Am nächsten Morgen wurde Beatrice schon früh geweckt. Wie immer kam es ihr vor, als wäre sie gerade erst ins Bett gegangen, als ihre neue Dienerin sie auch schon sanft am Arm berührte und ihr die Decke wegzog.
Ich fürchte, an dieses frühe Aufstehen werde ich mich nie gewöhnen, dachte Beatrice und streckte müde ihre Glieder.
»Bitte Herrin, Ihr müsst aufstehen«, sagte das Mädchen und legte die Kleidung zurecht. »Der Herr wird jeden Augenblick hier sein.«
Beatrice seufzte und erhob sich mühsam aus dem Bett. In Buchara hatte sie es sich abgewöhnt, Dienern in Terminfragen zu widersprechen. Meistens kannten sie die Zeitpläne ihrer Herren besser als diese selbst.
Etwa eine halbe Stunde später war Beatrice fertig angekleidet und frisiert. Sie war selbst überrascht, wie schnell es gegangen war. Viel schneller als mit der alten Ming – und natürlich viel angenehmer. Es gab kein Gezeter, kein missmutiges Gesicht, nicht einmal das Haare kämmen hatte so wehgetan wie sonst. Sie wollte es Jen gerade sagen, als es an der Verbindungstür zu Maffeos Gemächern klopfte und er selbst ins Zimmer trat.
»Guten Morgen, Beatrice. Hast du gut geschlafen? Und bist du zufrieden mit deiner neuen Dienerin?«
»O ja, ich danke dir von ganzem Herzen«, erwiderte sie. »Aber was ist mit Ming?«
Ein Lächeln huschte über Maffeos müdes, eingefallenes Gesicht.
»Ich habe sie zur Aufseherin über meine Diener gemacht. Natürlich hat sie erkannt, dass wir sie nicht mehr unmittelbar um uns haben wollen. Aber da sie jetzt eine höhere Stellung einnimmt als zuvor, konnte sie sich noch nicht einmal darüber beschweren.«
»Hoffentlich lässt sie ihren Unmut jetzt nicht an den jungen Mädchen aus.«
Maffeo zuckte mit den Schultern. »Ich habe sie zwar davor gewarnt, doch es wird sich wohl trotzdem nicht vermeiden lassen. Sollte sie es aber zu bunt treiben, werde ich sie zur Verantwortung ziehen.« Er betrachtete Beatrice. »Gut, dass du bereits fertig angekleidet bist. Lo Han Chen und Li Mu Bai beginnen immer sehr früh mit ihrer Visite im Haus der Heilung. Und Dschinkim wird auch jeden Augenblick hier sein.«
»Dschinkim? Wieso…«
»Er hat darauf bestanden, dich zu begleiten.«
»Und wozu?«
Maffeo zuckte wieder mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Vielleicht will er sich davon überzeugen, dass alles nach den Wünschen des Kaisers verläuft, dass die Chinesen sich an seine Anweisungen halten oder dass im Haus der Heilung…«
»Er will uns nachspionieren, das ist es.«
»Nun…«
Beatrice verdrehte die Augen. »Immer nimmst du diesen Kerl in Schutz. Was glaubt er denn, was im Haus der Heilung geschehen wird? Dass ich gemeinsam mit den anderen Ärzten plane, ihn und seinen Bruder möglichst unauffällig aus dem Weg zu räumen?«
»Es ist nicht persönlich gemeint, Beatrice. Dschinkim ist nun mal… überaus misstrauisch. Ihm liegt das Wohlergehen seines Bruders eben sehr am Herzen.«
»Ja, natürlich. Das habe ich nun schon so oft gehört, dass es mir mittlerweile zum Hals heraushängt! Meiner Ansicht nach ist dieser Mann kein besorgter Bruder, sondern ein Fall für die Psychiatrie. Vielleicht sollten wir gleich bei der Visite mit ihm anfangen.«
Gerade als das letzte Wort verklungen war, stand Dschinkim in der Tür. Beatrice wollte ihn zurechtweisen, weil er ihr Zimmer ohne anzuklopfen betreten hatte, doch der Mongole starrte sie so finster an, dass sie vorsichtshalber doch nichts sagte. Hielt er nichts von der Idee seines Bruders, sie mit den anderen Ärzten im Haus der Heilung zusammenarbeiten zu lassen, oder hatte er etwa gehört, was sie über ihn gesagt hatte? Es war zwar unwahrscheinlich, dass er mit dem Wort »Psychiatrie« etwas anfangen konnte, aber er war nicht dumm.
»Fertig?«, fragte Dschinkim, und seine Stimme klang so zornig, dass Beatrice sicher war, dass er sie gehört hatte. Und er hatte sie verstanden. Der Kragen wurde ihr zu eng. »Dann lasst uns gehen.«
Das Haus der Heilung gehörte ebenfalls zum kaiserlichen Palast. Allerdings lag es am nördlichen, also von ihnen aus entgegengesetzten Ende. Deshalb hatte Beatrice ausreichend Gelegenheit, die ganze Anlage zu bewundern.
Sie gingen über großzügig angelegte, freie Plätze, die jeder deutschen Kleinstadt Ehre gemacht hätten, vorbei an unzähligen Gebäuden, von denen jedes eine bestimmte Aufgabe hatte, wie Maffeo Beatrice erklärte. So gab es zum Beispiel Häuser, die lediglich zu bestimmten Mahlzeiten oder Jahreszeiten aufgesucht werden sollten; Häuser, in denen die Kinder der kaiserlichen Familie ihren Mittagsschlaf hielten; Häuser für die Konkubinen des Kaisers, seine Söhne und Töchter.
Der kaiserliche Palast war also kein einzelnes, zusammenhängendes Gebäude, sondern im Grunde genommen eine von Mauern und Wehrtürmen umgebene Kleinstadt, mit den privaten Gemächern des Kaisers in ihrem Zentrum. Überall liefen Diener herum, die Kisten auspackten und Möbel schleppten. Und doch schien bereits vieles fertig zu sein, so dass Beatrice annahm, dass eine Menge Hände die Nacht durchgearbeitet hatten.
Dschinkim ging mit langen, schnellen Schritten vorneweg, als hinge sein Leben davon ab, rechtzeitig das Haus der Heilung zu erreichen. Beatrice hatte Mühe, dem Mongolen zu folgen, und schon nach kurzer Zeit war sie völlig außer Atem. Doch ein Seitenblick auf Maffeo sagte ihr, dass es dem alten Mann weitaus schlimmer erging, obwohl er versuchte, es zu verbergen. Er keuchte und röchelte, Schweißperlen standen auf seiner Stirn, und immer wieder, wenn er sich unbeobachtet glaubte, griff er sich an die linke Brust und verzog dabei das Gesicht, als ob er Schmerzen hätte.
