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Die Polizeidienststelle Algonquin Bay ist nicht so ein Drecksloch, wie man es von Krimiserien über die New Yorker Polizei kennt. Seit der Eröffnung des neuen Präsidiums vor zwölf Jahren hat sich die Kripo das fade Dekor einer kleinen Bausparkassenfiliale bewahrt. Die Fenster an der Ostseite gewähren – zumindest morgens – gutes Licht und dazu einen ausgezeichneten Blick über den Parkplatz.

Cardinal war gerade im Sitzungssaal und packte seine letzten Aktenordner in eine Kiste – und mit ihnen einen Fall, der ihn ein halbes Jahr lang seine ganze Kraft gekostet hatte. Es war dabei um eine kriminell veranlagte Familie gegangen, die auf dem Wege einer Klage wegen Lärmbelästigung über den angeblichen Krach beim Grillen den Gartengrill einer Nachbarsfamilie eingesackt hatte. Eines der Familienoberhäupter war mit dem Gesicht nach unten in der Worcestersauce gelandet, als es einem Herzinfarkt erlag. Cardinal hatte Monate in die Ermittlungsarbeit gesteckt, die am Ende einen stinknormalen Unfalltod bestätigte.

Alle naselang drang ein weiblich-zartes Tak Tak Tak vom Einhämmern eines Nagels in seine Gedanken. Frances, langjährige Vorzimmerdame und Polizeichef Kendalls Mädchen für alles, hängte gerade eine Gruppe neu gerahmter Fotos an die Kieferntäfelung. Bis jetzt hatte sie erst eins von Chief Kendall beim Amtseid angebracht und ein weiteres von Ian McLeod, in voller Montur und klatschnass, nachdem er soeben eine Mutter von drei Kindern vor dem Ertrinken im Trout Lake gerettet hatte.

»Was halten Sie von dem hier?«, fragte Frances.

Ein Schwarzweißfoto im Format zwanzig mal fünfundzwanzig von einem beträchtlich jüngeren Jerry Commanda während seiner Zeit bei der Kripo Algonquin Bay, mit Base-ballkappe und Sonnenbrille. Er stand vor einem Steintor, auf dem ein gusseiserner Adler thronte – die Klauen angespannt, die schwarzen Schwingen wie zum Flug gespreizt.

»Ist das Eagle Park?«, fragte Cardinal.

»Hmhm.«

»Daran kann ich mich noch erinnern. Es war ein Wohltätigkeitsspiel gegen die Feuerwehr.«

»Ist es zu fassen, wie dürr Jerry da noch war?«

»Ist er immer noch. Ein weiterer gewichtiger Grund, wenn man denn einen bräuchte, um ihn irritierend zu finden.«

»Nun machen Sie aber mal einen Punkt, alle lieben Jerry.« Frances war gegen Ironie so immun wie eine Heilige.

»Noch ein Grund«, sagte Cardinal.

»Also, Sie …«

Cardinal verfiel wieder in Schweigen. Das Konferenzzimmer war im Vergleich zu ihrem Großraumbüro der reine Luxus. Es verfügte sogar über Teppichboden, in Königsblau, mit einem tiefen Flor, der einiges von Frances’ Gehämmer sowie dem Getöse aus dem Gewahrsamstrakt schluckte. Allerdings war er nicht tief genug, um das Gezeter eines gewissen Jasper Colin Crouch zu dämpfen.

Jasper Colin Crouch war Langzeitarbeitsloser und als Bauarbeiter nicht mehr zu vermitteln, von der Gestalt eines Grizzlybären und im Wesen noch viel schlimmer. Crouch war, darin entsprach er ganz dem Klischee, der Polizei einschlägig bekannt, was er seiner Neigung verdankte, in nüchternem Zustand seine Frau und in betrunkenem seine zahlreichen Sprösslinge zu verprügeln. Detective Lise Delorme hatte ihn einige Tage zuvor wegen Körperverletzung einkassiert, nachdem sein zwölfjähriger Sohn mit einem gebrochenen Arm ins Krankenhaus musste. Der Junge stand jetzt vorübergehend unter der Vormundschaft des Jugendamts Ontario.

Als ein gewaltiges Gebrüll ertönte – eine Art lauter Elchschrei, könnte man sagen –, sah Cardinal auf. Er wusste genau, woher das kam. Dem Brüllen folgte ein ebenso gewaltiges Krachen.

