Die Reise verlief ohne Zwischenfälle. Der Zug bewegte sich von morgens bis abends ohne Unterbrechung in südöstliche Richtung. Abends, kurz vor Einbruch der Dämmerung, wurde das Lager aufgeschlagen und war am folgenden Morgen noch vor Sonnenaufgang wie durch Zauberei verschwunden. Tagsüber aßen und tranken sie auf ihren Pferden. Sie schliefen sogar im Sattel. Was Beatrice anfangs für unmöglich gehalten hatte, wurde ihr bereits nach zwei Tagen zur Routine. Nach zwei weiteren Tagen war der Muskelkater verschwunden, und die Strapazen des Ritts spürte sie überhaupt nicht mehr. Es war, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan, als auf dem Pferderücken durch die Welt zu reisen. Und wenn sie sich abends auf ihrem Lager ausstreckte und zudeckte, war sie nicht müder als an einem ganz normalen Arbeitstag im Krankenhaus. Auch ihrem Kind schien die Reise nichts auszumachen. Li Mu Bai untersuchte sie jeden Tag, setzte ihr Nadeln oder gab ihr eine seiner merkwürdigen Arzneien. Er war mit dem Ergebnis zufrieden und sie selbst auch. Ob es an Li Mu Bais Behandlung lag, konnte sie zwar nicht mit Sicherheit sagen, aber sie hatte mittlerweile weder Wehen noch geschwollene Beine. Sie fühlte sich so gut, dass Maffeo sie oft daran erinnern musste, dass sie schwanger war und sich nicht zu viel zumuten durfte. Hätte Beatrice die Zeit nicht genutzt, um mit Maffeos Hilfe ihre Kenntnisse der mongolischen Sprache zu verbessern, sie hätte sich sogar gelangweilt. Dennoch war sie heilfroh, als sie gegen Mittag des achten Tages endlich Taitu erreichten.
Ein kleiner Junge, einer der unzähligen Enkel des Khans, wie Beatrice vermutete, entdeckte die Stadt als Erster. Sie waren gerade dabei, eine Hügelkette zu überqueren, als der Junge sein Pferd zügelte, die Hand ausstreckte und so laut wie er konnte rief: »Seht nur, dort unten! Da ist Taitu! Wir sind bald da!«
Rasch verbreitete sich die Neuigkeit unter den Reisenden, und schon bald befand sich jeder, der auf einem Pferd unterwegs war, ebenfalls auf der Kuppe des Hügels. Auch Beatrice. Sie sah hinunter in das vor ihr liegende Tal und war sprachlos.
Als hätte ein Riese Juwelen aus einem riesigen Beutel geschüttet, lag die Stadt vor ihnen in der Mittagssonne. Die Dächer glänzten und funkelten in allen Farben – grün, gelb, blau und rot. Beatrice kam sich vor, als stünde sie auf der Empore des Kartenraums von Shangdou. Und doch war es anders. Schöner, gewaltiger, einfach atemberaubend. Marco hatte recht gehabt. So sehr sie sich auch bemüht hatten, die Arbeiter, die das Modell aufgebaut hatten, waren der Wirklichkeit nicht einmal annähernd gerecht geworden.
