Beatrice saß zusammengesunken auf ihrem Pferd. Sie durchquerten eine eintönige Landschaft – Hügel, Gras, nur vereinzelte Bäume oder Büsche, hin und wieder Gruppen von Felsen. Ganz selten sahen sie in der Ferne ein paar dicht zusammenstehende Bäume. Sie sprachen nicht viel miteinander, und der Ritt wäre mit Sicherheit langweilig gewesen, wenn Tolui sie nicht so zur Eile angetrieben hätte. Er hatte immer bestimmte Ziele vor Augen, die sie bis zum Abend erreichen sollten. Mal war es eine ungewöhnliche Felsformation, mal ein schützender Überhang oder eine kleine Schlucht, ein anderes Mal ein Bachlauf. An jedem dieser Orte gab es geheime Verstecke – gut getarnte, in die Erde vergrabene Krüge und Lederbeutel mit Wasser und Vorräten an Dörrobst und Trockenfleisch. Eine überaus geniale Erfindung der Mongolen, die auf diese Weise nur mit leichtem Gepäck und wenig Vorräten reisen mussten. Allerdings waren die Distanzen zwischen den Verstecken für kräftige Reiter geplant, nicht für hochschwangere Frauen. Um die einzelnen Etappen innerhalb der wenigen Stunden zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang zurücklegen zu können, galoppierten sie ohne Pause über die Hügel. Lediglich zur Mittagszeit machten sie eine kurze Rast, um den Tieren eine Atempause zu gönnen und sich selbst zu stärken. Beatrice kam sich vor, als würde sie an einem mehrtägigen Querfeldeinrennen teilnehmen.
Von Tag zu Tag wurde es kälter. Ein eisiger Wind wehte ihnen ins Gesicht. Und je weiter sie nach Norden vordrangen, umso mehr mischte sich Eis mit hinein, das in die Haut stach wie winzige Nadeln. Beatrice fror. Trotz der dicken, mit Fell gefütterten Fäustlinge waren ihre Hände steif vor Kälte. Und abends war es sogar noch schlimmer. Jeden Abend machte Tolui ein Feuer, das so winzig war, dass es gerade mal die Dunkelheit, aber kaum die Kälte vertreiben konnte. An diesem Feuer saßen sie dicht nebeneinander, aßen Dörrobst und Trockenfleisch, das nach Handschuhleder schmeckte und zäh wie Schuhsohlen war, und tranken dazu schales, abgestandenes Wasser. Nach jeder Mahlzeit betete Beatrice inständig darum, dass die Krüge und Beutel in den Verstecken fest verschlossen und für Ratten und anderes Getier unzugänglich gewesen waren. Und jeden Abend und jeden Morgen rechnete sie mit Fieber, Magen- und Darmkrämpfen.
Nachdem sie ihr karges Mahl verzehrt hatten, legten sie sich in dem kleinen Reisezelt schlafen. Es hatte zwar den Vorteil, dass es leicht zu transportieren und aufzubauen war, aber es war kaum mehr als eine der sogenannten »Strandmuscheln« – jene kleinen halbrunden Zelte, die man im Sommer gehäuft an den Stränden der Ostsee zu sehen bekommt. Eine Strandmuschel mit einem Vorhang aus Fell. Das Zelt war so klein, dass sie sich noch nicht einmal richtig ausstrecken konnten. Und sie lagen so eng nebeneinander, dass es keinem von beiden möglich war, sich umzudrehen, ohne dabei den anderen zu stören. Tolui schien das nicht zu merken. Er schlief, kaum dass er sich hingelegt hatte. Doch Beatrice fand nur wenig Schlaf, obwohl sie so müde und erschöpft war von dem anstrengenden Ritt, dass sie sich fast nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Immer wieder wachte sie auf und lag dann lange Zeit mit offenen Augen und angewinkelten Beinen auf dem Rücken und traute sich nicht einmal, sich umzudrehen. Regungslos lauschte sie Toluis gleichmäßigen tiefen Atemzügen, spürte die Bewegungen ihres Kindes und versuchte, nicht an ihre heftig schmerzende Wirbelsäule, Wadenkrämpfe und Atemnot zu denken, weil das Kind auf das Zwerchfell drückte. Bis sie dann endlich wieder für kurze Zeit einschlief.