Hoffentlich erreichen wir das Haus der Heilung überhaupt noch, dachte Beatrice und überlegte, was sie für Maffeo tun konnte. Da kam ihr die rettende Idee.
»He, Dschinkim!«, rief sie dem voranstürmenden Mongolen nach.
Er blieb stehen und drehte sich um. Selbst aus der Ferne konnte sie den finsteren Ausdruck auf seinem Gesicht erkennen.
Mein Gott, dachte Beatrice, hat dieser Mann eigentlich nur schlechte Laune?
»Was ist?«
»Geht es vielleicht ein bisschen langsamer?«, fragte Beatrice und gab sich diesmal keine Mühe, höflich zu sein. Dieser egozentrische, ständig mürrische Dschinkim ging ihr allmählich auf die Nerven. Er verdiente es nicht anders. »Vielleicht hast du es noch nicht bemerkt, aber ich bin kein Krieger. Außerdem erwarte ich ein Kind. Du solltest dein Schritttempo meinem anpassen. Es sei denn, du kannst es kaum erwarten, hier mitten auf dem Weg als Hebamme tätig zu werden.«
Beatrice konnte mit der Wirkung ihrer Worte zufrieden sein. Dschinkim wurde rot.
»Gut, wenn es unbedingt sein muss, werde ich langsamer gehen«, sagte er und wandte sich wieder ab.
Beatrice seufzte. Sie hatte es zwar nicht erwartet, aber trotzdem wäre eine Entschuldigung angebracht gewesen. Wer auch immer diesen Mann erzogen hatte, derjenige hatte in manchen Aspekten kläglich versagt.
»Danke«, flüsterte Maffeo Beatrice zu, als sie ihren Weg, diesmal in angenehmerem Tempo, fortsetzten. »Aber woher wusstest du…«
»Ich bin Ärztin. Schon vergessen? Doch du solltest unbedingt etwas unternehmen, Maffeo. Du bist krank und…«
»Nein, es ist nichts«, wehrte Maffeo ab. »Die Reise war ein wenig anstrengend. Außerdem musste ich noch wichtige geschäftliche Angelegenheiten regeln und habe deshalb letzte Nacht nicht viel geschlafen. Ich gebe es zwar nur ungern zu, aber ich bin nicht mehr der Jüngste. Ein Dauerlauf ist nichts mehr für mich. Alles was ich jetzt brauche, ist eine Pause, damit ich wieder zu Atem komme. Während du mit den anderen Ärzten im Haus der Heilung sprichst, werde ich mich in den Garten setzen. Vielleicht werde ich sogar ein Nickerchen machen. Und du wirst sehen, wenn du fertig bist, werde ich Dschinkim hinter mir zurücklassen.«
Er lächelte. Aber das Lächeln war gequält, und sein Gesicht hatte eine graue, ungesunde Farbe.
Mir kannst du nichts vormachen, alter Freund. Ich wette hundert zu eins, dass es das Herz ist, dachte Beatrice besorgt.
Allen Anzeichen nach zu urteilen hatte Maffeo einen Anfall von Angina pectoris. Vielleicht stand er sogar kurz vor einem Herzinfarkt. Aber wie sollte sie ihn dazu bringen, sich untersuchen und behandeln zu lassen? Abgesehen davon, was konnte sie hier überhaupt tun? In Buchara wäre es anders gewesen. Dort wusste sie, das Ali Weißdorn in seinem Kräuterschrank aufbewahrte, aus dem sie mit seiner Hilfe einen Tee und eine Herzsalbe hätte herstellen können, um wenigstens eine Linderung der Beschwerden zu erreichen. Aber welche medizinischen Möglichkeiten hatten die Chinesen?
Ich sollte mit Li Mu Bai sprechen, dachte Beatrice. Ihm scheint Maffeo zu vertrauen.
Vielleicht konnte der Mönch ihn zu einer Therapie überreden. Selbst wenn die Akupunkturnadeln lediglich einen entspannenden Effekt haben würden und an dem Herzleiden selbst nichts ändern konnten, es war immer noch besser, als gar nichts zu tun.
Wenig später erreichten sie das Haus der Heilung, einen niedrigen, rechteckigen Bau. Das pagodenförmige Dach war mit rot lackierten Ziegeln gedeckt. Das Einzige, wie Beatrice feststellte, denn alle anderen Dächer des Palastes waren blau. Die Hauswände und die Säulen waren rot gestrichen und mit bunten Friesen unter dem Dachfirst und an den Pfosten des Haupteingangs geschmückt. Die farbenfrohen Figuren in Blau, Grün und leuchtendem Orange stellten die typischen chinesischen Drachen, aber auch Früchte und merkwürdige schlanke Insekten mit schmalen Flügeln und langen Fühlern dar.
»Das sind Pfirsiche«, erklärte Maffeo, als Beatrice ihn danach fragte. »Pfirsiche und Zikaden. Für die Chinesen sind sie seit alter Zeit ein Symbol der Langlebigkeit und der Gesundheit.«
Offensichtlich wurden sie bereits erwartet, denn kaum hatten sie das Innere des Hauses betreten, als ihnen auch schon ein Junge entgegenlief. Er war Chinese, höchstens zwölf Jahre alt und so mager, dass seine weiten Gewänder um ihn herum schlotterten wie die Kleider einer Vogelscheuche. Der Junge legte beide Hände aneinander und verneigte sich.