Allein die Ausmaße der Stadt waren unbeschreiblich. Taitu schien fast das ganze Tal vor ihnen auszufüllen. Von der Hügelkette aus konnte man die großen Gärten und Plätze deutlich sehen, die zu riesigen Tempelanlagen gehörten. Das Bild wurde bestimmt von den chinesischen Pagodendächern. Aber Beatrice konnte auch die fremd anmutenden Kuppeln und Minarette von Moscheen erkennen, Bauten, die sie an indische Tempelanlagen oder jüdische Synagogen erinnerten. Sogar einen Kirchturm entdeckte sie zwischen den im Sonnenlicht schimmernden Dächern. Und über allem thronte leuchtend blau und prachtvoll der kaiserliche Palast wie der wertvollste Saphir in einem Diadem. Khubilai hatte für alles gesorgt. Taitu sollte wirklich eine Stadt für alle werden, ein Pilgerziel für Menschen aller Nationen und Glaubensrichtungen. Trotzdem fühlte Beatrice sich plötzlich unbehaglich, ohne sich erklären zu können, weshalb. Taitu war unbestreitbar eine schöne, eine prächtige Stadt, ein Wunder der Architektur, und dennoch, irgendwie fehlte der fremdartige Charme und der beinahe überirdische Zauber, der Shangdou umgeben hatte. Ein Begriff schoss ihr durch den Kopf – Feng Shui. Vor einiger Zeit hatte sie eine Patientin behandelt, die ihren Lebensunterhalt als Feng-Shui-Beraterin verdiente. Diese Frau hatte ihr, vermutlich, um sie als Kundin zu gewinnen, ein paar grundlegende Dinge über die Prinzipien dieser chinesischen Lehre erzählt und anhand von Beispielen erläutert. Aber warum ihr das gerade jetzt beim Anblick von Taitu einfiel, konnte sie sich nicht erklären. Da war etwas mit blauen Dachziegeln gewesen – aber was? Vielleicht empfand sie auch deshalb eine Abneigung gegen die Stadt, weil eines Tages aus Shangdou Xanadu und aus Taitu Peking werden würde – das eine untrennbar mit Poesie, Märchen und Sehnsucht verbunden, das andere eine Stadt wie jede andere, ein millionengroßer Moloch und Regierungssitz der Kommunistischen Partei Chinas – nicht gerade eine Vorstellung, die zum Träumen anregte.
»Nun, was sagt Ihr, Beatrice?«, fragte Marco, der plötzlich mit seinem Pferd neben Beatrice aufgetaucht war. Vielleicht stand er aber auch schon länger da. Möglich war alles, so zerstreut und geistesabwesend, wie sie seit einiger Zeit war. »Wie gefällt Euch die Stadt?«
»Sie ist sehr schön«, antwortete Beatrice und merkte selbst, was für eine nichtssagende, bedeutungslose Phrase das war. Natürlich war Taitu schön, rein oberflächlich betrachtet. Aber sollte sie Marco von ihrem Gefühl erzählen, das sie beim Anblick der Stadt hatte? Wahrscheinlich würde er sie nur auslachen. Höchstens Maffeo würde sie verstehen können. Und natürlich Dschinkim.
»Noch eine Stunde, dann erreichen wir die Tore von Taitu«, sagte Marco und lachte. »Und dann lernt Ihr die wahren Wunder der Stadt kennen.«
Er gab seinem Pferd einen Tritt in die Flanken, und Beatrice folgte ihm.
»Die Boten sind bereits unterwegs in die Stadt, um deine Ankunft anzukündigen, großer Khan und Gebieter«, sagte Dschinkim und verneigte sich im Sattel.
»Hör auf mit diesem vornehmen Geschwätz«, erwiderte Khubilai. Aber er klang nicht verärgert. Im Gegenteil. Seine Augen funkelten vor Vergnügen. Er schien sich wie ein Kind darauf zu freuen, endlich mit seinem Gefolge in Taitu einziehen zu können. »Sind wir nicht beide Mongolen? Sind wir nicht sogar Söhne desselben Vaters? Also nenn mich nicht nach meinem Amt, sondern bei meinem Namen, mein Bruder.«
Dschinkim betrachtete Khubilai. In mongolischer Kleidung und in aufrechter Haltung auf dem Pferd sitzend, den Bogen und den Köcher mit Pfeilen am Sattel, sah er wirklich nicht aus wie der Khan, der Beherrscher aller Mongolen und Chinesen, sondern wie einer von ihnen, wie ein einfacher Jäger, ein Pferdezüchter, ein Krieger – eben wie ein Mongole.
»Dein Wunsch ist mir Befehl, Khubilai!«
»Du kannst dich immer noch nicht mit dem Gedanken anfreunden, zukünftig in Taitu zu leben, hab ich recht?«
Dschinkim zögerte. Khubilai war zwar sein Bruder, aber er war auch der Khan, der keinen Widerspruch duldete und das Leben jedes einzelnen seiner Untertanen in seiner Hand hatte. Da bildete er, obgleich er der Bruder und Thronfolger war, keine Ausnahme. Und wer konnte schon sagen, welche Stimmen mit ihren Einflüsterungen das Herz des Khan vergifteten?
»Wie kommst du auf diesen Gedanken?«, fragte er.