»Du liebe Güte«, sagte Frances und griff sich ans Herz.

Cardinal sprang auf und rannte zum Gewahrsamstrakt.

Der Boden war überflutet – Crouch war wohl über den Wasserkühler gestolpert. Jetzt türmte er sich angriffslustig vor Delorme mit ihren eins sechzig auf, die gegenüber diesem Bollwerk aus Fett und Muskelmasse noch beträchtlich kleiner wirkte. Delorme hatte eine Platzwunde über dem Auge und kniete mit einem Bein im Wasser.

Bob Collingwood hielt Crouch von hinten fest, doch Crouch zuckte mit einer bühnenreifen Bewegung die Achseln, und Collingwood flog im hohen Bogen davon. Bevor Cardinal einschreiten konnte, spannte sich Crouch an, um mit voller Wucht Delorme einen Tritt zu verpassen. Delorme wich zur Seite aus, erwischte seine Ferse mit der linken Hand und erhob sich halb.

»Mr. Crouch, Sie hören sofort auf, oder ich mache Ernst.«

»Lutsch mir den Schwanz.« Er zuckte mit seinem Bein, doch Delorme hielt fest.

»Das war’s«, sagte sie. Sie legte sich seinen Fuß auf die Schulter und stand auf. Crouchs Schädel machte mit dem gefliesten Boden Bekanntschaft, und er war so schlagartig weg, als hätte jemand den Ausknopf an einer Fernbedienung gedrückt. Es gab tosenden Applaus.

»Das muss genäht werden«, sagte Cardinal, als Delorme aus dem Waschraum zurückkam. An ihrer linken Augenbraue klaffte eine tiefe Platzwunde von mindestens acht Millimetern.

»Ich werd’s überleben.« Sie setzte sich im Großraumbüro in die Kabine neben seiner. »Wie geht’s unserer Mrs. X?«

Cardinal hatte Delorme angerufen, nachdem er sich den Ballistik-Bericht abgeholt hatte.

»Mrs. X ist unverändert Mrs. X«, sagte er. »Die Neurochirurgin glaubt, sie kriegt ihr Gedächtnis wieder, aber niemand weiß, wann.«

»’ne Kugel im Kopf – also, ich geh doch recht in der Annahme, dass wir keine Anzeigen mit der Frage Kennen Sie diese Frau? in die Zeitung setzen?«

»Nein. Derjenige, der auf sie geschossen hat, soll nicht erfahren, dass wir sie gefunden haben, geschweige denn, dass sie noch lebt. Du hast noch nichts zu der Waffe ausgegraben?«

»Du meinst, ob sie bei früheren Verbrechen verwendet wurde?« Delorme schüttelte den Kopf. »Nichts Passendes«, und sie fügte in einem beiläufigen Ton hinzu: »Allerdings hab ich die Liste der als gestohlen gemeldeten Schusswaffen überprüft. Überraschung – wie sich rausstellt, hatten wir vor drei Wochen genau so eine.«

»Du machst Witze. Eine 32er Pistole?«

Delorme hielt einen Zettel hoch, auf den sie einen Namen und eine Anschrift geschrieben hatte.

»Vermisst. Eine Pistole. Kaliber zweiunddreißig. Hersteller: Colt. Modell: Police Positive.«

 

Rod Milcher wohnte in einem gepflegten Halbgeschosshaus im Stadtteil Pinedale, dereinst eine feine Adresse, inzwischen aber, dank der Ausbreitung trister Betonwohnblöcke, eine Gegend für frisch verheiratete Paare. Pinedale ist das Viertel, in dem man, im Maklerjargon, Erstkäufer-Eigenheime findet.

Anders als Jasper Crouch war Milcher der Polizei nicht einschlägig bekannt. Genauer gesagt, überhaupt nicht bekannt. Und sein Haus mit dem sauber getrimmten Rasen und der hübschen Zedernhecke wirkte nicht wie das eines Kriminellen – wie das eines Zahnarztes vielleicht. Das einzig Ungewöhnliche an diesem Domizil prangte in der Einfahrt: ein dralles, chromblitzendes Motorrad.

»Eine Harley, Baujahr fünfundsechzig«, sagte Cardinal, bevor sie auch nur ausgestiegen waren.