»Seid willkommen, edler Dschinkim, Bruder und Thronfolger des großen Khubilai Khans«, sagte er in so gebrochenem Mongolisch, dass es sogar Beatrice auffiel. »Mögen die Götter Euch segnen und Euch ein langes, erfülltes Leben schenken.«
»Schon gut, schon gut«, erwiderte Dschinkim ungeduldig und starrte den kleinen Chinesen so finster an, als würde er ihm unterstellen, dass er nur aus einem einzigen Grund so dünn war, nämlich um unter seiner weiten Kleidung einen Dolch verbergen zu können. »Beatrice, die Frau aus dem Norden des Abendlandes, soll auf ausdrücklichen Wunsch und Befehl des Kaisers, des ehrwürdigen Khubilai Khans, die chinesischen Ärzte in ihrer Heilkunst unterrichten. Bringe uns auf der Stelle zu ihnen.«
»Sehr wohl«, erwiderte der Junge und verneigte sich erneut. »Der hoch geschätzte Lo Han Chen und der weise Li Mu Bai erwarten Euch bereits in der Halle der Morgenröte.«
»Wenn Ihr erlaubt, edler Dschinkim«, sagte Maffeo und verneigte sich, als wäre er ein gewöhnlicher Diener und nicht ein enger Freund des Mongolen, »so würde ich gern in den Garten gehen und dort auf Euch warten.«
Dschinkim nickte hoheitsvoll. »Ich gestatte dir, dich zu entfernen«, entgegnete er. Doch Beatrice hatte den Eindruck, dass er sich Mühe geben musste, ernst zu bleiben. Um seine Mundwinkel zuckte es verräterisch. »Aber schlaf nicht ein. Es könnte sein, dass ich deine Dienste benötige.«
»Sehr wohl, Herr.«
Maffeo verneigte sich, ging ein paar Schritte in dieser Haltung rückwärts, drehte sich dann erst um und verschwand zwischen den Säulen. Beatrice wusste nicht, wozu diese Szene gut sein sollte. Normalerweise unterhielten sich Dschinkim und Maffeo wie zwei gleichgestellte Freunde. Aber der Junge hatte das Ganze offensichtlich aufmerksam beobachtet, denn er verneigte sich vor Dschinkim deutlich tiefer als zuvor.
»Folgt mir bitte.«
Der Junge verbarg seine Hände wieder in den weiten Ärmeln seines Hemds und eilte mit schnellen, trippelnden Schritten vor ihnen her. Vor einer mit kunstvollen Schnitzereien reich verzierten Tür blieb er stehen.
»Verzeiht, aber nur die Frau darf die Halle der Morgenröte betreten. Ich möchte Euch bitten, so lange hier zu warten und…«
»Was höre ich da?«, donnerte Dschinkim, sodass der Junge erschrocken zurückwich. »Hast du hirnloser Trottel bereits vergessen, wen du vor dir hast? Ich bin Dschinkim, der Bruder des Khans. Und ich lasse mir den Zutritt in die Halle der Morgenröte nicht von einem namenlosen Wurm verweigern, dessen Zähne vor Angst klappern wie die Rassel eines Babys. Du hast die Wahl. Entweder du lässt mich hinein, oder morgen früh wird dein Kopf die Zinnen des Palastes schmücken.«
»Aber Herr, ich…«
Dschinkim zog seinen Krummsäbel aus der Tasche und trat näher an den Jungen heran.
»Überleg dir gut, was du jetzt sagst oder tust«, fiel er ihm ins Wort und berührte mit der Spitze den Hals des Kindes. »Ich habe nicht viel Geduld mit deinesgleichen.«
»Aber Lo Han Chen und…«
»Ihre Köpfe werden neben deinem den Glanz der Morgenröte sehen, solltest du meine Zeit noch länger unnötig vergeuden!«
Der Junge wurde bleich wie ein Laken. »Sehr wohl, Herr, wie Ihr wünscht, Herr. Aber vorerst muss ich den geschätzten Lo Han Chen…«
»…davon in Kenntnis setzen, dass ich komme?«, unterbrach ihn Dschinkim. »Warum? Hat er etwas zu verbergen? Plant er da drinnen etwas, wovon ich nichts wissen sollte?«
Jetzt begann der Junge sichtbar zu zittern. Vor lauter Angst schien der Kleine nicht mehr zu wissen, was er tun sollte.
»Nein, Herr, natürlich nicht, Herr, ich…«
»Dann spute dich, öffne die Tür und lass uns hinein in die Halle der Morgenröte.«
»Ja, Herr, natürlich, Herr.«
Während der Junge sich mit zitternden Händen an dem großen schweren Riegel zu schaffen machte, steckte Dschinkim seinen Krummsäbel in die lederne Scheide zurück. Beatrice sah ihn überrascht an. Dschinkim lächelte. Sie hatte den Mongolen noch nie zuvor lächeln sehen. Es war erstaunlich, wie sich dadurch sein Gesicht veränderte und er zu einem attraktiven Mann wurde. Und als sich ihre Blicke trafen, funkelten seine grünen Augen vor Vergnügen wie die einer Katze, die mit einem Wollknäuel gespielt hat.
Der Junge öffnete die Tür und ließ sie eintreten. Beatrice wusste nicht, welche Vorstellung sie von der Halle der Morgenröte gehabt hatte, aber sie hatte nicht erwartet, in einer Art Krankenhaus zu stehen.
Der Raum hatte etwa die Größe einer Turnhalle. Die Kranken lagen in fünf langen Reihen dicht nebeneinander auf niedrigen, mit Strohmatten und dünnen Laken bedeckten Bettgestellen. Eine Gruppe von etwa einem Dutzend Männern stand in der Nähe der Tür und sah ihnen entgegen. Sie waren alle mit grauen chinesischen Hemden und Hosen bekleidet, trugen lange ärmellose Mäntel darüber und kleine Hüte oder Kappen auf ihren Köpfen.
Vermutlich sind das die Ärzte, dachte Beatrice.
Aber warum waren es so viele? War heute etwa »Chefvisite«, oder kamen sie alle nur aus Neugierde, um die Frau aus dem Norden des Abendlandes zu begaffen?
Die Ärzte sahen ihnen mit unbewegten Gesichtern entgegen. Trotzdem hatte Beatrice den Eindruck, dass sie mit Missfallen und Ablehnung begutachtet wurde.
Diese Männer in der westlichen Schulmedizin zu unterweisen wird bestimmt nicht so einfach werden, wie Khubilai sich das vorgestellt hat, dachte Beatrice.
Sie richtete sich gerade auf und hob ihr Kinn – eine Maßnahme, die sie sich im Laufe ihrer chirurgischen Tätigkeit angewöhnt hatte, wenn ihr Selbstbewusstsein durch frauenfeindliche Sprüche der Kollegen ins Wanken zu geraten drohte.
Unterdessen ging der Junge ein paar Schritte auf die Männer zu und verneigte sich so tief, dass sein Körper fast einen rechten Winkel bildete – eine sehr subtile Art, Dschinkim zu zeigen, wem seiner Ansicht nach im Haus der Heilung die meiste Ehre gebührte. Beatrice warf dem Mongolen einen Blick zu. Natürlich war ihm diese Geste nicht entgangen. Seine Augen flackerten vor unterdrückter Wut. Eine Wut, die Beatrice durchaus nachvollziehen konnte. Dieses Verhalten war mehr als unhöflich, und sie fragte sich, was Dschinkim diesmal von einer lautstarken Zurechtweisung abhielt.