Khubilai lachte. »O Dschinkim, du bist unverbesserlich. Sogar deinem eigenen Bruder misstraust du. Dabei brauchst du kein Wort zu sagen, es steht deutlich und für jeden sichtbar auf deiner Stirn geschrieben.« Khubilai seufzte. »Du hast eine tiefe Abneigung gegen die Stadt.«
»Du weißt, ich habe deinem Plan nie Steine in den Weg gelegt«, entgegnete Dschinkim. Er fühlte sich wie ein Mann, der über einen zugefrorenen See ritt und nicht wusste, ob das Eis ihn und sein Pferd wirklich tragen konnte.
»Du hast aber auch nie einen Hehl aus deiner Meinung gemacht«, erwiderte Khubilai. Dann sah er nachdenklich in die Ferne zu den schimmernden Dächern der Stadt. »Bin ich in deinen Augen wirklich so ein Narr? Bin ich töricht, nur weil ich Taitu zur Hauptstadt unseres Reiches ernannt habe?«
»Nein, du bist kein Narr, nur weltfremd.« Dschinkim atmete tief ein. Ihm war nicht wohl dabei, seinem Bruder so was zu sagen. Aber sollte er denn lügen? »Du willst mehr für die Menschen in diesem Reich, als sie bereit sind anzunehmen. Weder die Mongolen noch die Chinesen wollen die Einheit beider Völker wirklich. Und der Umzug nach Taitu…« Er schüttelte den Kopf. »Wir werden uns hier fühlen wie unerwünschte Fremde, wie lästige Eindringlinge. Außerdem fürchte ich, dass die Götter uns zürnen und uns verlassen werden.«
»Mein geliebter Bruder«, sagte Khubilai und legte Dschinkim eine Hand auf den Arm, »ich danke dir für deine Aufrichtigkeit. Ich weiß, die Sorge um unser Reich, unsere Sippe – und natürlich auch um mich – lässt dich misstrauisch und vorsichtig sein. Ich mache dir daraus keinen Vorwurf. Im Gegenteil, ich brauche dich und deine Skepsis, deinen Argwohn meinen Plänen und meinen Untertanen gegenüber, deine Ehrlichkeit. Du bist der einzige Mann an meinem Hof, bei dem ich sicher sein kann, dass er mir die Wahrheit sagt, dass Wort und Gedanken übereinstimmen. Deine Zweifel, deine Einwände lassen mich meine Pläne immer wieder überdenken, prüfen und verbessern. Aber was Taitu angeht, so irrst du dich. Es ist unsere Stadt. Wir haben sie gebaut, wir werden hier leben und herrschen. Dass die Häuser nicht mehr den Jurten unserer Großväter ähneln…« Er zuckte mit den Schultern. »Das Rad des Lebens dreht sich weiter. Alles verändert sich. Selbst Berge wandeln ihr Aussehen, und Flüsse ändern ihren Lauf. So auch das Aussehen und die Lebensumstände unseres Volkes. Aber unsere Seele wird sich nicht ändern. In unseren Herzen werden wir immer Jäger und Reiter bleiben. Und darum bin ich sicher, dass die Götter uns nicht verlassen werden. Bedenke, dass sie sich auch nie von unserem Großvater abgewendet haben, nicht einmal, als er das Land unserer Ahnen hinter sich gelassen und weit nach Westen vorgestoßen war.«
»Vielleicht hast du recht«, entgegnete Dschinkim leise. »Ich hoffe es. Ich hoffe es von ganzem Herzen. Und dennoch…«
»Dschinkim«, Khubilai legte ihm eine Hand auf die Schulter, »manchmal mache ich mir Sorgen um dich. Du bist ein Mann in der Blüte seiner Jahre, viel zu jung für so viel Schwermut. Hör auf meinen Rat, überlass die Sorgen den hundertjährigen Greisen, die ihr Leben bereits genossen haben. Such dir endlich ein Weib. Ein Mann braucht eine Frau, um seine Jurte mit ihr zu teilen und Söhne und Töchter zu zeugen. Erst dann hat das Leben Sinn.«
Dschinkim biss die Zähne zusammen und schluckte. Natürlich, eine Frau. Wenn Khubilai wüsste…
