Maffeo blickte wehmütig hinaus. Er sah Beatrice und Tolui, die langsam miteinander den Garten verließen. Li Mu Bai hatte die Schiebetüren des Meditationsraums so weit geöffnet, dass das Zimmer mit dem Garten fast eine Einheit bildete. Trotzdem war Maffeo hier, zwischen den schlanken Säulen, die dem Raum Stabilität verliehen, vor den Blicken der beiden jungen Menschen verborgen. Er konnte sie beobachten, ohne dass sie ihn sahen. Die kalte, schon fast winterliche Luft drang herein und ließ ihn frösteln. Schon bald, in wenigen Wochen, vielleicht sogar nur Tagen würde Beatrice einem Kind das Leben schenken. Es war nur gerecht, dass ein anderes Leben im Gegenzug diese Welt verlassen musste. Das war der Lauf der Dinge, das Gesetz der Natur, der Kreislauf des Lebens. Maffeo umfasste die zierliche Säule neben ihm und lehnte seine Stirn dagegen. Er spürte das kühle, glatte Holz wie eine gut gemeinte Berührung, die ihm jedoch keinen Trost spenden konnte. Der Kreislauf des Lebens… Alles schön und gut, aber warum traf es gerade ihn? Und wie viel Zeit blieb ihm noch?
»Sieh sie dir an«, sagte Maffeo leise zu Li Mu Bai, ohne ihn anzuschauen. Der Mönch stand regungslos neben ihm wie ein Wächter. Er hatte so lange über ihn und sein Wohlergehen gewacht. Seine goldenen Nadeln und seine Kräuter hatten es sogar vermocht, Maffeo die Geschmeidigkeit seiner Gelenke wiederzugeben. Und jetzt, jetzt konnte er ihn doch nicht vor dem Unvermeidlichen schützen. »Sieh dir an, wie jung sie sind. Ihre Aufgaben, ihr ganzes Leben liegt noch vor ihnen.«
Li Mu Bai seufzte. »Bereust du, dass du hergekommen bist?«
Maffeo dachte eine Weile nach, dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Du hast nur Worte für das gefunden, was ich bereits gefühlt habe. Zu wissen, dass ich bald…« Er brach ab und schloss die Augen. Wieso fiel es ihm so schwer, es beim Namen zu nennen? Es änderte doch nichts an den Tatsachen. »Es gibt mir immerhin die Gelegenheit, einige wichtige Dinge noch zu regeln, die ich bislang aufgeschoben habe. Aber das Leben ist schön, trotz aller Schmerzen, die es für einen bereithält. Das war mir noch nie so bewusst wie heute.«
Li Mu Bai starrte immer noch geradeaus in den Garten. »Der Tod, mein Freund, ist nur ein Zustand, eine andere Form des Lebens, mit dem wieder etwas Neues beginnt.«
Maffeo sah den Mönch überrascht an. Die Worte klangen seltsam mechanisch, wie auswendig gelernt, und die gelassene Heiterkeit, die Li Mu Bai sonst zu durchdringen schien, war verschwunden. Es hatte fast den Anschein, als ob die Botschaft von seinem nahe bevorstehenden Tod den Mönch ebenso ergriff wie ihn selbst. Doch so seltsam es auch klingen mochte, gerade das spendete Maffeo Trost und gab ihm Kraft.
»Li Mu Bai, mein Freund…«
Der Mönch biss die Zähne zusammen. Die Muskeln an seinen Schläfen und seinem kahl geschorenen Kopf arbeiteten, als ob er einen Kampf ausfocht. »Nein!«, rief er schließlich aus. Sichtlich erregt wirbelte er zu Maffeo herum und packte ihn an beiden Armen. Seine dunklen Augen funkelten, und die Flügel seiner breiten Nase blähten sich. So hatte Maffeo den sanften, stets in sich hineinlächelnden Li Mu Bai noch nie gesehen. »Das ist nicht richtig. Wir müssen etwas unternehmen. Schnell.«
Maffeo schüttelte den Kopf. »Du hast doch selbst gesagt, dass…«
»Ich weiß, dein Chi, deine Lebensenergie verlöscht. Und die Kräuter, die Nadeln, die Massagen und die Moxibustion haben es nicht zum Stillstand bringen können. Aber verstehe doch…« Li Mu Bai umklammerte Maffeos Arme so stark, dass es wehtat. Plötzlich konnte er sich sehr wohl vorstellen, dass es buddhistische Mönche gab, die sich auf den Schwertkampf verstanden – und sogar bereit waren zu töten. »Dein Puls, deine Zunge sagen mir, dass dein Chi seit mehreren Tagen schwindet. Und das immer schneller. Doch deine Augen sagen mir, dass es dafür eigentlich noch viel zu früh ist. Deine Lebensenergie sollte noch für viele Jahre reichen, und ich finde keine Ursache, warum das geschieht.« Er schüttelte den Kopf. »Wie soll ich dir das erklären? Es ist wie eine Kerze. Sie brennt und ist eigentlich noch ziemlich groß, doch dann öffnet jemand die Tür, und der Wind bläst sie aus.« Er nickte zur Bekräftigung seiner Worte. »Ja, genauso ist es. Jemand hat den Wind hereingelassen, Maffeo.«
Manchmal habe ich immer noch Schwierigkeiten damit, Li Mu Bai zu folgen und seine Metaphern zu verstehen, dachte Maffeo und überlegte, was der Mönch mit seinen Worten wohl meinen könnte. Der Wind bläst eine Kerze aus… Die Kerze ist seine Lebensenergie, sein Lebenslicht… Jemand lässt den Wind herein… Jemand bläst sein Lebenslicht aus… Die Erkenntnis traf ihn wie ein Hammerschlag, und für einen Augenblick wurde Maffeo schwarz vor den Augen. Er schwankte. Li Mu Bai griff ihm unter die Arme und stützte ihn.