»Seid willkommen in der Halle der Morgenröte, Beatrice, Frau aus dem Norden des Abendlandes«, sagte Li Mu Bai und kam ihnen entgegen. »Seid ebenfalls gegrüßt, Dschinkim, Bruder und Thronfolger unseres ehrwürdigen Kaisers Khubilai Khan. Eure Anwesenheit in der Halle der Morgenröte ist eine freudige Überraschung. Sie verleiht diesem Tag einen unvorhergesehenen Glanz.«
Der kleine kahl geschorene Mönch verneigte sich tief. In seinem orangefarbenen Gewand wirkte er inmitten der grauen, bärtigen Gestalten wie ein fröhlicher Farbtupfer. Tatsächlich schien er der Einzige zu sein, der überhaupt bereit war, sie zu begrüßen. Die anderen starrten sie immer noch schweigend und mit unbeweglichen Gesichtern an.
»Zu Ehren Eurer Anwesenheit haben sich heute alle Ärzte hier versammelt, um mit Euch gemeinsam die Kranken zu untersuchen und den von unserem hoch geschätzten Kaiser erwünschten Austausch des Wissens zu beginnen«, fuhr Li Mu Bai fort. Doch Beatrice hatte den Verdacht, dass er lediglich in höfliche Worte kleidete, was man auch Neugierde hätte nennen können. »Ich möchte Euch zuerst die weisen und edlen Herren vorstellen.«
Li Mu Bai führte Beatrice und Dschinkim an der Reihe der Ärzte vorbei und nannte dabei ihre Namen. Die Männer verbeugten sich so kurz, dass es eher wie ein Nicken aussah – die äußerste Grenze dessen, was die Höflichkeit gebot.
Ich werde sie ohnehin nicht auseinanderhalten können, dachte Beatrice. Für mich sehen sie alle gleich aus. Und die Namen… Ich werde Jahre brauchen, um die zu lernen.
In ihrem Kopf wirbelten die chinesischen Silben durcheinander. Nur ein Name war ihr im Gedächtnis geblieben, und vermutlich war er auch der wichtigste: Lo Han Chen. Er war ein alter, mindestens siebzigjähriger Mann, dessen schlohweißer Bart bis auf die Brust reichte und so dünn war, dass die wenigen vom Kinn herabhängenden Haare fast wie Spinnweben aussahen. Er schien so etwas wie das Oberhaupt der Ärzte zu sein. Ob die anderen Männer seine Söhne oder Neffen oder einfach nur »Kollegen« waren, vermochte sie nicht auszumachen.
»Nun wollen wir zu dem ersten Kranken gehen«, sagte Li Mu Bai.
Auch seine Freundlichkeit konnte man nur als zurückhaltend bezeichnen. Seine Worte hätte man ebenso gut als geschickt verpackte Beleidigungen auffassen können. Trotzdem hatte Beatrice den Eindruck, dass ihm das Verhalten seiner Kollegen überhaupt nicht gefiel. Er führte Beatrice an das Bettgestell am Anfang der Reihe. Dort lag ein alter, bis auf die Knochen abgemagerter Mann. Er war völlig apathisch und gab außer einem raschen Heben und Senken der Brust sowie einem gelegentlichen Blinzeln kein Lebenszeichen von sich.
»Was sagst du?«
Beatrice fühlte, wie sich ein Dutzend Augenpaare auf sie richteten – neugierig, skeptisch und unfreundlich. Sie starrten sie an in der Erwartung, dass sich diese Barbarin, die es wagte, die heilige Halle der Morgenröte zu betreten, bis auf die Knochen blamieren würde.
Jetzt nur keinen Fehler machen, dachte sie. Dies ist eine Prüfung. Und nicht nur du allein, sondern die moderne Medizin und die westeuropäische Zivilisation überhaupt werden beurteilt.
»Mit welchen Symptomen hat seine Krankheit begonnen?«, fragte sie und hoffte, dass ihre Stimme vor Nervosität nicht allzu sehr zitterte. Sie hasste Prüfungen fast noch mehr als Spinnen.
Li Mu Bai neigte leicht den Kopf. »Wenn du es wissen musst, dann werde ich es dir erzählen«, sagte er, und Beatrice fragte sich, ob chinesische Ärzte darauf verzichteten oder es vielleicht gar nicht nötig hatten, vor der Untersuchung ihre Patienten zu befragen. »Im Sommer fing es damit an, dass er nichts mehr essen konnte. Jeden Bissen gab er wieder von sich.«
»War Schleim oder Blut dabei?«, fragte Beatrice und biss sich gleich darauf auf die Lippe. Warum hatte sie nicht einfach so lange warten können, bis er fertig war? So einen Fehler durfte sie auf keinen Fall ein zweites Mal machen.
»Eine gute Frage«, entgegnete Li Mu Bai. Wenn er sich über die Unterbrechung seiner Rede ärgerte, so ließ er es sich nicht anmerken. Er lächelte immer noch wie eine Buddhastatue. »Aber das kam erst später. Zu dem Zeitpunkt war er noch…«
In diesem Augenblick erschien der junge chinesische Diener wieder.
»Vergebt mir die Störung«, sagte er und verbeugte sich tief vor Li Mu Bai und den anderen Herren. »Im Garten wartet ein Mann. Er bittet in aller Höflichkeit, mit dem weisen Li Mu Bai sprechen zu dürfen.«
Der kleine Mönch neigte wieder den Kopf. »Richte ihm aus, ich komme zu ihm, sobald ich hier fertig bin. Er soll sich noch etwas gedulden.«
»Verzeiht, Herr, aber er sagt, es ist von größter Wichtigkeit, so dass es keinen Aufschub duldet.« Der Junge trat von einem Fuß auf den anderen. »Er bittet Euch vielmals um Vergebung, aber er muss darauf bestehen, Euch auf der Stelle zu sprechen.«
Li Mu Bai runzelte die Stirn. »Dann werde ich wohl gehen müssen.« Er warf Beatrice einen Blick zu, als wollte er sich bei ihr entschuldigen, und eilte mit dem Jungen davon.
Beatrice sah ihm sehnsüchtig nach. Sie hatte den Eindruck, dass mit Li Mu Bai auch der letzte Rest Freundlichkeit und Kollegialität den Raum verlassen hatte. Doch wie schlimm die nächsten drei Stunden tatsächlich werden würden, hätte Beatrice niemals für möglich gehalten.