Er hatte eine Frau gehabt, einst, vor vielen Jahren. Sie war ein wunderbares Weib, schön, klug und stark. Und die Götter hatten sie mit einem Lachen gesegnet, das sogar Gewitterwolken vom Himmel vertreiben konnte. Er hätte ihr alles gegeben, für sie wäre er sogar gestorben. Alles hatte er mit ihr geteilt. Alles, nur nicht die Jurte. Denn obwohl sie sich liebten, wie ein Mann und eine Frau sich nur lieben können, so war es doch eine verbotene Liebe. Denn diese Frau hatte bereits Khubilai gehört. Wenn sie noch wie ihre Ahnen jagend durch die Steppe gezogen wären, hätte er es gewagt, seinem Bruder diese Liebe zu beichten. Er hätte sie gegen Pferde ausgelöst oder um sie gekämpft. Doch sie lebten nicht mehr wie ihre Vorväter. Khubilai war der Khan. Und dem Khan nahm man keine Frau weg. Deshalb hatten sie sich heimlich getroffen, Tag für Tag. Dschinkim fühlte sich dabei wie ein Dieb, ein Dieb, der die Liebe einer Frau stahl. Mehr als ein Jahr lang taumelte er wie ein Betrunkener zwischen unendlichem Glück und der Last seines Gewissens hin und her, bis sie schließlich bei der Geburt ihres ersten Kindes starb. Der Schmerz um diesen Verlust hatte ihn fast verrückt gemacht. Es war ihm nicht einmal erlaubt, offen um sie zu trauern. Und während Khubilai sich bereits mit anderen, neuen Frauen getröstet hatte, hatte er darüber nachgedacht, ob er ihr in den Tod folgen sollte.
In all den Jahren, die mittlerweile vergangen waren, hatte der Treuebruch an seinem Bruder Dschinkim bis in seine Träume verfolgt. Immer wieder hatte er sich gefragt, ob Khubilai etwas wusste. Und ob er sich nicht doch hätte erweichen lassen, wenn er ehrlich zu ihm gewesen wäre. Seit damals hatte er nie wieder eine Frau berührt. Er hatte keinen Schwur geleistet. Und doch war es wie ein Gelübde, eine stumme Abmachung zwischen ihm und den Göttern, um für seinen Frevel und seine Feigheit zu sühnen. Umso verwirrender war es für ihn, dass in der letzten Zeit immer wieder ein Gesicht in seinen Träumen auftauchte. Ein wunderschönes Gesicht, umrahmt von goldenem Haar mit Augen in der Farbe des Himmels. Es war das Gesicht einer starken, einer unabhängigen Frau. Und manchmal, wenn er aus seinen Träumen erwachte, ertappte er sich bei dem Wunsch, seine Hände durch dieses Haar gleiten zu lassen. Vielleicht hatte Khubilai recht. Vielleicht sollte er sich wirklich eine Frau nehmen. Aber diese Frau gehörte ebenfalls schon einem anderen. Und er wollte den gleichen Fehler nicht zum zweiten Mal begehen.
»Taitu liegt direkt vor uns«, sagte Dschinkim und nahm die Zügel wieder in die Hand. »Wenn wir uns beeilen, sind wir in weniger als einer Stunde dort.«
Und ohne seinen Bruder noch weiter zu beachten, trat er seinem Pferd in die Flanken und ritt den Hügel hinunter.
Nur wenige hundert Meter von den Toren entfernt, machten sie eine Stunde Rast. Beatrice, die sich darüber wunderte, weshalb sie so kurz vor dem Ziel stehen blieben, wurde von Marco aufgeklärt.
»Khubilai kann nicht wie ein abgerissener Pferdehirte in seine Hauptstadt einziehen. Das würde sein Volk niemals akzeptieren. Deshalb wird er seine Kleidung wechseln und eine Sänfte besteigen, wie es sich für den großen Khan geziemt.«
Und dann war es endlich so weit, die Karawane setzte sich wieder in Bewegung, Innerhalb kurzer Zeit erreichten sie Taitu.