»Du meinst doch nicht etwa…«, stieß er mühsam hervor.
Er hatte plötzlich das Gefühl, als würde eine eisige Hand seinen Hals umklammern und langsam zudrücken.
Li Mu Bai nickte. »Doch, genau das meine ich.«
»Was könnte es denn sein?« Maffeo brachte nur noch ein Flüstern hervor. Er bekam kaum noch Luft. »Vielleicht… Gift?«
»Ich weiß es nicht.« Li Mu Bai schüttelte den Kopf und presste die Lippen aufeinander. Noch nie zuvor hatte Maffeo den Mönch so ernst gesehen. »Geh zu Beatrice, der Frau aus dem Norden des Abendlandes. Sie kennt Dinge, die wir nicht wissen. Das habe ich in den vergangenen Tagen im Haus der Heilung oft genug gesehen. Frage sie um Rat, vielleicht kann ihre Heilkunst dir helfen, wo meine versagt.«
»Gut. Gleich morgen früh werde ich…«
Doch Li Mu Bai schüttelte erneut den Kopf. Sein Blick gefiel Maffeo überhaupt nicht. Er wirkte so erschreckend ernst. Todernst. »Noch heute. Sprich noch heute mit ihr, Maffeo. Ich sage es dir nur ungern, mein Freund, aber dir bleibt nicht mehr genug Zeit, um bis morgen zu warten.«
An diesem Abend kehrte Beatrice erst spät in ihr Gemach zurück. Sie war müde und erschöpft, noch mehr als an den anderen Tagen, aber sie war auch zufrieden. Jiang Wu Sun war es zusehends besser gegangen. Bereits nach zwei Stunden hatte sie probeweise das selbst gebastelte Ventil aus seinem Brustkorb entfernt und die kleine Wunde wie ein Leck in einem Eimer mit Leder zugestopft. Ihre Befürchtungen, dass der Spannungspneu zurückkehren würde, bewahrheiteten sich zum Glück nicht. Im Gegenteil. Offenbar hatte sich der Riss in Jiang Wu Suns Lunge von selbst wieder geschlossen. Nach drei weiteren Stunden hatte sie es dann gewagt, die Lederlappen zu entfernen und die Wunde zuzunähen. Und als sie am späten Abend zum letzten Mal nach Jiang Wu Sun gesehen und seinen Brustkorb abgehört hatte, hatten die Atemgeräusche auf der linken Seite fast normal geklungen, als hätte sich der verletzte Lungenflügel von selbst wieder entfaltet. Wie das ohne Drainage und Sog mit Unterdruck überhaupt möglich war, konnte sie sich zwar nicht erklären, aber was sollte es. Sie war lange genug Ärztin, um zu wissen, dass es immer wieder Überraschungen gab. Meistens waren es unerfreuliche, aber es gab auch Ausnahmen. Manchmal hatte man eben Glück.
Beatrice trat in ihr Zimmer. Es war stockdunkel. Vermutlich hatte ihre kleine Dienerin vergessen, die Lampen anzuzünden. Wenn Ming sich noch um ihre Belange gekümmert hätte, könnte sie davon ausgehen, dass die alte Chinesin sie bereits gelöscht hatte, um Öl zu sparen oder Beatrice durch die Blume verstehen zu geben, dass sich eine anständige Chinesin um diese Zeit bereits in ihrem Bett befände.
Beatrice vermisste die alte Dienerin nicht. Sie wünschte Ming angenehme Träume, Träume von chinesischen Damen aus edlen Familien und von vornehmer Erziehung, die allein ihrer Mühen würdig gewesen wären. Und diese selbstverständlich auch zu schätzen gewusst hätten.
Beatrice lächelte und begann sich auszukleiden, als sie plötzlich ein Schnaufen hörte. Steif vor Schreck blieb sie stehen und starrte in die Dunkelheit. Da war doch jemand in ihrem Zimmer? Aber wer… Sie zählte bis drei, doch nichts geschah, kein Schatten näherte sich, kein Geräusch war zu hören.
