13
Als Cardinal an diesem Abend nach Hause kam, betrat er ein leeres Haus. Am Telefon leuchtete das Lämpchen des Anrufbeantworters, und als er den Knopf drückte, meldete sich die Stimme seiner Tochter Kelly. Sie war sechsundzwanzig, Malerin, mit Wohnsitz in New York. Sie hatte die Nachricht hinterlassen, sie wolle nur ein bisschen plaudern – mit Catherine, hieß das, nicht mit ihm –, doch höchstwahrscheinlich brauchte sie Geld.
Er wärmte sich eine Fleischpastete aus dem Kühlschrank auf, machte ein Creemore auf und setzte sich mit dem Algonquin Lode an den Küchentisch, ohne sich jedoch auf die Artikel konzentrieren zu können. Er las ein paar Zeilen und blätterte weiter zum nächsten Bericht, zum nächsten Foto.
Schon seltsam, dachte er, mit fünfzig hält man sich halbwegs für erwachsen. Unabhängig. Wenn er ehrlich war, wünschte er sich des Öfteren, Catherine würde mal irgendwohin verreisen. Ihm gefiel der Gedanke, alleine aufzuwachen, alleine zu frühstücken, allein nach Hause zu kommen. Kam vermutlich von den Filmen. Hatte man einen einsamen Helden auf der Leinwand, und wenn er nur seiner täglichen Routine nachging, dann wirkte das immer so wichtig, so interessant. Doch kaum war Catherine wirklich weg, fühlte sich Cardinal rastlos und unzufrieden, ja besorgt. Passte sie auf sich auf? Nahm sie ihre Medikamente? Wieso halte ich mich da nicht endlich raus?
Das kleine Haus am See mit seinem Holzofen und den winkligen Räumen war gemütlich und bequem. Seine Lage draußen in der Madonna Road sorgte außerdem dafür, dass es die meiste Zeit angenehm ruhig war. An diesem Abend allerdings irritierte ihn die Ruhe. Er vermisste die Geräuschkulisse, wenn Catherine sich mit ihren Pflanzen zu schaffen machte, wenn sie Bach auf der Stereoanlage spielte, mit ihm über Fotografie, über ihre Studenten oder sonst was plauderte. Und was Kelly anging, nun ja, Kelly hätte nicht angerufen, wenn sie gewusst hätte, dass ihre Mutter nicht zu Hause war.
Als er fertig gegessen hatte, rief Cardinal das Delta Chelsea Hotel in Toronto an. Sie stellten ihn zu Catherines Zimmer durch, doch es ging niemand ran. Er hatte versucht, Catherine zu einem Handy zu bekehren, doch sie wollte nichts davon wissen. »Ein Handy?«, hatte sie gefragt. »Nein, danke. Wenn ich allein bin, dann will ich allein sein und keine Anrufe entgegennehmen.« Er sprach ihr auf Band, dass er sie vermisste, und legte auf.
Vermutlich war sie mit ein paar Studenten unterwegs; sie hatte erwähnt, sie wolle das Ufer bei Nacht fotografieren. Cardinal hoffte, dass sie nicht mit ihrem Kurs einen trinken ging. Alkohol vertrug sich nicht gut mit ihren Medikamenten. Er machte sie ein bisschen manisch, und dann würde sie aufhören, ihr Lithium zu nehmen. Danach würden die schwachen Bande, die seine Frau auf dem Boden der Tatsachen festhielten, reißen, und irgendwann würde sie unsanft wieder auf der Erde landen und in einem Bett in der Psychiatrie. Er dachte lieber nicht daran, wie oft das schon vorgekommen war, doch er konnte sie schließlich nicht ständig gängeln und bemuttern. Glücklicherweise war Catherine in ihren gesunden Phasen vernünftig und wusste, was sie besser mied.
Cardinal starrte auf das Telefon. Er hätte gern Kelly angerufen, wusste aber, dass sie nicht mit ihm reden wollte. Das löste eine Diashow in seinen Gedanken aus, mit Bildern aus ihrer Zeit in Toronto, als Kelly noch ein kleines Mädchen war: Kelly bis zu den Knien in einem Flüsschen in einer der zahlreichen Schluchten von Toronto, in der kleinen Faust triumphierend einen zappelnden Frosch in die Höhe gereckt. Kelly auf der Aussichtsplattform des CN Tower, die kleinen Arme so ausgestreckt, als könnte sie das riesige blaue Becken des Lake Ontario in den Himmel heben. Kelly mit vierzehn, untröstlich über das flatterhafte Herz eines jungen Schufts mit athletischem Körperbau.