Wenn sie so wach lag und die Winterstürme an den Zeltwänden rüttelten, fragte sie sich, weshalb Maffeo ausgerechnet sie auf diese Reise geschickt hatte. Hätte Tolui nicht allein den Stein holen und nach Taitu bringen können? Sie war schwanger! Wenn sie Pech hatte, würde das Kind hier, irgendwo im Nichts, mitten in der Steppe in dieser eisigen, zugigen Strandmuschel zur Welt kommen. Fernab von frischem Wasser, warmer Kleidung und medizinischer Hilfe. Beatrice überlegte, ob sie Tolui vorsichtshalber in die Grundlagen der Geburtshilfe einweisen sollte. Aber obwohl alle Argumente, gute Argumente, dafür sprachen, tat sie es doch nicht. Warum sie sich letztlich dagegen entschied, entzog sich sogar ihrer eigenen Kenntnis. Vermutlich war es nichts anderes als kindischer Aberglaube, die Vorstellung, dass ein Ereignis nicht eintrifft, solange man nicht laut darüber spricht. Vielleicht lag es aber auch an der Schriftrolle, die sie auf dem Markt von der alten Chinesin bekommen hatte. Als sie aufgebrochen waren, hatte Beatrice das Stück Papier wieder in der Manteltasche gefunden. Sie hatte es dort vergessen. Zögernd hatte sie die Schnur entfernt und sich gefragt, ob sie es nicht besser wegwerfen sollte. Doch wie meistens hatte die Neugier gesiegt. Auf dem kleinen, kaum fünf mal fünf Zentimeter großen Papier waren nur zwei Schriftzeichen zu sehen. Beatrice kannte sich in der chinesischen Schrift nicht aus, und doch machten sie auf sie den Eindruck, als wären sie hastig hingekritzelt worden. Als sie Tolui das Papier am Abend im Zelt gezeigt hatte, hatte er mit den Schultern gezuckt.
»Man kann es nur schwer lesen«, hatte er gesagt. »Das erste sieht aus wie das Zeichen ›Jie‹. Das heißt so viel wie ›Der grollende Donner und der nährende Regen offenbaren sich‹. Sofern die Alte das Orakel des I Ging befragt hat, hat es irgendetwas mit Gewalt zu tun. Und das zweite scheint das Zeichen ›Ji Ji‹ zu sein. Es bedeutet ›Das furchtlos fließende Wasser wird von der feurigen Lebenskraft genährt‹.
Wenn ich mich richtig erinnere, so kann man es so auslegen, dass man einen Fluss überquert oder die letzte Stufe der Leiter im Ungewissen liegt.«
Draußen hatte der Wind geheult, und im Zelt war es Beatrice plötzlich kalt geworden. Noch kälter als zuvor.
»Glaubst du, dass an diesem Orakel etwas Wahres dran ist?«, hatte sie Tolui gefragt.
Der junge Mongole hatte wieder mit den Schultern gezuckt. »Das I Ging ist eine seltsame Sache. Die Chinesen sind seltsam. Sie schwätzen viel zu viel. Außerdem gibt es unter Wahrsagern, Schamanen und Magiern viele Scharlatane, die nichts von ihrem Handwerk verstehen und den ahnungslosen Ratsuchenden nur das Geld aus der Tasche locken wollen. Doch ich gebe zu, dass man nie wissen kann, an wen man gerät. Allerdings würde ich mir an deiner Stelle nicht den Kopf darüber zerbrechen. Vielleicht wollte sich die Alte nur einen Scherz mit dir erlauben. Chinesen sind so.«
Er lächelte Beatrice an und legte ihr eine Hand auf den Arm. Trotzdem kam es ihr so vor, als wollte er sie nur trösten. So wie es manche Ärzte tun, wenn sie einem durch Unfall Querschnittsgelähmten sagen: »Kopf hoch, das wird schon wieder.«
In jener Nacht hatte sie überhaupt nicht schlafen können. Immer wieder hatte sie an das kleine Stück Papier und die seltsamen Zeichen denken müssen. Es klang so, als hatte die Alte ihr mitteilen wollen, dass sie im Laufe der nächsten Zeit eines gewaltsamen Todes sterben würde. Und auf diese Erkenntnis hätte sie gern verzichtet.