»Wer ist da?«, fragte sie und tastete gleichzeitig mit zitternder Hand nach der Vase, die auf dem kleinen Tisch neben ihrem Bett stand. Sie war nicht besonders groß und auch nicht sehr schwer, aber mit voller Wucht auf den Schädel eines Menschen geschmettert, sollte sie genügend Schaden anrichten, um selbst einen kräftigen Mann abzuwehren – wenigstens für einige wenige Augenblicke.
»Wer ist da?«, wiederholte sie mit mehr Nachdruck. Die Vase in der Hand verlieh ihr Mut. »Los, rede mit mir!«
»Ich bin’s, Beatrice.«
Die Stimme kam aus der Nähe des Fensters.
»Maffeo?«
Beatrice starrte angestrengt in die Dunkelheit, und schließlich sah sie ihn. Er hockte zusammengesunken auf einem der beiden Stühle.
»Maffeo, was machst du hier? Und warum um alles in der Welt sitzt du im Dunkeln? Soll ich…«
Sie streckte ihre Hand nach einer Zunderbox aus, um eine der Lampen anzuzünden, doch Maffeo hielt sie davon ab.
»Nein, bitte tu das nicht«, sagte er. »Das Licht blendet mich.«
Etwas in seiner Stimme ließ sie erstarren. Er klang so kläglich, so schwach. Als ob er im Sterben liegt, dachte sie, und die Angst kroch plötzlich ihre Wirbelsäule hoch. Entschlossen ging sie zum Fenster und öffnete die Vorhänge. Draußen schien der Mond an einem sternenklaren Himmel. Sein fahles Licht fiel auf Maffeo, der geblendet die Hand vor die Augen hob. Trotzdem konnte sie gut sehen, dass sein Gesicht hochrot war, als hätte er hohes Fieber. Mit zwei Schritten war Beatrice bei ihm und legte eine Hand auf seine Stirn. Sie war kochend heiß.
»Was ist los?«, fragte sie und griff nach seinem Handgelenk, um den Puls zu fühlen. Er war so schnell, dass sie kaum mitzählen konnte.
»Ich werde sterben, Beatrice«, sagte Maffeo. Seine Stimme war so leise, dass sie ihn nur mit Mühe verstehen konnte. »Schon bald werde ich…«
»Unsinn«, entgegnete sie heftig und erschrak selbst darüber, wie schroff sie klang. »Du hast hohes Fieber. Aber davon allein stirbt man nicht.«
Wenigstens nicht, wenn ich es verhindern kann, fügte sie in Gedanken hinzu.
Doch Maffeo schüttelte den Kopf. »Ich weiß deinen Optimismus zu schätzen, Beatrice, aber es ist zu spät.« Er keuchte, als ob er einen Dauerlauf machen würde. »Li Mu Bai hat es mir heute gesagt. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, und ich muss noch etwas regeln. Ich muss dir etwas erzählen. Deshalb…«
»Vermutlich hast du Li Mu Bai nur falsch verstanden«, unterbrach sie ihn. »Was hat er denn gesagt?«
»Er sagte, mein Lebenslicht verlöscht – oder etwas in der Art. Genau begriffen habe ich es nicht. Aber die Botschaft war eindeutig.« Maffeo fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Wasser. Bitte. Ich habe entsetzlichen Durst.«
»Dein Lebenslicht verlöscht also. Wenn er das herausgefunden hat, warum tut Li Mu Bai dann nichts dagegen?«, fragte Beatrice, eilte zum Wasserkrug, füllte eine Trinkschale und brachte sie Maffeo. Ihre Angst um den Freund schlug in Wut um, Wut, die sich gegen Li Mu Bai und alle chinesischen Ärzte des ganzen mongolischen Reiches richtete. »Er hat doch Akupunkturnadeln, er kennt Kräuter. Warum um alles in der Welt behandelt er dich nicht? Und wenn er tatsächlich nicht mehr weiterweiß, was spricht dagegen, einen seiner Kollegen zu Rate zu ziehen? Da wo ich herkomme, ist das so üblich.«
»Glaube mir, Li Mu Bai kann nichts mehr für mich tun. Und wenn er es nicht kann, dann kann mir niemand in Taitu helfen.« Maffeo griff nach dem Becher und trank so gierig, dass die Hälfte des Wassers überschwappte und ihm über das Gesicht lief. »Seit vielen Tagen behandelt er mich, aber ohne Erfolg. Der Verfall schreitet immer schneller voran, und jetzt ist es nicht mehr aufzuhalten. Vor ein paar Stunden hat er mir gesagt, dass ich sterben werde. Es ist nicht seine Schuld. Er sagte, dass möglicherweise Gift mit im Spiel ist.«
»Gift?« Beatrice schrie das Wort beinahe heraus. Es war so unvorstellbar, so widerlich, so grausam, dass sie ihren Ohren nicht traute. Nicht trauen wollte. »Er glaubt allen Ernstes, du wirst vergiftet?«
»Ja«, antwortete Maffeo und hielt ihr den Becher hin. »Bitte. Ich habe wirklich furchtbaren Durst.«
»Gift.« Beatrice konnte es immer noch nicht fassen. Maffeo? Warum er? Wer würde diesen sanften, gutmütigen und hilfsbereiten Mann aus dem Weg räumen wollen? »Aber wer sollte denn so etwas tun? Wer sollte ein Interesse an deinem Tod haben?«
»Es gibt viele, für die mein Tod eine höhere Stellung am Hof des Khans bedeuten könnte.« Maffeo zuckte mit den Schultern. »Aber das ist jetzt ohne Belang. Bitte, gib mir Wasser. Meine Kehle verdorrt.«
Beatrice wusste nicht, was sie noch sagen sollte. Das alles klang in ihren Ohren seltsam, verrückt. Wer würde schon, nur um auf der Karriereleiter eine Sprosse höher zu klettern, einen Mord begehen? Natürlich konnte man einen unliebsamen Rivalen aus dem Weg räumen, indem man ihn vor dem Kaiser anschwärzte oder seine Leistungen herunterspielte – Mobbing war eine weit verbreitete Unart. Aber Mord? Das war doch absurd! Dann fiel ihr ein, dass sie sich weder in Europa noch im 21. Jahrhundert befand. Sie war in China, am Hof eines mongolischen Kaisers im Jahr des Herrn 1280. Für die Menschen hier waren Geburt und Tod noch so selbstverständlich, dass weder das eine noch das andere besondere Beachtung fand. Folglich war alles denkbar. Sie füllte die Trinkschale erneut und stellte den Krug diesmal neben Maffeo, damit er sich selbst bedienen konnte.