Das riesige rot bemalte Tor war weit und einladend geöffnet. Unzählige rote Wimpel schmückten die Wehrmauern und flatterten lustig im Wind. Etwa ein Dutzend Männer in den steifen Roben der kaiserlichen Hofbeamten traten vor das Tor und kamen dem kaiserlichen Zug entgegen. Vor Khubilais Sänfte blieben sie stehen, knieten sich auf der staubigen Straße nieder und verneigten sich, bis ihre Stirnen den Boden berührten. Als sie sich wieder erhoben, kamen Tänzer und Musiker. Als rote und goldene Drachen verkleidet, tanzten sie zur schrillen Musik der Flöten und zum scheppernden Klang der Becken vor dem Kaiser her. Langsam, unendlich langsam, Zentimeter für Zentimeter schob sich das kaiserliche Gefolge in den Straßen Taitus vorwärts. Tausende von Menschen säumten ihren Weg, jubelten und kreischten, warfen Blumen und Reis auf die Vorüberziehenden. Die Nachfolgenden schoben und drängten von hinten, und doch ging es kaum vorwärts. Der Lärm war ohrenbetäubend, es war stickig, und Menschen und Tiere wurden immer nervöser. Die Fuchsstute legte ihre Ohren an und begann unruhig zu tänzeln. Trotz der Kälte begann Beatrice zu schwitzen. Sie hatte es aufgegeben, den Reis und die Blumen von ihrer Kleidung zu fegen. Sie blieben auf ihrer Mütze, ihren Handschuhen, ihren Armen, Beinen und ihrem Schoß liegen und deckten sie immer mehr zu. Den anderen erging es kaum besser.
Maffeo, der direkt vor ihr ritt, hatte mittlerweile sogar eine verblüffende Ähnlichkeit mit den Blumenfiguren auf der Insel Mainau.
Endlich kam der kaiserliche Palast in Sichtweite. Beatrice konnte kaum glauben, dass sie für den knappen Kilometer vom Tor bis hierher wirklich mehr als eine Stunde gebraucht hatten. Sehnsüchtig wünschte sie sich die Ruhe ihres Gemachs herbei – frische Kleidung, ein Bett, vielleicht eine Schale Tee. Aber vor allem Stille.
Sie hatten kaum die Tore des kaiserlichen Palastes hinter sich gelassen, als Beatrices Wunsch in Erfüllung ging. Mit einem Schlag verstummte der Lärm, und der ewige Blumen- und Reisregen hörte endlich auf. Es war ruhig. Nur noch die Rufe der Reisenden, das Klappern der Hufe auf dem Pflaster und das Wiehern und Schnauben der Pferde waren zu hören. Wie die Baumeister von Taitu das Kunststück fertiggebracht hatten, den Lärm der Stadt aus dem Palast auszusperren, war Beatrice ein Rätsel. Aber eines, für das sie dankbar war. Und im Stillen pries sie den ihr unbekannten Baumeister für sein Geschick und sein Genie.
Ein Diener eilte herbei und half ihr vom Pferd. Mühsam befreite sie sich von den Blumen und dem Reis, der sogar bis unter die Kleidung gekrochen war. Die anderen machten es ebenso. Einige schüttelten sich sogar wie nasse Hunde. Innerhalb kurzer Zeit war der Boden mit Blütenblättern und Reiskörnern bedeckt, sodass die Pferde knöcheltief darin versanken und ihr Hufschlag gedämpft war. Die Reismenge, die hier sinnlos am Boden zertreten wurde, hätte sicherlich ausgereicht, Hunderte von Menschen einen Monat lang zu ernähren. Und woher zu Beginn des Winters so viele frische Blumen kamen, konnte sich Beatrice auch nicht vorstellen. Wahrscheinlich hatte sie immer noch nicht den richtigen Begriff von den Ausmaßen der Macht und des Reichtums des Khans.
Als wäre sie lediglich Zuschauerin, sah Beatrice dem Treiben um sich herum zu. Jeder, der eintraf, schien genau zu wissen, was er tun sollte und wohin er gehörte. Sie hingegen kam sich hilflos und überflüssig vor. Deshalb war sie heilfroh, als sie endlich Maffeo zwischen den umherlaufenden Dienern wiederfand. Er wirkte müde und erschöpft und stand genauso verloren und hilflos in der Gegend herum, wie sie selbst sich fühlte.