Während Kelly aufwuchs, war Catherine über weite Strecken in der Klinik gewesen, und so hatten sich Cardinal und seine Tochter sehr nahe gestanden. Ein kleines Mädchen weitgehend allein großzuziehen hatte einiges an Schwierigkeiten mit sich gebracht, doch Kellys Wohlergehen war zum zentralen Sinn seines Lebens geworden. Irgendwann hatte Catherine das Glück gehabt, zu Dr. Carl Jonas im Clarke Institute in Behandlung zu kommen. Er war ein langhaariger Mann mit rosigem Gesicht und angegrautem Bart und einem starken ungarischen Akzent, der schneller als irgendjemand sonst den Bogen raushatte und die perfekt ausgewogene Therapie und Medikation für Catherine fand.
Doch dann war eine Phase eingetreten, in der Catherine in die schlimmsten Depressionen versank, die Cardinal je gesehen hatte. Eine Melancholie hatte zu lange angedauert, und dann war sie im Bett geblieben, und Cardinal konnte nichts, aber auch gar nichts tun, um sie aufzuheitern. Bald war sie nicht einmal mehr in der Lage gewesen zu sprechen. Es war, als hätte man sie in einer Taucherkugel in die Tiefen hinabgelassen, und die Seiten barsten unter dem enormen Druck ihres Kummers. Dr. Jonas hielt sich damals zu einem einjährigen Lehrauftrag in Ungarn auf.
Catherine war von Klinik zu Klinik gewandert, ohne dass sich ihr Zustand besserte. Am Rande der Verzweiflung – und ständig Catherines Eltern im Genick, die von der Liebe zu ihrer Tochter geradezu besessen waren und dazu die Yankee-Überzeugung teilten, wonach etwas von vornherein nichts taugen konnte, wenn es nicht amerikanisch war – hatte Cardinal Catherine in die renommierte Tamarind Clinic in Chicago einweisen lassen. Die Rechnungen waren so Schwindel erregend gewesen, dass er sie zuerst für einen Witz gehalten hatte und dann für den Stoff, aus dem Albträume sind. Völlig unmöglich, sie von seinem Gehalt zu bestreiten; er und Catherine würden nie ein Haus besitzen, nie aus den Schulden rauskommen.
Zu dem Zeitpunkt war er schon eine Weile beim Drogendezernat der Kripo Toronto gewesen. Er hatte Dutzende Kokain- und Heroindealer hinter Schloss und Riegel gebracht. Atemberaubende Summen waren ihm fürs gezielte Wegschauen geboten worden; Cardinal hatte sie jedes Mal zurückgewiesen. Die kalte Schulter gezeigt und die Bösen eingebuchtet. Eines Abends dann – eines Abends, den er seither jeden Tag seines Lebens bereute – war sein Widerstand gebrochen.
Er und die Kollegen in seiner Einheit hatten das Hauptquartier eines mörderischen Schlägertypen namens Rick Bouchard hochgenommen. In dem darauf folgenden Chaos war Cardinal unter den Bodendielen eines Einbauschranks auf einen Koffer voller Bargeld gestoßen. Er hatte sich ein paar pralle Bündel in die Tasche gestopft und den Rest als Beweismaterial abgeliefert. Der Fall kam vor Gericht und Bouchard hinter Gitter.
Eine Zeit lang war es Cardinal gelungen, den Diebstahl vor sich zu rechtfertigen. Er hatte die Rechnungen für Catherines Behandlung bezahlt und den Rest in Kellys Ausbildung gesteckt. So kam sie schließlich an die beste Kunstakademie, die Amerika zu bieten hatte, und absolvierte ein Graduiertensemester an der Yale. Doch da sprengte Cardinals Gewissen, das ihn seit Jahren quälte, die Fassade der Normalität.
Er schrieb an Catherine und Kelly einen Bekennerbrief. Außerdem reichte er beim Polizeichef von Algonquin Bay seinen Rücktritt ein und spendete das restliche gestohlene Geld an ein Drogenrehabilitationsprogramm. Delorme hatte diesen Brief abgefangen und ihm ausgeredet, seinen Abschied von der Polizei zu nehmen. »Das bringt uns nur um einen guten Ermittler«, hatte sie gesagt. »Und es hilft niemandem.« Unglücklicherweise hatte Cardinals Tochter sein Vergehen auszubaden: Sie hatte Yale verlassen müssen, bevor sie ihren Abschluss machen konnte.