»Aber wie kommt Li Mu Bai darauf? Woher will er wissen, dass ein Gift die Ursache ist und nicht eine rasch fortschreitende Erkrankung?«
Maffeo schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Es hat irgendetwas mit meinem Puls und meinen Augen zu tun. Meine Lebensenergie reicht eigentlich für länger, aber jemand hat die Tür geöffnet, und der Wind bläst jetzt die Kerze aus. Oder so. Vor allem aber findet er wohl keine andere Ursache für das Erlöschen meiner Lebensenergie.«
Beatrice runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. Li Mu Bai sagte so etwas bestimmt nicht aus einer puren Laune heraus. Wenn er eine Vergiftung vermutete, dann steckte auch etwas dahinter. Aber was? Sie kniete sich vor Maffeo auf den Boden und berührte wieder seine trockene, heiße Stirn.
»Sieh mich an, Maffeo!«, befahl sie und drehte seinen Kopf so, dass sie ihm gerade in die Augen schauen konnte. Seine Pupillen waren so groß, dass sie beinahe die ganze Iris ausfüllten. Sie hielt ihre Hand hoch. »Wie viele Finger sind das?«
»Ich weiß es nicht. Ich sehe alles nur verschwommen«, sagte er kläglich. »Mein Mund ist so trocken.«
Beatrice konnte deutlich hören, wie die Zunge an Maffeos Gaumen klebte. Mydriasis und trockene Haut – woran erinnerte sie das?
»Oh, sieh nur, Beatrice!«, rief Maffeo aus. Er richtete sich ein wenig auf und deutete zum Fenster. »Sieh nur, die Sterne beginnen zu tanzen. Wie schön! Sie tanzen um einen Drachen herum. Er will uns den Frühling bringen. Siehst du auch die herrlichen Blumen? Wie sie duften!«
Halluzinationen. Wahrscheinlich hatte Li Mu Bai mit seiner Vermutung doch Recht. Maffeo hatte eine Vergiftung.
»Maffeo, hast du etwas Ungewöhnliches gegessen? Hat dich ein Tier gebissen oder gestochen, oder hatte eine Speise oder ein Getränk einen unangenehmen Geschmack? Maffeo?«
Doch er hörte sie nicht mehr. Er saß kerzengerade auf seinem Stuhl und unterhielt sich, unterstrichen von lebhaften Gesten, mit einer unsichtbaren Gestalt auf Italienisch.
Beatrice wanderte im Raum auf und ab und dachte angestrengt nach. Heiße, trockene Haut, Fieber, Tachykardie, Mydriasis, Akkomodationsstörungen, Halluzinationen. Eines nach dem anderen zählte sie noch mal alle Symptome auf, die sie bei Maffeo gefunden hatte.
Aber welche Substanz war die Ursache? Zum ersten Mal verwünschte sie ihr mangelndes pharmakologisches Wissen. Dieses Fach hatte sie nie besonders interessiert, weder im Studium noch später im Beruf. Die wenigen für Chirurgen relevanten Medikamente – wie Schmerzmittel, Betäubungsmittel und Antibiotika – waren ihr schnell geläufig, und für alle anderen gab es schließlich die Internisten. Und was die Toxikologie betraf, so kannte sie zwar die Wirkungen von Opiaten, Benzodiazepinen und allen gängigen synthetischen Drogen, eine zwangsläufige Begleiterscheinung, wenn man auf der Notaufnahme eines Krankenhauses inmitten der Hamburger Drogenszene arbeitet. Aber Maffeos Symptome passten zu keiner einzigen davon.