»Keine zehn Pferde würden mich auf so ’n Ding kriegen«, sagte Delorme. »Ein Freund von mir ist mit sechsundzwanzig auf so was tödlich verunglückt. Hat gegen einen Betonmisch-Lkw den Kürzeren gezogen.«

»Enger Freund?«

»Hmm. Hielt sich für einen harten Burschen, war er aber nicht.«

Cardinal klopfte am Seiteneingang. Es war kurz nach sechs; sie hatten so lange gewartet, bis Milcher voraussichtlich zu Hause wäre. Eine Frau, vielleicht Mitte dreißig und im Straßenkostüm, erschien an der Tür. Wie um den Chefetagen-Look mit etwas Häuslichem auszugleichen, hielt sie einen Kochtopf in der Hand. »Ich interessiere mich nicht für Religion«, sagte sie durch die Fliegengittertür. »Wie oft muss ich das denn noch sagen?«

Delorme hielt ihre Dienstmarke hoch. »Ist Rod Milcher wohl zu Hause? Wir hätten ein paar Fragen.«

Die Frau drehte den Kopf zur Seite, ohne sich sonst zu rühren, und brüllte: »Rod, die Polizei für dich! Pack schon mal deine Zahnbürste ein!«

Sie öffnete die Gittertür. »Machen Sie schon. Sonst kommen die Insekten rein.«

Die Seitentür führte durch einen Vorraum in die Küche. Cardinal und Delorme blieben neben einem für zwei gedeckten Resopaltisch stehen, während die Frau sich mit einem Schäler an einen Berg Kartoffeln begab.

»Darf man fragen, was es für Probleme gibt?«, rief ihnen von der Dielentür ein winziger Mann in kariertem Hemd und Khakihose zu, die er nicht annähernd auszufüllen vermochte.

»Mr. Milcher, Sie sind der registrierte Eigentümer einer Pistole Kaliber 32, ist das richtig?«, fragte Cardinal. »Eines Colt Police Positive?«

»Ja. Und? Haben Sie ihn gefunden?«

»Können Sie uns Näheres dazu sagen, wie Ihnen die Waffe gestohlen wurde?«

»Das hab ich doch schon angegeben. Steht alles im Bericht.«

»Wir würden es aber gerne noch mal von Ihnen hören«, sagte Delorme.

»Meine Frau und ich waren übers Wochenende in Toronto. Als wir zurückkamen, war die Pistole weg. Zusammen mit ein paar anderen Sachen – der Stereoanlage und der Kamera.«

»Und wieso haben Sie überhaupt einen Waffenschein?«

»Ich leite die Abwicklungsstelle für Zellers. Ich muss häufig nachts beträchtliche Summen einzahlen, wenn der gepanzerte Wagen schon weg ist.«

»Arbeiten Sie nach wie vor dort?«

»Ja.«

»Wie wär’s, wenn Sie uns zeigen würden, wo die Stereoanlage stand?«, schlug Cardinal vor.

Milcher blickte von Cardinal zu Delorme und wieder zu Cardinal.

»Hier drin.«

Sie folgten ihm in ein Wohnzimmer, das fast vollständig weiß eingerichtet war: weißer Teppich, weiße Gardinen, weißes Kunstledersofa und passender Lehnstuhl. Milcher deutete auf eine Vitrine mit einer Yamaha-Stereoanlage und den dazugehörigen Lautsprechern.

Delorme ging hinüber und sah sie sich an.

»Sie haben aber ziemlich schnell Ersatz gefunden.«

»Die ist alt, ich hab sie aus dem Keller geholt.«

»Sieht gar nicht alt aus.«

»Sieht eigentlich zu teuer aus, um im Keller zu stehen«, fügte Cardinal hinzu.

Milcher zuckte die Achseln. »Ich sehe nicht, was das alles mit meiner Pistole zu tun hat. Haben Sie sie nun gefunden oder nicht?«

»Wo hatten Sie die Waffe denn aufbewahrt?«, fragte Delorme.

»In dem Kästchen da.« Milcher wies auf eine kleine Eichenschatulle in der Vitrine. Der Verschluss war aufgebrochen.

