihre Biker-Geisel mit leichten Schlägen halb zu Bewusstsein. Er kam auf die Knie, schwankte und erbrach sich. Es brauchte eine Weile und die Überredungskunst einer Messerspitze, um ihn zum Steg hinunterzubugsieren.

Kevin gefiel es nicht, so viel Klinge zu sehen: Nach den Erklärungen, die er vor diesem Abenteuer gehört hatte, war er auf Gewalt nicht gefasst gewesen.

Toof warf den Motor an, sobald sie das Boot betraten. Er berührte den Koffer wie eine Heiligenreliquie. »Ham wir’s geschafft oder was?«

»Wir haben den Everest bezwungen, Mann«, erwiderte Leon.

Red Bear schubste den schwankenden Viking, der jetzt nach Erbrochenem stank, aufs Boot.

»Schaff ihn runter. Mach ihn ein bisschen sauber und kleb ihm das hier über den Mund.« Damit warf er Leon eine Rolle Isolierband zu. »Aber achte darauf, dass er Luft bekommt. Ich will nicht, dass er uns wegstirbt.«

Leon schubste den Biker die Stufen hinab und verschwand unter Deck.

»Was werden wir mit ihm machen?«, fragte Kevin. In seinem Bauch breitete sich eine bedrohliche Geschwulst der Angst aus.

»Wir behalten ihn nur, bis diese kleine Transaktion abgeschlossen ist, dann lassen wir ihn laufen.«

»Dafür bringen die Vikings uns um, das ist dir doch wohl klar. Ich meine, im wörtlichen Sinne. So wie Kanga vom Erdboden verschluckt wurde.«

Red Bear trat so nahe an Kevin heran, dass er die Wärme von seinem Gesicht spüren konnte. Der Ausdruck in seinen Augen war so liebevoll, dass er Angst hatte, er wollte ihn küssen.

»Du brauchst dir um nichts mehr Sorgen zu machen, Kevin. Ich kümmer mich jetzt um euch. Und wie du siehst« – er wies auf die Küste, den Himmel, den See –, »sorgen andere für mich. Du brauchst mir einfach nur zu vertrauen.«

»Ich hab nur Angst, weiter nichts. Wir haben gerade eine Biker-Gang beklaut.«

»Dafür hab ich Verständnis. Aber traust du mir?«

»Ich traue dir.«

Nachdem Toof abgelegt hatte, setzte sich Red Bear neben ihn. Er kam ihm mit dem Gesicht ganz nahe, so dass Toof verblüfft den Kopf zurückzog. »Vertraust du mir?«

»Klar, sicher vertrau ich dir«, sagte Toof. »Na klar, du bist mein Red Bear.«

Red Bear legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Gut. Entspann dich, ich übernehme das Ruder.«

»Ach komm schon, lass mich noch ein bisschen.«

»Ein andermal.«

Toof sah enttäuscht aus, stand aber auf und zog sich ans Heck zurück.

Red Bear lenkte sie an die Südseite der Manitou Islands. Ein paar Minuten lang erstrahlten die Lichter von Algonquin Bay am Küstenstreifen, dann verschwanden sie hinter den schwarzen Umrissen der Inseln. Es war kälter geworden, und Kevin legte die Arme um den Leib, um sich warm zu halten. Er spürte seine Gänsehaut.

Nach einer Weile stellte Red Bear den Motor ab und ließ sie treiben, während die Wellen an den Bootsrumpf schlugen.

Das Brummen eines kleinen Flugzeugs ertönte in der Luft. Kevin suchte den Horizont ab, sah aber nichts weiter als die Silhouette mondbeschienener Wolken. Das Brummen nahm zu. Das Flugzeug tauchte unter die Wolken, ein Viersitzer, bestenfalls. Es kam dröhnend von hinten auf sie zu und schwebte dann aufs Wasser herab, wobei die Tragflächen ein wenig schwankten.

Die Pontons streiften die Oberfläche, bevor sie zwei weiße Furchen ins schwarze Wasser pflügten. Red Bear startete den Motor und fuhr zum Flugzeug hinüber. An der Seite waren Zahlen und Buchstaben zu erkennen, doch Kevin hatte keine Ahnung, was sie bedeuteten. Der Flieger konnte aus der Gegend sein, hätte nach seiner unmaßgeblichen Meinung aber genauso gut direkt aus Chicago oder aus der Karibik kommen können. Die winzige Tür ging auf, und Kevin erhaschte einen Blick auf schulterlanges, schwarzes Haar, zuerst allerdings auf eine Pistole.

»Sind Sie Red Bear?«

»Ja, das bin ich.«

»Zeigen Sie mir Ihren Status-Ausweis.«

»Meinen was?«

»Ihren Status-Ausweis. Und zwar ein bisschen plötzlich.« Red Bear zog den Ausweis aus der Brieftasche und reichte ihn hinauf. »Sie brauchen mir nicht zu glauben«, sagte er. »Sie können bei Häuptling Whiteflint nachfragen, oben in …«

»Red Lake. Ja, hab ich bereits. Er sagt, Sie sind in Ordnung.«

»Verlangen Sie nur nicht von mir, dass ich Ojibwa zum Besten gebe.«

»Versteh ich genauso wenig wie Sie.«

Es folgten ein paar knifflige Manöver, während deren Red Bear und der Mann im Flieger Aktenkoffer tauschten. Leon öffnete den Koffer, den sie bekamen. Darin befanden sich stapelweise 200-Gramm-Beutel mit weißem Pulver.