Sie wartete, ob sich jemand freiwillig bereit erklärte, Li Mu Bais begonnene Schilderung fortzusetzen. Die Minuten verstrichen, und es breitete sich ein peinliches, unangenehmes Schweigen aus, doch keiner der Männer sagte ein Wort. Sie starrten sie mit ihren unbeweglichen Gesichtern an, als hätten sie vor, sie allein mit der Kraft ihrer Blicke einzufrieren. Vielleicht hatten die chinesischen Ärzte es tatsächlich nicht nötig, mit ihren Patienten zu sprechen. Um der frostigen Atmosphäre zu entgehen, wandte sich Beatrice dem Mann zu. Sie kniete sich neben dem niedrigen Bettgestell auf den Boden und ergriff seine Hand. Sie war kalt, feucht und kraftlos.
»Guten Tag, mein Name ist Beatrice. Haben Sie Schmerzen?«, fragte sie und kratzte ihre – immer noch spärlichen – Mongolischkenntnisse zusammen. Doch entweder war der Alte Chinese und verstand kein Mongolisch, oder aber seine Erkrankung war schon so weit fortgeschritten, dass er sich im präfinalen Delir befand. Der Puls an seinem dünnen Handgelenk war kaum noch tastbar.
Beatrice schlug das Laken zurück. Der Mann war nur noch Haut und Knochen, lediglich sein Bauch war aufgetrieben wie ein Ballon. Behutsam legte sie eine Hand auf die Bauchdecke, doch sofort begann der Mann vor Schmerz zu wimmern. Der Bauch war bretthart.
Er hat eine Abwehrspannung, dachte Beatrice und überlegte, welche Diagnosen infrage kämen. Fast jedes in der Bauchchirurgie vorkommende Krankheitsbild konnte im Endstadium solche Symptome zeigen, angefangen von einer Appendizitis bis hin zu einer Krebserkrankung. Zu Hause in Hamburg hätte sie in einem solchen Fall eine ausführliche Blutuntersuchung, einen Ultraschall des Bauchs sowie eine Röntgenaufnahme angeordnet. Nur kurze Zeit später hätte sie die Diagnose gekannt. Sie hätte innerhalb weniger Stunden operieren können. Allerdings bezweifelte sie, dass selbst die moderne Chirurgie und Intensivmedizin noch in der Lage gewesen wären, dem Mann in diesem Stadium das Leben zu retten. Das Beste wäre sicherlich, den Alten einfach in Ruhe sterben zu lassen und ihm nach Möglichkeit die Schmerzen zu nehmen – zur Not mit Opium.
Aber die Chinesen warten auf deine Antwort. Du musst ihnen irgendetwas präsentieren, und wenn es nur eine Verdachtsdiagnose wäre, ermahnte Beatrice sich und fing an, den Bauch mit den Fingern abzuklopfen, um herauszubringen, ob sich Luft oder Flüssigkeit darin befand.
Sofort begann der Mann zu schreien und sich zu winden. Er stieß ihre Hand weg, bäumte sich mit letzter Kraft auf und schrie ihr etwas ins Gesicht, so dass sie erschrocken zurückwich. Die chinesischen Ärzte runzelten kollektiv die Stirn.
»Nun?«, fragte Lo Han Chen, und Beatrice glaubte in seinen dunklen Augen so etwas wie boshafte Freude flackern zu sehen. »Was sagst du?«
Eine scharfe Antwort lag ihr auf der Zunge, aber sie riss sich zusammen. Es hat keinen Zweck, ermahnte sie sich. Du kannst alles höchstens schlimmer machen.
»Die Krankheit kann viele Ursachen haben. Um in der Lage zu sein, das zu beurteilen, müsste ich mehr wissen.« Dann sah sie auf den alten Mann hinab, der jetzt auf der Seite lag und immer noch leise wimmerte. »Er wird bald sterben.«
»Wirklich?«, erwiderte Lo Han Chen und hob spöttisch eine Augenbraue. »Das wissen wir. Aber wir lehren unsere Ärzte, Sterbende nicht noch zusätzlich zu quälen.«
Dann flüsterte er einem der anderen Ärzte etwas ins Ohr, schüttelte den Kopf und nickte einem der jüngeren Kollegen zu. Sofort eilte dieser zum Bett des alten Mannes, setzte ihm Akupunkturnadeln, und bereits nach wenigen Augenblicken hörte der Kranke auf zu wimmern.
Treffer, versenkt, dachte Beatrice und hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Warum nur hatte sie sich nicht wie sonst auf ihre Intuition verlassen? Statt an den Patienten zu denken, hatte sie vor den Chinesen mit ihrem fortschrittlichen Wissen glänzen wollen – und war mitten in die vorbereitete Falle getappt. Sie spürte, wie sie scharlachrot anlief. Den ersten Teil der Prüfung hatte sie gründlich versiebt.
»Lasst uns weitergehen.«
Sie gingen von Bett zu Bett, und Beatrice wurde immer nervöser und unsicherer. Unter den aufmerksamen Blicken der anderen Ärzte sollte sie offensichtlich nicht nur Diagnosen stellen und Therapien vorschlagen, sondern auch »richtig« mit den Patienten umgehen. Aber wie sollte sie mit Menschen »richtig« umgehen, die ihre Sprache nicht verstanden und sie nur mit den großen, traurigen und geduldigen Augen von Schlachtvieh ansahen? An jedem Bett tappte sie erneut völlig im Dunkeln. Sie tastete Bäuche ab, prüfte Reflexe, fühlte den Pulsschlag. Aber was half das alles, wenn ihr das wichtigste Instrument des Arztes – die Sprache – nicht zur Verfügung stand und keiner der anderen Ärzte bereit war, ihr etwas zur Vorgeschichte und zu den Symptomen zu erzählen? Wie sollte sie herausfinden, was diesen bedauernswerten Menschen fehlte?
Die Blicke, mit denen die anderen Ärzte sie betrachteten, wurden von Bett zu Bett verachtungsvoller. Und obwohl sie ihre Gespräche nicht verstand, war sie sicher, dass sie sich über ihre »Medizin« lustig machten. Zu Recht. Es war eine unendlich peinliche Vorstellung, die sie hier gab. Und das Wissen darum machte die ganze Angelegenheit auch nicht besser.
Als sie endlich den Spießrutenlauf durch die ganze Halle beendet hatte, war sie schweißgebadet, obwohl sie vor Kälte fast mit den Zähnen klapperte. Sie kam sich vor wie eine Studentin im ersten Semester.