Denk nach, Bea, denk nach, ermahnte sie sich und rieb sich die Schläfe, als könnte das ihrem Gehirn auf die Sprünge helfen.
Sie befand sich im Mittelalter. Also konnte sie getrost alle synthetischen Substanzen vergessen. Was auch immer Maffeo vergiftet hatte, es musste aus einer Pflanze oder von einem Tier stammen. Doch half ihr das weiter? Nein. Sie hatte die Anzahl aller möglichen Gifte lediglich von schätzungsweise fünf Millionen auf etwa drei Millionen eingegrenzt. Ganz zu schweigen davon, dass sie sich nicht in Europa aufhielt. Was wusste sie schon über die chinesische Tier- und Pflanzenwelt und über die Gifte, die sich darin verbargen? Sie wollte bereits resigniert aufgeben, als ihr ein Gedanke kam. Würde es sich um ein in China bekanntes Gift handeln, hätte dann nicht Li Mu Bai die Symptome erkennen müssen? Konnte nicht jemand ein für China exotisches Gift gewählt haben, um auf Nummer sicher zu gehen, dass die hiesigen Ärzte nicht in der Lage waren, die Vergiftung zu behandeln? Karawanen transportierten alles aus dem arabischen Raum und aus Europa hierher, und es gab wohl nichts, womit die Kaufleute nicht zu handeln bereit waren. Warum also nicht auch mit giftigen Kräutern? Aber welches Gift hatte man Maffeo verabreicht?
Jetzt brauche ich einen zündenden Gedanken, eine rettende Idee – oder ein Wunder, dachte Beatrice und griff in ihre Jackentasche, so wie sie es immer tat, wenn sie nachdachte und ihre Finger etwas zum Spielen brauchten. Doch statt Kugelschreibern, Heftpflasterrollen und Braunülen – dem üblichen Inhalt ihrer Kitteltaschen – spürte sie etwas Hartes, Glattes von der Größe einer Walnuss. Der Stein der Fatima! Heute früh war die Schnur des Lederbeutels gerissen, sodass sie ihn nicht wie sonst um den Hals trug, sondern in die Tasche gesteckt hatte. Wie hatte sie ihn nur vergessen können?
Sie schloss ihre Hand um den kühlen Stein. Es war ein tröstliches, beruhigendes Gefühl. Und dann kam ihr ein verrückter Gedanke: Vielleicht konnte sie den Saphir um Hilfe bitten. Sie schämte sich fast für diesen kindischen Aberglauben, doch was hatte sie zu verlieren? Das Schlimmste, was passieren konnte, war, dass gar nichts passierte. Also wandte sie sich von Maffeo ab und hob die Faust zum Mund.
»Bitte, Stein der Fatima!«, flüsterte sie. »Bitte hilf mir! Bitte, Maffeo darf nicht sterben.«
»…giorno, bella donna!«, sagte Maffeo in diesem Augenblick und verneigte sich galant in seinem Selbstgespräch vor einer Gestalt, die nur für ihn sichtbar war.
Für einen Moment blieb Beatrice wie erstarrt stehen und sah Maffeo an, als hätte er sich in einen der heiligen drei Könige verwandelt.
Natürlich! Belladonna, die Tollkirsche. Das musste es sein. Kaum zu glauben, dass Maffeo selbst ihr den Schlüssel zu diesem Rätsel geliefert hatte, gerade in dem Moment, in dem sie den Stein um Hilfe bat. War das Zufall? Oder war es ein weiteres Rätsel, das der Stein in sich barg?
Beatrice wanderte aufgeregt im Zimmer auf und ab, während sie ihr Gedächtnis nach allem durchforschte, was sie über die Tollkirsche, ihr Gift und potenzielle Gegenmittel wusste. Im Mittelalter wurden Tollkirschen in Europa oft von sogenannten Hexen und Alchimisten angewandt, um Halluzinationen zu erzeugen. Das hierfür verantwortliche Gift, das Atropin, verursachte neben diesen Wahnvorstellungen auch eine starke Pupillenerweiterung, trockene Haut und Schleimhäute sowie eine unter Umständen bedrohliche Tachykardie und hohes Fieber. Bei einem, wie in Maffeos Fall, vorgeschädigten Herzen eine vermutlich tödliche Komplikation. Aber wie behandelte man diese Vergiftung?
Schlagworte fielen ihr ein: Hämodialyse, Magenspülung, intravenöse Injektionen von Gegenmitteln – alles Maßnahmen, die sie hier, unter diesen Umständen, getrost vergessen konnte. Nein, es musste etwas Einfaches sein, etwas, das ohne Technik und jegliche Errungenschaften des medizinischen Fortschritts auskam, etwas, das auch Sokrates oder den Schamanen der Steinzeit zur Verfügung gestanden hätte.
Beatrice schloss die Augen und versuchte, aus ihrem Gedächtnis hervorzukramen, was sie einst, vor unendlich langer Zeit, für ihr Staatsexamen auswendig gelernt hatte. Und – o Wunder – tatsächlich tauchte aus dem Nebel des Vergessens etwas auf. Es war ein einzelnes Wort, und es stand in großen leuchtenden Buchstaben vor ihr: »Aktivkohle«.