»Teste das«, sagte Red Bear.

Kevin zog einen Beutel von unten heraus und stach ein winziges Loch hinein. Er holte tief Luft und hielt den Atem an, während er versuchte, das Zittern in seinen Händen unter Kontrolle zu bringen. Er nahm eine Prise auf eine Messerspitze und schüttete sie sich auf die Zunge. Der bittere Geschmack nach Heroin breitete sich in seinem ganzen Körper aus. Er machte seinen »Chemiekasten« auf und streute eine Prise des Pulvers in ein Fläschchen. Dann brach er eine Ampulle mit einer klaren Flüssigkeit, gab sie dazu und wirbelte die Mischung eine halbe Minute lang herum. Spuren von Rot und Grün erschienen und verblassten. Er brach eine zweite Ampulle auf, gab sie ebenfalls in die Mischung und schüttelte nochmals fünf Sekunden.

Red Bear richtete den Strahl einer großen Taschenlampe auf das Fläschchen. Die Flüssigkeit hatte jetzt eine gleichmäßige Farbe angenommen.

»Dunkelrot«, sagte Kevin. »Wir haben Stoff von achtzigprozentiger Reinheit vor uns. Praktisch ohne Beimischung.«

»Fertig mit Zählen?«, rief Red Bear zum Flugzeug hinauf. Das Gesicht erschien erneut im Fenster.

»Hätte nur noch eine Frage.«

»Schießen Sie los«, sagte Red Bear.

»Wie haben Sie’s geschafft, die Übergabe von den Vikings zu übernehmen?«

»Wir konnten sie davon überzeugen, dass es einfach besser fürs Geschäft ist, wenn sie sich an uns halten.«

»Hmhm. Und mit welchen Argumenten?«

»Reine Magie«, sagte Red Bear.

Wenig später hob das Flugzeug ab und verschwand als Schatten in den mondbeschienenen Wolken.

Red Bear lenkte das Boot über die Bucht und zurück zu der privaten Anlegestelle, an der sie es sich geliehen hatten. Kevin hätte nicht sagen können, ob sie es sich wirklich nur geborgt oder es wie das Geld gestohlen hatten. Na ja, mit dem Klauen konnte er wohl leben, solange am Ende zur Belohnung eine Kleinigkeit im Löffel war.

Red Bear stieg als Erster aus. Dann drehte er sich zu ihnen um und breitete wie ein Priester zum Segen die Arme aus. »Danke, jedem von euch. Dieses kleine Abenteuer ist wie geschmiert gelaufen, und ihr werdet alle gut bezahlt. Morgen Abend werden wir richtig feiern. Also wirklich, ihr macht das wie Profis, und ich bin sehr stolz auf euch alle.«

»Was wird aus unserem Viking-Freund?«, wollte Kevin wissen.

»Wie ich sehe, hast du immer noch Angst, Kevin. Aber ich verfüge über Informationen in dieser Hinsicht, von denen du nichts weißt. Um unseren Viking-Freund brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich werde ihn in die wundersame Welt der Geister einführen, und die Vikings werden uns nicht die geringsten Probleme bereiten.«

»Aber sobald er zu ihnen zurückgeht, wird er ihnen alles stecken. Muss er ja wohl. Sonst bringen sie ihn um.«

»Er wird nicht zu ihnen zurückgehen.« Red Bear quittierte ihre ungläubigen Gesichter mit einem wohlwollenden Lächeln. »Ab heute Abend wird er für uns arbeiten.«

Red Bear führte den angeschlagenen Viking zu seinem geparkten Wagen und ließ ihn in den Kofferraum purzeln.

Es vergingen einige Wochen, in denen sie von Wombat Guthrie nichts mehr hörten. Ob er tatsächlich für Red Bear arbeitete, wusste Kevin nicht. Die Sache war die: Er besaß jetzt mehr Eins-a-Heroin, als er in seinem ganzen Leben gesehen hatte, und würde sich davon nicht trennen, nur weil er zu naseweis war.

 

Kevin schlug nach einer Mücke, die gerade im Zickzackkurs zum Fenster seiner Hütte flog. Wieder fragte er sich, wo wohl Terri steckte, falls sie wirklich nach Vancouver zurückgekehrt war. Er dachte daran, sie anzurufen und sich bei ihr zu entschuldigen, aber – was soll’s, zum Teufel.

»Sie sagt, sie hat nur versucht, dir zu helfen«, sagte Letterman, das Kinn in die Hand geschmiegt.

»Ich weiß, ich weiß.«

»Und sie könnte richtig liegen, was Red Bear betrifft. Er ist nicht gerade so was wie der nette Junge von nebenan.«

»Das weiß ich auch, Dave. Ich bin nicht mehr sechs. Ich brauche niemand, der sich als meine Mami aufspielt. Das musste mal gesagt werden.«

Letterman beugte sich vor.

»Du hast ihr gesagt, du wärst runter vom Stoff«, sagte er. »Wieso hast du dann immer noch einen Haufen davon? Du bist ein Skier, stimmt’s?«

»Also, ich bin entschieden runter vom Stoff, Dave. Das war nur eine Phase, durch die ich musste, Dave, und ich denke, ich bin dadurch wesentlich gereift. Aber jetzt brauch ich es nicht mehr. Ich mach da nur noch wegen des Geldes mit, und dann ab die Post.«