»Nun kannst du gehen«, sagte Lo Han Chen und gab sich diesmal noch nicht einmal mehr die Mühe, sich zu verneigen.
»Wir werden uns beraten und sehen, was du uns lehren kannst.«
Als sie endlich draußen vor der Tür stand, lehnte sich Beatrice gegen die Wand. Lo Han Chen hatte sie fortgeschickt wie eine Dienstmagd. Aber sie war nicht mehr in der Lage, sich darüber aufzuregen. Sie war müde und erschöpft. Sie war fast auf Knien durch die ganze Halle gerutscht, und nun taten ihre Beine und ihr Rücken weh. Sie war den Tränen nahe – Tränen der Wut, der Scham und der Enttäuschung. Seit ihrem Studium hatte sie sich nicht mehr so gedemütigt gefühlt. Jetzt war sie mit ihrer Kraft am Ende und bekam zu allem Übel auch noch Kopfschmerzen.
»O mein Gott, war das furchtbar!«, sagte sie und rieb sich ihre Schläfen. Die Berührung ihrer eisigen tauben Finger ließ sie vor Schreck zusammenzucken. »Ich glaube, ich habe alles falsch gemacht, was man nur falsch machen kann.«
»Unsinn!«, widersprach Dschinkim überraschend heftig. »Es lag nicht an dir. Diese Kerle haben dir keine Chance gegeben. Sie wollten, dass du dich falsch verhältst und Fehler machst. Wenn diese Männer Angehörige meines Volkes wären, würde ich mich für sie schämen und sie auf der Stelle von der Stadtmauer hinunterwerfen lassen!«
Beatrice lächelte gequält. Dschinkims Hass gegen die Chinesen saß offensichtlich so tief, dass er sich sogar dazu herabließ, eine wildfremde, höchst verdächtige Europäerin zu verteidigen. Aber sie wusste es besser. Sie hatte alle Erwartungen erfüllt und sich genauso verhalten, wie Lo Han Chen und seine Zöglinge es sich gewünscht hatten – ungeschickt, unwissend und durch und durch unprofessionell.
»Den Versuch, mich zu trösten, weiß ich zu schätzen«, sagte Beatrice und schüttelte fassungslos den Kopf. »Aber ich habe mich benommen, als ob ich von Medizin und dem Umgang mit Patienten keine Ahnung hätte.«
»Du kennst die Chinesen noch nicht so gut wie ich. Hochmut und Arroganz sind unter ihnen weit verbreitet. In ihrer Seele ist nichts tiefer verwurzelt als die Überzeugung, dass ihre eigene Kultur die unbestreitbar höchste ist. Und du ahnst nicht, wozu sie allein aus diesem Grund fähig sind.« Dschinkims Augen funkelten so zornig, als würde er in diesem Moment ohne Gewissensbisse den erstbesten Chinesen, der ihm in die Hände fiel, erwürgen. »Es war von Anfang an ihre Absicht, dich zu demütigen. Sie haben alles ganz genau geplant. Allerdings hätte Li Mu Bai ihre Pläne beinahe durchkreuzt. Ich weiß nicht, ob du es bemerkt hast, aber dass er hinausgerufen wurde, war kein Zufall. Lo Han Chen hat das arrangiert. Ich habe gesehen, wie er kurz zuvor mit diesem nichtsnutzigen Diener sprach.« Er spuckte aus. »Am liebsten würde ich den Bart dieses Alten am Sattel meines Pferds festbinden und ihn zur Abschreckung quer durch Taitu schleifen.«
Beatrice winkte müde ab. »Was soll das. Diese drei dünnen Haare würden doch reißen, noch bevor du in den Sattel gestiegen wärst.«
Sie sahen sich an, und plötzlich mussten sie beide lachen.
»Du hast recht. Was Lo Han Chen aus dem Gesicht sprießt, reicht nicht einmal aus, um ihn von einem alten Weib zu unterscheiden. Ich werde mir etwas anderes für ihn ausdenken. Aber was ist mit dir? Was wirst du jetzt tun?«
Beatrice zuckte mit den Schultern. »Was schon? Ich werde mich gleich hinlegen und versuchen, so schnell wie möglich den heutigen Tag zu vergessen. Und dann werde ich mir vornehmen, morgen alles besser zu machen.«
Doch Dschinkim schüttelte heftig den Kopf. »Nein, tu das nicht. Du solltest diese Schmach nicht noch einmal über dich ergehen lassen. Das ist nicht gut für dich und dein…« Er brach ab und senkte verlegen den Blick. »Ich werde sogleich mit meinem Bruder sprechen und ihn bitten, dich von dieser Pflicht zu befreien.«
Beatrice überlegte. Für einen kurzen Moment kam sie in die Versuchung, Dschinkims Vorschlag anzunehmen. Diesen arroganten, unsympathischen Ärzten nie wieder unter die Augen zu treten, war wirklich überaus verlockend, aber… Wie sollte sie sich selbst jemals wieder im Spiegel begegnen, wenn sie jetzt wegen so einer Kleinigkeit den Kopf in den Sand steckte?
»Nein«, sagte sie bestimmt. »Bitte tu das nicht.«
Dschinkim sah sie überrascht an. »Aber warum? Ich bin sicher, dass du nichts zu befürchten hast. Khubilai wird es verstehen. Er mag zwar in manchen Dingen ein Narr sein, und oft sind wir unterschiedlicher Meinung, aber er hat ein großzügiges Herz.«
Beatrice schüttelte den Kopf. »Darum geht es nicht. Es hat eher etwas mit… nun ja, mit Stolz zu tun. Mein Selbstbewusstsein hat einen Dämpfer bekommen, und das kann ich nicht einfach so hinnehmen. Es ist eben nicht meine Art, mich von Unhöflichkeit und schlechtem Benehmen einschüchtern zu lassen. Außerdem habe ich tatsächlich Fehler begangen, die ich wiedergutmachen will. Und letztendlich…« Sie hob den Kopf. »Mir tun die Kranken leid. Ich bin Ärztin. Ich habe einen Schwur geleistet, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um Leiden zu lindern oder zu heilen. Davon kann ich mich nicht lösen. Ich weiß, was ich kann. Ich bin eine gute Chirurgin und weiß viele Dinge, von denen diese alten Tattergreise noch nie gehört haben. Gemeinsam könnten wir den armen Geschöpfen, die dort auf ihren Bettgestellen dahinvegetieren, sicherlich viel besser helfen.« Beatrice machte eine kurze Pause. Dann lächelte sie grimmig. »Außerdem will ich diesen arroganten Holzköpfen beweisen, dass nicht sie allein die Wahrheit gepachtet haben, sondern dass es auch jenseits der chinesischen Grenzen den einen oder anderen klugen Menschen gibt.«
Dschinkim sah sie an, und seine Lippen umspielte ein Lächeln. »Das waren die Worte eines Kriegers«, sagte er und nickte anerkennend. »Du hast mir aus dem Herzen gesprochen. Und ich schwöre dir, ich werde dir helfen und dich bei deinem Vorhaben unterstützen, so gut ich es vermag.«
Er nahm ihre Hand und drückte sie. Seine Hand war rau, kräftig und voller Schwielen vom Griff des Schwerts und den Zügeln. Es war die eines Kriegers.