Beatrice hatte sich noch nie in ihrem Leben Gedanken darüber gemacht, was »Aktivkohle« oder »medizinische Kohle« eigentlich war. Aber wenn sie an die kleinen pechschwarzen Kohlecompretten dachte, die sie als Kind immer hatte einnehmen müssen, wenn sie unter Durchfall gelitten hatte, dann konnte sie sich nicht vorstellen, dass es sich bei Aktivkohle um etwas anderes handelte als ganz normale Kohle. Vermutlich war Aktivkohle nur von der pharmazeutischen Industrie besonders gereinigt und aufbereitet. Aber das war – so hoffte sie wenigstens – nicht so wichtig. Sie musste jetzt also irgendwoher Kohle besorgen, sie fein reiben und in Wasser einrühren, damit Maffeo den Brei trinken konnte. Anschließend würde sie sich darum kümmern, dass seine Körpertemperatur sank, und das Zimmer würde so lange abgedunkelt bleiben, bis die Wirkung des Gifts nachließ, damit er nicht geblendet wurde.
»Maffeo, ich weiß jetzt, wie ich dich behandeln kann«, sagte sie und strich ihm über sein schütteres Haar, ohne dass er darauf reagierte. Er war so sehr in das Gespräch mit der Unsichtbaren vertieft, dass die reale Welt für ihn nicht mehr existierte. Sein Kopf fühlte sich heiß und seltsam trocken an. Eine typische Wirkung des Atropins, das die Sekretion aller Schweiß- und Speicheldrüsen unterbindet. »Ich bin gleich wieder da. Ich muss nur das Mittel besorgen. Trink noch etwas.«
Beatrice goss ihm noch einen Becher voll Wasser ein und lief dann aus dem Zimmer.
Es war gar nicht so leicht, mitten in der Nacht einen Diener aufzutreiben, trotz der riesigen Ausmaße des Palastes. Erst nach langem Suchen stieß Beatrice auf jemanden. Es war ein dürrer, schmutzstarrender, etwa siebzehnjähriger Junge, der einen schweren, ebenfalls schmutzigen Sack mühsam hinter sich herzog. Der Junge hatte eine stark verkrümmte Wirbelsäule und humpelte, weil ein Bein kürzer und schwächer war als das andere. Zuerst wollte Beatrice ihn gar nicht ansprechen, doch dann sah sie, wie er zu einem der Kohlenbecken humpelte, seinen Sack öffnete und etwas Schwarzes in das Metallbecken warf, sodass die Glut hochspritzte wie bei einem Miniaturfeuerwerk. Es war Kohle.
»He, Junge! Warte mal!«, rief sie ihm zu.
Überrascht drehte er sich um. Er schielte so stark, dass Beatrice nicht mit Sicherheit sagen konnte, mit welchem Auge er sie ansah. Vermutlich war er auf einem von beiden sogar blind; ein Kunstgriff der Natur, um das Gehirn vor der Belastung durch ständige Doppelbilder zu schützen.
»Was machst du da?«
»Ich hüte die Kohlenfeuer, Herrin«, antwortete er mit einer schönen, klaren Stimme und verneigte sich so ungeschickt, als wäre ihm diese Bewegung fremd.
Beatrice spürte, wie sie rot anlief.
»Du kümmerst dich also um die Kohlenfeuer?«, fragte sie, um von ihrer eigenen Verlegenheit abzulenken. Sie schämte sich, weil sie automatisch erwartete hatte, dass der Junge neben seiner schweren körperlichen Behinderung auch geistig zurückgeblieben war. Manche Vorurteile waren eben nur schwer zu besiegen, selbst dann, wenn man es eigentlich besser wissen müsste. »Ich habe dich noch nie hier gesehen.«
»Das mag daran liegen, Herrin, dass ich nur in der Nacht meinen Rundgang mache, während alle anderen schlafen. Tagsüber kümmern sich andere Diener um die Feuer.«
»Ist das nicht sehr anstrengend? Ich meine, immer nur nachts zu arbeiten?«
Der Junge zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Ich kenne es nicht anders. Ich habe es besser getroffen als die meisten Diener am Hof des großen Khans – kein Aufseher, der mich herumscheucht, die anderen Diener lassen mich in Ruhe, weil sie nichts mit mir zu tun haben wollen, und wenn ich meinen Rundgang beendet habe, bleibt mir meistens noch genug Zeit, um den Himmel zu betrachten. Ich liebe die Ruhe und Stille der Nacht, die Sterne, den Mond, der jeden Tag ein anderes Gesicht hat, und das Zirpen der Grillen in den lauen Sommernächten. Außerdem kann auf diese Weise keiner der hohen Herrschaften Anstoß an meiner hässlichen Gestalt nehmen.« Beatrice erschrak über die Worte des jungen Dieners. Er sprach so ohne Bitterkeit, als wäre er sogar dankbar für dieses unerfreuliche Schicksal, das ihn getroffen hatte. »Aber ich sollte nicht so geschwätzig sein, das schickt sich nicht. Habt Ihr einen Wunsch, Herrin? Friert Euch? Ist das Kohlenfeuer in Eurem Gemach erloschen? Sollte dies der Fall sein, muss ich Euch bitten, zu warten, bis ich einen der anderen Diener gerufen habe. Mir ist es nämlich nicht gestattet, die Gemächer der Herrschaften zu betreten.«
»Nein, danke, ich friere nicht, und das Feuer in meinem Zimmer brennt gut. Dennoch habe ich eine Bitte an dich. Ich brauche ein Stück Kohle. Es muss nicht sehr groß sein.«
»Gern gebe ich Euch, was Ihr verlangt«, sagte der Junge. Und ohne weitere Fragen zu stellen, öffnete er seinen Sack und holte ein kleines Stück Kohle heraus.