»Maffeo, wie schön, dich zu sehen. Endlich ein bekanntes Gesicht!«, rief sie aus und trat zu ihm. »Was geschieht jetzt? Worauf warten wir?«
»Wir warten darauf, dass uns jemand unsere Gemächer zuweist«, sagte Maffeo und fuhr sich mit dem Ärmel seines Mantels über die Stirn. Beatrice entdeckte kleine Schweißperlen auf seiner Oberlippe, und irgendwie gefiel ihr seine Gesichtsfarbe nicht. Er war merkwürdig blass. Ob Maffeo krank war? »Gewiss wird der Khan gleich jemanden schicken.«
Na, hoffentlich, dachte Beatrice. Sie war nicht so optimistisch wie Maffeo. Wahrscheinlich hatte der Khan in diesem Augenblick ganz andere Dinge im Kopf, als sich ausgerechnet um die Gemächer von Maffeo und Beatrice zu kümmern. Er würde sie ganz einfach vergessen, und sie konnte es ihm noch nicht einmal übel nehmen. Sie rechnete fest damit, dass sie auf eigene Faust auf die Suche nach einem Quartier für die Nacht gehen würden. Und falls sich nicht einer der anderen Höflinge des alten Mannes und der schwangeren Frau erbarmen würde, müssten sie irgendwo in den Ställen nächtigen. Welch eine tolle Vorstellung, im Stroh zu schlafen, wo bestimmt Tausende abscheulicher Spinnen ihr Unwesen trieben.
»Ich hasse Spinnen«, sagte sie.
»Wie bitte?«, fragte Maffeo und warf ihr einen besorgten Blick zu. »Was hast du gesagt?«
»Onkel! Beatrice!«, erklang plötzlich Marcos Stimme. »Da seid ihr ja endlich! Ich habe euch schon überall gesucht.«
Er hatte bereits seine Reisekleidung gegen höfische Gewänder getauscht und wirkte so frisch und ausgeruht, als wäre er schon vor zwei Tagen in Taitu eingetroffen. Mit weit ausgebreiteten Armen kam er auf sie zu.
»Verehrter Onkel, verehrte Beatrice, willkommen in Taitu, der Hauptstadt des Kaisers«, sagte er, umarmte sie, als hätten sie lange Zeit als vermisst gegolten, und küsste sie auf beide Wangen. »Verzeiht meinen Überschwang, aber ich freue mich wirklich von ganzem Herzen, euch zu sehen. Ich hoffe, ihr habt die Strapazen der Reise gut überstanden?«
»Ja«, sagte Beatrice. Ihre Wangen brannten und kribbelten von seinen Küssen. Dabei waren es nichts als freundschaftliche Küsse. Küsse, wie sie zur Begrüßung unter Südeuropäern üblich waren und die sie selbst bislang verabscheut hatte. »Allerdings dröhnen mir immer noch die Ohren von dem entsetzlichen Lärm da draußen.«
Marco lachte. »Die chinesischen Begrüßungsfeierlichkeiten sind in der Tat recht eigenwillig. Auf diese lautstarke Weise vertreiben die Einwohner von Taitu die bösen Geister und wünschen Khubilai Glück und ein langes Leben. Ein ähnliches Spektakel veranstalten sie auch zum Neujahrsfest zum Ende des Winters. Wenn Ihr erst etwas länger hier seid, werdet Ihr Euch schon daran gewöhnen. Glaubt mir.« Er nahm Beatrices Hand. »Mir ist die Freude und die Ehre zuteil geworden, euch eure Gemächer zuweisen zu dürfen. Wenn ihr mich bitte begleiten wollt?«
Sie gingen prächtige Flure entlang, kamen an herrlichen Gärten vorbei und überquerten riesige Plätze. Bereits auf den ersten Blick war deutlich, dass der Palast in Taitu noch größer als der in Shangdou war. Größer, prächtiger, luxuriöser, ungeachtet der Tatsache, dass sich noch unzählige kostbare Vasen und Statuen in Kisten befanden, viele Möbel noch nicht aufgestellt und die meisten Wände noch kahl waren. Es hatte den Anschein, als hätten die Baumeister statt normaler Steine Juwelen und anstelle des Holzes pures Gold verwendet. Das war natürlich Unsinn. Trotzdem war die Pracht überwältigend, geradezu schwindelerregend.