Sieh an, er kann sogar nett sein, dachte Beatrice und blickte in seine leuchtenden katzengrünen Augen, als würde sie ihn zum ersten Mal sehen. Ob er wohl verheiratet ist?
Dieser Gedanke kam so plötzlich, dass Beatrice über sich selbst erschrak und sich gleich darauf in Grund und Boden schämte. Vermutlich war dies die Wirkung des durch die Schwangerschaft gründlich veränderten Hormonspiegels. Vielleicht handelte es sich um einen Atavismus, ein Überbleibsel aus der Steinzeit, als schwangere Frauen noch einen Mann brauchten, um sie und ihre Neugeborenen vor Raubtieren und den Männern fremder Stämme zu beschützen. Ob Dschinkim ihre Gedanken gelesen hatte? Er ließ ihre Hand abrupt los und wandte sich verlegen ab.
»Wir sollten Maffeo abholen und wieder nach Hause gehen«, sagte er. Seine Stimme klang seltsam heiser.
»Ja, das ist eine gute Idee«, erwiderte Beatrice und kam sich ziemlich dumm vor. Aber sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte.
Sie schickten einen der herumlaufenden Diener in den Garten, und wenig später kehrte dieser mit Maffeo zurück. Um Dschinkim nicht mehr ansehen zu müssen, musterte Beatrice den alten Mann mit besonderer Aufmerksamkeit. Die Ruhe schien ihm gut getan zu haben. Er war zwar immer noch ein wenig blass, aber er wirkte nicht mehr so grau und angegriffen wie noch vor wenigen Stunden.
Trotzdem, morgen werde ich mit Li Mu Bai über Maffeo sprechen, nahm sich Beatrice fest vor.
Den Heimweg legten sie in überaus gemächlichem Tempo zurück, als hätte keiner von ihnen es besonders eilig, wieder nach Hause zu kommen. Dschinkim begleitete sie sogar bis vor die Tür zu ihren Gemächern.
Zu ihrer großen Überraschung stand Marco vor der Tür und schien auf sie zu warten. Er lehnte so betont lässig an der Wand, dass er in anderer Kleidung, mit Sonnenbrille und Zigarette ohne Schwierigkeiten eine Rolle in einem Mafiafilm hätte übernehmen können. Seltsamerweise freute sie sich nicht, ihn zu sehen.
Ich fürchte, das ist heute nicht mein Tag, dachte sie und spürte, dass die Kopfschmerzen, die wie durch Zauberhand verschwunden waren, nun doch wiederkamen. Es wäre ja auch zu schön gewesen.
Auch Dschinkim neben ihr versteifte sich, und Maffeo stieß einen tiefen Seufzer aus. Niemand schien sich über Marcos unerwartetes Auftauchen zu freuen.
»Marco«, begrüßte Maffeo seinen Neffen ohne jede Begeisterung. »Was machst du denn hier?«
Der junge Venezianer schnäuzte sich noch einmal mit einem Tuch, ließ es fallen und löste sich von der Wand. Elegant und geschmeidig wie ein Raubtier kam er ihnen ein paar Schritte entgegen.
»Onkel, es freut mich, Euch bei guter Gesundheit zu sehen«, sagte er und ergriff Maffeos Hände, als hätte er die kühle Begrüßung nicht registriert. Vielleicht hatte er es tatsächlich überhört. Oder aber sein Ego war stark genug, um mit solchen Kleinigkeiten wie einer Abfuhr fertig zu werden. »Ich war in Sorge um Euch, verehrter Onkel. Als ich in Euren Gemächern nach Euch fragte, hat mir Euer Diener berichtet, dass Ihr Euch zum Haus der Heilung begeben habt.«
»Ja, wir hatten dort einen Auftrag des edlen Khubilai Khans zu erfüllen«, erwiderte Maffeo. »Aber du hast doch nicht etwa auf mich gewartet, nur um dich nach meinem Befinden zu erkundigen?«
Marco lachte. Sein Lachen klang angenehm und hinterließ ein wohliges Prickeln auf der Haut, wie perlender Champagner in einem kostbaren Kristallglas.
»Tatsächlich, Onkel, Ihr habt mich ertappt«, erwiderte er belustigt und verneigte sich. »Euer Spürsinn hat Euch nicht betrogen. Zu meiner Schande muss ich zugeben, dass es wirklich nicht meine vorrangige Absicht war, mich von Eurem Wohlergehen zu überzeugen. In Wahrheit bin ich gekommen, um der überaus reizenden Beatrice meine Aufwartung zu machen. Ich grüße Euch, verehrte Beatrice.«
Er wandte sich Beatrice zu, ergriff ihre Hand und führte sie an seine Lippen. Wieder spürte sie lediglich den warmen Hauch seines Atems auf ihrem Handrücken. Doch diesmal gab es dabei einen seltsamen zischenden Laut, der sie irritierte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Beatrice begriff, dass nicht Marco, sondern Dschinkim diesen Laut ausgestoßen hatte.
Vermutlich, weil er immer noch nicht begrüßt worden ist, dachte Beatrice. Es war eine weitere Zurückweisung für den Bruder des Kaisers an einem insgesamt nicht besonders erfreulichen Tag.
»Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen«, fuhr Marco fort und bedachte Beatrice mit einem Lächeln, das man mit gutem Gewissen als unwiderstehlich bezeichnen konnte. Wenigstens beinahe, denn der wohlige Schauer, der bisher jedes Mal ihren Puls beschleunigt hatte, blieb diesmal aus. »Würdet Ihr mir erneut die Ehre erweisen, mit mir zu speisen?«
Das war ein verlockendes Angebot. Immer noch dachte sie gern an den amüsanten Nachmittag zurück, den sie in Shangdou mit Marco verbracht hatte. Doch dann fiel ihr Blick auf das Tuch, das Marco fallen gelassen hatte. Beatrice erstarrte, als sie erkannte, dass es sich um jenes Tuch handelte, das er gestern mit solcher Inbrunst und Freude von der Tochter des Khans entgegengenommen hatte. Sie sah Marco wieder an. Plötzlich kam ihr sein Lächeln falsch und aufgesetzt vor. Und in seinen Augen schien es hinterlistig zu funkeln.
»Erinnert Ihr Euch noch, wie viel Vergnügen wir an jenem Tage hatten?«
Beatrice wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken. Was Maffeo bei dieser zweideutigen Bemerkung dachte, konnte sie sich gut vorstellen. Und Dschinkim…
»Selbstverständlich erinnere ich mich an unsere nette Unterhaltung«, sagte sie und entzog Marco ihre Hand. Zu ihrer eigenen Überraschung gelang es ihr diesmal ganz leicht. »Dennoch, es tut mir unendlich leid, aber ich kann heute nicht mit Euch speisen. Ich habe einen anstrengenden Tag im Haus der Heilung hinter mir, und der weise Li Mu Bai hat mir Ruhe verordnet. Es geht um das Wohl meines ungeborenen Kindes. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als um Euer Verständnis zu bitten. Doch ich bin sicher, es wird Euch nicht schwer fallen, andere anregende Gesellschaft zu finden.«
Für den Bruchteil einer Sekunde verengten sich Marcos Augen zu schmalen Schlitzen, und sein Lächeln wirkte ein wenig verkniffen. Von einer Frau einen Korb zu erhalten war offensichtlich eine ganz neue Erfahrung für ihn.
»Natürlich liegt mir Euer Wohlergehen am Herzen«, erwiderte er schließlich und versuchte es erneut mit der Wirkung seines Lächelns. »Also werde ich mich zurückziehen und auf eine andere Gelegenheit hoffen. Zum Beispiel auf morgen.«
Er lächelte so herausfordernd, dass Beatrice fast schlecht wurde. Wie hatte sie jemals auch nur einen Gedanken an diesen Kerl verschwenden können.
»Auch das kann ich Euch leider nicht versprechen«, erwiderte sie kühl. Seltsam, sein Charme, der ihr noch gestern Abend die Knie weich werden ließ, schien heute überhaupt keine Macht mehr über sie zu haben. Woran das wohl liegen mochte? »Khubilai Khan hat verfügt, dass ich in den kommenden Tagen regelmäßig den anderen Ärzten im Haus der Heilung zur Hand gehen soll. Ich vermute, dass ich viel zu tun haben werde und mir wenig Zeit für Vergnügen und Zerstreuung bleiben wird. Leider.«
Doch wenn Beatrice geglaubt hatte, dass Marco jetzt voll verletzter Eitelkeit von ihr ablassen würde, hatte sie sich getäuscht. Der junge Venezianer wurde nicht wütend. Im Gegenteil. Nachdem er seinen ersten Schock über ihre Zurückweisung verdaut hatte, schien er plötzlich Gefallen an diesem für ihn neuen Spiel zu finden. Sein Lächeln gewann an Selbstbewusstsein zurück.
»Ja, sehr bedauerlich. Ich wünsche Euch eine angenehme Ruhe, Beatrice. Erholt Euch von den Strapazen. Doch nehmt diesen Ring als Geschenk von mir, als Zeichen meiner Hochachtung und Verehrung für Euch.« Er zog einen Ring von einem seiner Finger und drückte ihn Beatrice in die Hand, wobei er wie zufällig ihre Finger streichelte. »Sobald Ihr Euch wieder kräftig genug fühlt, um Besuch zu empfangen – und Eure vielfältigen Aufgaben dies zulassen –, sendet mir durch einen Boten diesen Ring. Dann werde ich mit Freuden zu Euch eilen. Ich wohne ja nicht weit entfernt. Ich wünsche Euch eine gute Nacht.«
Er verbeugte sich galant und ging mit schnellen Schritten von dannen. Alle drei sahen Marco hinterher, und Beatrice glaubte sowohl Maffeo als auch Dschinkim vor Erleichterung aufatmen zu hören.
»Der Pfeil hat sein Ziel verfehlt«, sagte Dschinkim, und etwas in seiner Stimme klang nach Triumph und Erleichterung.
»Aber glaube mir, der Jäger ist noch nicht zufrieden«, erwiderte Maffeo düster. »Er wird es wieder versuchen und nicht eher ruhen, bis er das Wild erlegt hat. Ich kenne Marco. Sei auf der Hut, Beatrice.«
»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, entgegnete sie. »Ich weiß, wie ich mich verhalten muss.«
Nachdenklich drehte Beatrice den Ring zwischen ihren Fingern. Es war ein schlichter goldener Reif mit einem großen, oval geschliffenen, wunderschönen, in allen Farben des Regenbogens schimmernden Opal. Ein kostbares Geschenk, über das sie sich riesig gefreut hätte, wenn jemand anders es ihr gemacht hätte. Sie steckte den Ring in ihre Tasche und war sich sicher, dass sie nie einen Boten damit losschicken würde.
»Dschinkim«, sagte sie und biss sich nachdenklich auf die Lippe. »Würde es dir viel ausmachen, mich morgen wieder ins Haus der Heilung zu begleiten?«
Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Mongolen. Er wirkte überrascht – aber auch erfreut.
»Selbstverständlich. Vorausgesetzt, du willst diese Strapaze wirklich erneut auf dich nehmen.«
»Natürlich, das habe ich doch schon gesagt. Aber so wie heute kann ich nicht arbeiten. Ich lebe erst seit kurzer Zeit in diesem Land und spreche die Sprache der Kranken nicht. Ich brauche einen Dolmetscher, einen Mittler zwischen mir und den Patienten. Darum bitte ich dich, mir einen zuverlässigen Dolmetscher zur Verfügung zu stellen, der mir bei meiner Arbeit behilflich sein kann.«
»Selbstverständlich werde ich deiner Bitte entsprechen«, erwiderte er und lächelte, sodass Beatrice ganz warm ums Herz wurde. »Ich werde meinen Neffen Tolui mitbringen. Er ist ein Sohn meines Bruders Khubilai. Und da er ein paar verschiedene chinesische Dialekte spricht, ist er für diese Aufgabe sicherlich gut geeignet.«