Beatrice streckte die Hand danach aus, doch der Junge schüttelte den Kopf.
»Nein, Herrin, Ihr werdet nur Eure schönen Kleider beschmutzen. Es wäre mir eine Freude, die Kohle für Euch zu tragen. Meine Hände und Kleider sind bereits schwarz.«
»Gut, wie du möchtest«, erwiderte Beatrice und lächelte dem Jungen zu. Nie zuvor war sie einem höflicheren, zuvorkommenderen Menschen begegnet. »Wie ist denn dein Name?«
»Chen«, antwortete er, und sogar unter dem Kohlenstaub auf seinem Gesicht war deutlich zu sehen, dass er rot wurde.
»Ich danke dir für deine Hilfe, Chen«, sagte Beatrice, als sie ihre Zimmertür erreicht hatten.
»Nein, Herrin, dankt nicht mir«, entgegnete er und verneigte sich wieder. Angesichts seiner deformierten Wirbelsäule schien diese Bewegung ihm erhebliche Mühe zu bereiten. »Ich danke Euch für die Ehre, die Ihr mir erwiesen habt. Und dafür, dass Ihr Jens Wunden behandelt habt, als sie sich verbrannt hat.«
»Ja, aber…?«
»Sie ist meine Braut, Herrin.«
Mit einem schüchternen Lächeln reichte er ihr das Kohlestück, und noch bevor Beatrice etwas erwidern konnte, hatte er sich auch schon umgedreht und humpelte eilig davon.
»Es hat mich gefreut, dich kennen zu lernen, Chen«, sagte Beatrice leise. »Und ich wünsche dir und Jen viel Glück.«
Als sie wieder in ihr Zimmer kam, saß Maffeo zurückgelehnt auf dem Stuhl und schlief. Sein Gesicht glühte vor Hitze, und seine hastigen Atemzüge klangen wie das Hecheln eines Hundes. Beatrice trat leise zu ihm und tastete nach seiner Halsschlagader. Der Puls war schnell, schwach und unregelmäßig, sicher ein Resultat des hohen Fiebers.
Hoffentlich ist es noch nicht zu spät, dachte Beatrice und machte sich an die Arbeit, die Kohle zu zerstoßen. Da sie keinen Mörser oder etwas Ähnliches hatte, legte sie die Kohle in eine ihrer Essschalen und rieb mit dem Boden einer zweiten Schale darüber. Es war zwar mühsam, aber es funktionierte. Als sie gut zwei Esslöffel voll Kohlenstaub zusammenhatte, schüttete sie das schwarze Pulver in Maffeos Trinkschale und verrührte es mit Wasser zu einem ziemlich dickflüssigen Brei.
»Wach auf, Maffeo«, sagte sie und rüttelte ihn behutsam an der Schulter.
Mühsam schlug er die Augen auf.
»Fatima«, flüsterte er, und ein Lächeln glitt über sein überhitztes Gesicht. »Dem Himmel sei dank, dass du gekommen bist. Ich kann noch nicht sterben, nicht jetzt. Ich habe meine Aufgabe noch nicht erfüllt, ich habe den Stein noch keinem würdigen Hüter übergeben.« Er wurde immer aufgeregter und versuchte sogar, sich zu erheben. »Bitte, hilf mir! Lass mich wenigstens noch so lange am Leben, dass ich diese Mission zu Ende bringen kann. Bitte, Fatima, ich flehe dich an! Es ist noch zu früh! Ich muss doch erst…«
Beatrice legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter und drückte ihn sanft auf den Stuhl zurück.
»Ruhig, Maffeo, es wird alles gut. Ich bin bei dir.«
Kraftlos sank er in sich zusammen.
»Ja, du bist hier. Jetzt wird alles gut.« Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Ich bin so durstig. Bitte, gib mir etwas Wasser.«
»Trink das«, erwiderte Beatrice und hielt ihm die Schale an die Lippen.
Maffeo schluckte gierig, hustete und verzog gleich darauf angewidert das Gesicht.