Das war fast zwei Jahre her. Kelly war von New Haven nach New York gezogen und hatte seither nicht mehr mit ihm gesprochen. Nun ja, das traf es nicht ganz; es hatte Gelegenheiten gegeben, bei denen sie es nicht völlig hatte vermeiden können. Sie war zur Beerdigung ihres Großvaters nach Algonquin Bay zurückgekehrt. Doch die Wärme war verschwunden. Es lag ein spröder Ton in ihrer Stimme, als wäre ihr der Verrat irgendwie auf die Stimmbänder geschlagen.
Cardinal schnappte sich das Telefon und wählte Kellys Nummer. Wenn eine ihrer Zimmernachbarinnen sich meldete, würde sie nicht ans Telefon kommen. Es würde eine Gesprächspause eintreten, und er würde etwas Lahmes zu hören bekommen wie: »Tut mir leid. Ich dachte, sie wäre da. Sie muss weggegangen sein.«
Doch Kelly meldete sich.
»Hi, Kelly, Dad am Apparat.«
Das folgende Schweigen traf Cardinal wie ein gähnend tiefer Fahrstuhlschacht zu seinen Füßen.
»Oh, hi. Ich hab gerade angerufen, weil ich Mom was fragen wollte.«
Diese Stimme. Gib mir meine Tochter zurück!
»Mom ist im Moment nicht da. Sie ist mit ihrem Kurs nach Toronto gefahren.«
»Übermorgen.«
»Okay, dann ruf ich in ein paar Tagen noch mal an.«
»Bleib einen Moment dran, Kelly. Wie läuft denn alles so bei dir?«
»Gut.«
»An der Kunstfront Glück gehabt?« Cardinal bereute die Frage, kaum dass sie ihm rausgerutscht war.
»Das Whitney steht nicht gerade Schlange bei mir, wenn du das meinst.«
Cardinal hatte keinen Schimmer, was das Whitney war. »Ich meinte nur, kommst du mit deiner Arbeit gut klar, und macht sie dir Spaß?«
»Alles bestens.«
»Und hast du wenigstens ein paar Kontakte, Leute, die dich fördern können?«
»Ich muss los, Dad. Wir wollen ins Kino.«
»Ach so. Was seht ihr denn?«
»Keine Ahnung, irgend so ’n Streifen mit Gwyneth Paltrow.«
»Und bist du bei Kasse? Brauchst du Geld?«
»Ich hab einen Job, Dad. Ich kann selber für mich sorgen.«
»Ich weiß, aber New York ist ein teures Pflaster. Falls du Hilfe brauchst, kannst du jederzeit …«
»Ich muss dann mal, Dad.«
»Okay, Kelly, okay.«
Sie legte auf.
Cardinal stellte das Telefon auf die Basis und starrte auf den Ofen.
»Toller Schachzug«, sagte er laut. »Diesmal hast du sie wirklich rumgekriegt.«
Später im Bett versuchte Cardinal zu lesen – ein Buch mit wahren Kriminalgeschichten, das Delorme ihm empfohlen hatte –, aber die Worte verschwammen ständig vor seinen Augen und wurden durch Gedanken an Kelly von der aufgeschlagenen Seite verdrängt. Er hasste den Gedanken, dass sie auf einem so unbarmherzigen Terrain wie New York die Miete zusammenkratzen musste. Andererseits konnte er nachvollziehen, wieso sie ihn auf keinen Fall um Geld bitten wollte, und dieses Verstehen saß ihm wie ein scharfer Gegenstand irgendwo zwischen den Rippen.
Nach und nach wanderten seine Gedanken zu Mrs. X. Der Rotschopf war etwa in Kellys Alter, wenn auch, wie es schien, weniger gebildet. Sogar irgendwie unschuldig und wie von einer anderen Welt. Natürlich konnte das auf ihre Hirnverletzung zurückzuführen sein. Wer konnte sie töten wollen? Ein eifersüchtiger Liebhaber? Ein paranoider, besitzergreifender Versager, der es nicht ertragen konnte, dass diese grünen Augen einen anderen Mann ansahen? Kaum vorstellbar, wie sie den Viking Riders hätte in die Quere kommen sollen.
Vor dem Einschlafen verfolgten zwei Bilder Cardinal: Mrs. X mit ihrer blassen Haut und dem leuchtend roten Haar, das sich auf dem ganzen Kopfkissen ausbreitete. Und die Röntgenaufnahme von ihrem Kopf, der Kugel in ihrem Gehirn.