»Wer wusste sonst noch, dass Sie sie dort aufbewahren?«

»Niemand. Na ja, meine Frau, aber sonst keiner. Hören Sie, Sie haben mir immer noch nicht gesagt, ob die Pistole wieder aufgetaucht ist oder nicht. Ich hab sie ordnungsgemäß gemeldet. Ich denke, ich hab ein Recht, es zu wissen.«

»Ihre Pistole ist noch nicht wieder aufgetaucht«, sagte Cardinal. »Aber wir glauben, eine Ihrer Kugeln schon.«

»Ich verstehe nicht ganz.«

»Haben Sie die Munition zusammen mit Ihrer Waffe aufbewahrt?«

»Ehm, ja. Die Kugeln wurden auch gestohlen. Waren allerdings schon ziemlich alt. Ich war nicht mal hundert Prozent sicher, ob sie noch funktionieren würden, um ehrlich zu sein.«

»Kennen Sie diese Frau?«, fragte Cardinal. Er reichte Milcher das Foto von Red, das er an dem Morgen im Krankenhaus gemacht hatte. Der Verband war nicht zu sehen, und auch sonst verriet nichts, wo sie sich befand. Sie sah aus, als hätte man sie beim Tagträumen überrascht.

»Die hab ich noch nie gesehen«, sagte Milcher. »Wieso?«

»Weil, wie’s aussieht, eine von Ihren Kugeln in ihrem Schädel steckte«, sagte Cardinal.

»Oh, mein Gott. Das ist ja schrecklich. Aber ich hab damit nichts zu tun. Verdammt. Ich hab das Ding als gestohlen gemeldet, sobald ich merkte, dass es nicht mehr da ist.«

»Und woher sollen wir wissen, dass Sie das nicht nur getan haben, weil Sie genau wussten, was Sie damit vorhatten?«

»Hören Sie, ich hab diese Frau noch nie gesehen. Ich habe mit der Sache nichts zu tun. Ich hab die gestohlene Waffe gemeldet und hab nicht den blassesten Schimmer, wer sie gestohlen hat, Punkt.«

»Hör mal, was hat der ganze Quatsch eigentlich zu bedeuten, Rodney?«

Alle drei drehten sie sich zu Mrs. Milcher um, die jetzt mit einem Backofenhandschuh im Türrahmen stand.

»Halt du dich da raus, Lorraine.«

Mrs. Milcher ließ einen theatralischen Seufzer vom Stapel. »Um die Wahrheit zu sagen, ist mein Mann nie erwachsen geworden. Wenn Sie das Zweirad in der Einfahrt gesehen haben, dürfte Ihnen klar sein, dass er von so was wie Easy Rider träumt. Er würde immer noch am liebsten mit den großen Jungs rumfahren.«

»Ich bin mit ihnen rumgefahren«, sagte Milcher. »Vor zehn Jahren war es vorbei, und ich hab bei nichts anderem mitgemacht, was sie so getrieben haben. Aber ich bin viel mit ihnen rumgefahren.«

»Sicher doch. Und ich hab mal bei den Spice Girls gesungen.«

»Von wem ist hier eigentlich die Rede?«, fragte Delorme. »Wer sind die so genannten großen Jungs?«

»Die Viking Riders«, sagte Mrs. Milcher. »Ich meine, hält die nicht jeder für Helden?«

»Ich halte sie nicht für Helden«, stellte Milcher klar. »Ein paar von denen sind alte Freunde, weiter nichts.«

»Werd endlich erwachsen, Rod. Einer von denen war vor drei Wochen hier, kurz bevor diese beschissene Waffe verschwand.« Sie wandte sich an Delorme, als könnte nur eine Frau verstehen, was es hieß, sich mit einem unfähigen männli-chen Exemplar rumzuschlagen. »Diesem Genie hier kommt es auf einmal in den Sinn, bei seinem Viking-Kumpel Eindruck zu machen, indem er diese kleine Pistole rausholt.«

»Hör endlich auf, Lorraine.«

»Soll ich Ihnen mal sagen, was ich denke?«, sagte Delorme zu Milcher. »Ich denke, Ihre Stereoanlage wurde nie gestohlen. Ich denke, das haben Sie nur gesagt, damit es so aussieht, als hätten Sie nicht die geringste Ahnung, wer Ihre Pistole entwendet hat. Denn wenn nur die Waffe gestohlen wurde, dann ließe das darauf schließen, dass der Dieb genau wusste, wonach er suchte und wo er es finden würde. Mit anderen Worten, dass der Dieb jemand ist, den Sie kennen.«

»Hören Sie, Sie haben keine Ahnung, was die Jungs mit mir machen, wenn sie glauben, ich hätte sie verpfiffen.«

»Jemand hat diese junge Frau in den Kopf geschossen, Mr. Milcher. Wir brauchen Namen.«