»So, hier sind wir!«, rief Marco überschwänglich und deutete auf eine mit goldbemalten geschnitzten Drachen verzierte Tür. »Hier, hinter dieser Tür verbergen sich Eure Gemächer, verehrter Onkel. Hinter der nächsten Tür werdet Ihr wohnen, teure Beatrice. Die beiden Wohnungen sind miteinander verbunden. Und gleich dort gegenüber… Oh!« Er verneigte sich kurz. »Ihr entschuldigt mich?«
Mit leichten, beschwingten Schritten ging er dem jungen Mädchen entgegen, das offensichtlich vor Marcos Tür gewartet hatte. Wie hübsch es war, das konnte man sogar von Weitem deutlich erkennen. Das höchstens achtzehnjährige Mädchen war eine richtige Schönheit. Marco verbeugte sich vor ihm, ergriff seine Hand und küsste sie.
»Wer ist das?«, fragte Beatrice und merkte zu ihrer eigenen Scham, dass ihr der Anblick einen Stich versetzte. War sie etwa eifersüchtig? Aber das war doch wohl eine Ungeheuerlichkeit. Sie war immerhin eine erwachsene, mitten im Leben stehende Frau.
»Das ist Yu Shu Lien«, antwortete Maffeo bereitwillig. »Sie ist eine Tochter des Khans.«
Beatrice runzelte die Stirn. Sie hatte zwar immer noch Schwierigkeiten damit, die Chinesen und Mongolen zu unterscheiden, aber eine solche Schönheit wäre ihr bestimmt aufgefallen, wenn sie ihr in Shangdou über den Weg gelaufen wäre.
»Ich habe sie noch nie zuvor gesehen.«
Maffeo warf ihr einen prüfenden Blick zu.
»Du kannst sie auch gar nicht gesehen haben. Sie lebt seit ihrer Geburt in Taitu. Ihre Mutter ist Chinesin, eine der Nebenfrauen des Khans und Tochter jenes Baumeisters, nach dessen Plänen Taitu errichtet worden ist.«
Ohne genau zuzuhören, beobachtete Beatrice, wie die junge Chinesin Marco ein zartes, fast durchsichtiges buntes Tuch überreichte. Sie konnte nur vermuten, dass es sich um ein von der Tochter des Khans eigenhändig besticktes Seidentuch handelte, ein Glücksbringer für den Geliebten, ein Liebespfand, ein…
Mit sehr gemischten Gefühlen sah Beatrice, wie Marco das Tuch küsste. Eine anmutige Röte überzog die Wangen der jungen Chinesin. Natürlich war so ein junges, unerfahrenes Ding machtlos gegen den Charme dieses Mannes. Und wie Männer eben sind, nutzte er es schamlos aus. Aber was konnte ein Mann schon mit einem kaum achtzehnjährigen Kind anfangen?
Mach die Augen auf, Bea, ermahnte eine innere Stimme sie. Das Mädchen ist wunderschön. Im Vergleich zu ihr siehst du aus wie eine alte mottenzerfressene Vogelscheuche. Außerdem ist sie wohlhabend. Immerhin ist sie eine Prinzessin. Sei doch mal realistisch. Im Grunde bist du sowieso viel zu alt, um eine Affäre mit Marco Polo zu beginnen.
»Komm, Beatrice«, sagte Maffeo und berührte sanft ihren Arm. »Lass uns jetzt schlafen gehen. Wir haben eine anstrengende Reise hinter uns. Außerdem solltest du an dein ungeborenes Kind denken.«
Der Blick, mit dem er sie bedachte, sprach Bände. Beatrice fühlte sich ertappt und wurde rot. Maffeo hatte natürlich recht. Was sollte ein junger Mann wie Marco mit einer alten, noch dazu schwangeren Frau anfangen? Beatrice seufzte und betrat ihre Gemächer, und Marco merkte es noch nicht einmal.
Nur kurze Zeit später stand Beatrice vor dem Fenster in ihrem Schlafgemach, das noch luxuriöser ausgestattet war als ihr Gemach in Shangdou. Doch sie verschwendete keinen Blick an die herrlichen, unendlich kostbaren Lackmöbel, die kunstvoll geschnitzten Kassettendecken und die zarten seidenen Lampenschirme. Sie dachte nach. Es waren unangenehme, schmerzhafte Gedanken über Eitelkeit, verletzten Stolz, das Älterwerden und ähnliche Dinge, als es zaghaft an der Tür klopfte.