»Was ist das?« Er sah Beatrice an, als würde er sie zum ersten Mal in seinem Leben zu Gesicht bekommen. Dann riss er entsetzt die Augen auf. »Was hast du mir zu trinken gegeben? Du bist nicht Fatima! Wer bist du?«
»Ich bin Beatrice. Erkennst du mich nicht?«
»Du bist nicht Beatrice. Und du bist nicht Fatima.« Seine Augen wurden schmal. »Ich weiß jetzt, wer du bist. Selbst wenn du dich verkleidest, erkenne ich dich. Mich täuschst du nicht. Du bist der Teufel oder einer seiner Schergen. Du willst mich vergiften, um den Stein an dich zu nehmen und ihn für deine eigenen, bösen Zwecke zu missbrauchen. Aber du bekommst ihn nicht. Nie und nimmer werde ich zulassen, dass der Stein der Fatima in deine Hände fällt und…«
Maffeo begann zu kreischen und wild um sich zu schlagen. Beatrice gelang es gerade noch rechtzeitig, die Schale mit dem Kohlenbrei auf einem Tisch außerhalb von Maffeos Reichweite in Sicherheit zu bringen, bevor er sie ihr aus der Hand schlagen konnte.
»Maffeo, sieh mich an!« Sie packte seine Arme und hielt sie mit aller Gewalt fest. »Sieh mich an!«
»Nein!«, schrie er. Er wand und krümmte sich, trat nach ihr und versuchte sich aus ihrem Griff zu befreien. »Niemals. Ich werde…«
»Maffeo!«, schrie auch Beatrice. Und da sie sich keinen anderen Rat wusste, gab sie ihm eine schallende Ohrfeige. Von einer Sekunde zur nächsten verstummte er und starrte sie an wie ein verängstigtes Kaninchen. »Sieh mich an! Ich bin Beatrice. Erkennst du mich jetzt?«
Er runzelte die Stirn. »Doch, ja, ich kenne dich. Du bist Beatrice, die Frau, die Dschinkim und ich in der Steppe fanden. Es war an dem Tag, als der Fuchs Dschinkims Adler gerissen hatte. Was machst du hier, Beatrice? Hat Khubilai dich in sein Gefolge aufgenommen? Ich dachte…«
Beatrice seufzte. Er halluzinierte immer noch. Das wurde allmählich anstrengend. Wie hielten das bloß die Kollegen von der Psychiatrie aus, die jeden Tag, sieben Tage die Woche, zweiundfünfzig Wochen im Jahr mit den Wahnwelten ihrer Patienten konfrontiert waren?
»Ich wohne hier. Aber das ist jetzt gleichgültig.« Sie nahm die Schale und reichte sie ihm. »Trink das aus.«
Misstrauisch begutachtete er die schwarze Flüssigkeit.
»Was ist das?«
»Medizin«, antwortete Beatrice und tupfte mit einem Tuch den schwarzen Speichel von Maffeos Kinn. »Ich weiß, dass es abscheulich schmeckt. Aber es wird das Gift in deinem Körper neutralisieren.«
Hoffentlich, fügte sie in Gedanken hinzu.
Sie hielt ihm erneut die Schale an die Lippen, und tatsächlich trank er sie jetzt widerstandslos in kleinen Schlucken leer. Danach füllte sie zum Nachspülen klares Wasser hinein.
»Du musst dich jetzt hinlegen, Maffeo«, sagte Beatrice und führte ihn zu ihrem Bett. Durch das Fieber war er so geschwächt, dass seine Beine unter ihm einknickten und sie ihn stützen musste. Sie half ihm, sich auszustrecken, legte ein feuchtes Tuch auf seine Stirn und wickelte nasse Tücher um seine Waden. Dann deckte sie ihn zu. »Versuch zu schlafen, ich werde bei dir bleiben.«
Gehorsam schloss er die Augen. Nur kurze Zeit später hörte sie an seinen tiefen Atemzügen, dass er bereits eingeschlafen war. Beatrice schob einen der Stühle neben das Bett und setzte sich. Müde rieb sie sich ihren heftig schmerzenden Rücken, streifte die chinesischen Sandalen ab und legte ihre Füße auf einen der niedrigen Tische. Ihre Beine waren schwer wie Blei, ihre Knöchel waren geschwollen – trotz Li Mu Bais Kräuterrezeptur. Sie fühlte sich matt und zerschlagen. Und das Kind in ihrem Bauch boxte und trat um sich, als wollte es sie für den Stress und die Hektik dieses Tages bestrafen.
»Ganz ruhig, Kleines, ganz ruhig«, flüsterte sie und streichelte sich über den Bauch. Jetzt nur keine Wehen, das hätte ihr gerade noch gefehlt. »Ich verspreche dir, morgen wird es ruhiger für uns beide. Morgen werde ich brav sein. Ich werde einen Spaziergang machen und früh schlafen gehen und alles tun, was eine Schwangere kurz vor der Geburt tun sollte, um sich und ihr Kind zu schonen und keine vorzeitigen Wehen zu provozieren. Aber heute Nacht müssen wir beide noch einmal die Zähne zusammenbeißen. Wir müssen auf Maffeo aufpassen. Er darf nicht sterben. Das darf einfach nicht geschehen.«