»Komm herein!«, sagte Beatrice und bereitete sich darauf vor, erneut Mings grimmiger, hasserfüllter Miene gegenüberzutreten. Sie musste an Maffeos Warnung denken. Die Alte war ihr feindselig gesonnen. Und irgendwie musste sie sich verteidigen.
Doch zu ihrer großen Überraschung und Freude war es nicht Ming, sondern das junge Mädchen, das sich vor einiger Zeit durch ein Missgeschick beide Beine verbrannt hatte.
»Was willst du?«, fragte Beatrice freundlich und hoffte, dass Maffeo ihre Bitte nicht vergessen und Ming tatsächlich aus ihren Diensten entlassen hatte.
»Ich komme, um Euch zu dienen, Herrin«, sagte das Mädchen und senkte schüchtern seinen Blick. »Der Herr sagte, dass Ihr mit Ming nicht mehr zufrieden seid. Und deshalb schickt er mich. Wenn es Euch nicht recht ist, gehe ich und werde…«
»O nein, bleib nur!«, unterbrach Beatrice sie. Sie musste sich sehr zusammennehmen, um nicht vor Freude laut in die Hände zu klatschen. »Das ist wirklich eine angenehme Überraschung. Wie ist dein Name?«
Das Mädchen hob seinen Kopf und lächelte zaghaft. »Jen, Herrin. Ich bringe Euch das Nachtgewand.« Sie deutete auf den Stapel Wäsche, den sie im Arm hielt. »Darf ich Euch beim Umkleiden behilflich sein?«
Geschickt machte sich Jen an die Arbeit. Dabei ging sie so vorsichtig und behutsam zu Werke, dass Beatrice nicht einmal ihre Hände spürte. Als sie schließlich fertig war und Beatrice gewaschen und gekämmt im Nachtgewand auf dem Bett saß, trat sie ein paar Schritte zurück und verbarg ihre Hände in den weiten Ärmeln ihres Gewands.
»Habt Ihr noch einen Wunsch, Herrin?«
»Nein, danke. Du hast deine Arbeit sehr gut gemacht, ich bin sehr zufrieden. Du kannst gehen.«
»Der Herr sagte, morgen sollt Ihr Eure Arbeit im Haus der Heilung beginnen. Er wird Euch morgen früh kurz nach Sonnenaufgang abholen, um Euch dorthin zu begleiten.«
»Gut. Danke, dass du es mir gesagt hast«, erwiderte Beatrice und seufzte. Natürlich hatte sie gewusst, dass die Aufgabe, Verletzte zu behandeln und Khubilais Ärzte in westlicher Medizin zu unterweisen, in Taitu auf sie zukommen würde. Sie hatte sich sogar schon darauf gefreut. Doch insgeheim hatte sie sich gewünscht, dass sie noch ein paar Tage Zeit zur Erholung und Eingewöhnung in diese neue, fremde Stadt gehabt hätte.
Es soll wohl nicht sein, dachte Beatrice. Es gibt Menschen, denen die Arbeit immer hinterherläuft, egal, wo sie sich verstecken. Da scheinen noch nicht einmal Zeitsprünge zu helfen.
Sie sah auf. Jen schien immer noch nicht gehen zu wollen. Sie stand vor der Tür und knetete sichtlich nervös ihre Hände.
»Möchtest du mir noch etwas sagen?«
»Ich wollte Euch danken, Herrin. Ihr habt mir geholfen und meine Beine…«
»Du brauchst mir nicht zu danken«, entgegnete Beatrice. »Hauptsache ist, dass es dir wieder gut geht.«
»Ich diene Euch wirklich gern, Herrin«, sagte Jen und errötete. »Darf ich… Darf ich morgen wiederkommen?«
Beatrice lächelte. Was für ein Unterschied zur arroganten, mürrischen Ming. Es war eine Wohltat.
»Natürlich. Es wäre mir eine große Freude.«
Jen strahlte über das ganze Gesicht, verbeugte sich und verschwand so leise, dass Beatrice es kaum bemerkte.