Zehn Tage waren sie mittlerweile unterwegs. Beatrice fragte sich, wie weit sie wohl noch reiten mussten. Inzwischen war sie in der vierzigsten oder einundvierzigsten Woche schwanger. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihr Baby hier in der Steppe zur Welt bringen würde, vergrößerte sich mit jedem Tag, den sie sich weiter von Taitu entfernten. Im Grunde genommen war es ohnehin ein Wunder, dass durch die Anstrengungen nicht schon längst die Wehen eingesetzt oder die ständigen Erschütterungen die Fruchtblase nicht bereits zum Platzen gebracht hatten. Sie konnte nur hoffen, dass sich das Kind rechtzeitig in die Schädellage drehen würde, um eine weitgehend komplikationslose Geburt zu gewährleisten. Aber sie rechnete nicht damit. Wie sie ihr Glück kannte, würde sie das Kind in Steißlage zur Welt bringen müssen. Was hatten die Schriftzeichen gesagt? Gewalt und ein Lebensweg ins Ungewisse. Vielleicht war damit ja ein Kaiserschnitt ohne Narkose und sterile Bedingungen, durchgeführt von einem Unerfahrenen, gemeint.
»Gleich sind wir da«, sagte Tolui und deutete auf einen Hügel, der sich in etwa fünfhundert Metern Entfernung vor ihnen erhob. »Dort ist das Grab meines Urgroßvaters, dem Ahnen meiner Sippe, dem großen Herrscher Dschingis Khan.«
Beatrice strengte ihre Augen an. Die Dämmerung setzte allmählich ein, leichter Schneefall behinderte die Sicht. Trotzdem glaubte sie, dass nicht die Witterung schuld daran war, dass sie nichts erkennen konnte. Wo Tolui hinzeigte, gab es kein Gebäude, nichts, das einem Grabmal ähnlich war. Dort war nur der Hügel. Zugegeben, er war vielleicht der höchste in der Umgebung, aber ansonsten ebenso baumlos und grasbewachsen wie alle anderen Hügel, die sie in den vergangenen Tagen überquert hatten. Doch vielleicht konnte sie das Grab auch nur deshalb nicht sehen, weil es sich auf der ihnen abgewandten Seite des Hügels befand.
»Komm, Beatrice«, sagte Tolui und spornte sein Pferd erneut an. »Ich kann es kaum noch erwarten.«
Beatrice folgte ihm, getrieben von der Aussicht, dass ihre beschwerliche Reise nun endlich ein Ende fand und sie am Ziel angekommen waren. Bald, spätestens morgen, würde sie den Stein der Fatima in ihrer Hand haben. Sie würden nach Taitu zurückkehren, den Mord an Dschinkim aufklären und Maffeo aus dem Kerker befreien. Und dann würde alles wieder gut werden. Sie würde ihr Kind zur Welt bringen, unterstützt von Li Mu Bai, freundlichen Dienern und vielleicht einer Hebamme, falls es am Hof des Khans so etwas gab, und dann…
Jie und Ji Ji, dachte Beatrice. Ein gewaltsamer Tod. Das steht dir bevor. Denke gar nicht erst an einen glücklichen Ausgang dieses Abenteuers, dann kannst du nur positiv überrascht werden.
Beatrice war so in ihren düsteren Gedanken versunken, dass sie fast an Tolui vorbeigeritten wäre, der am Fuße des Hügels vor ein paar herumliegenden Felsbrocken stehen geblieben war.
»Hier ist es«, sagte er und strahlte über das ganze Gesicht, als hätte er das Ende des Regenbogens erreicht und dort den sprichwörtlichen Topf voller Gold gefunden.
»Hier?« Beatrice war fassungslos.
Das sollte das Grab des Dschingis Khans sein? Keine prächtige Grabkammer, keine kostbaren Schwerter, keine Schätze, kein Sarkophag, nichts als ein paar Steine? Die Grabstätte des großen, berühmten Herrschers hatte sie sich ganz anders vorgestellt. Es fiel ihr schwer, ihre maßlose Enttäuschung vor Tolui zu verbergen. Für ihn war dieses Grab gleichbedeutend mit einem Heiligtum, auch wenn es nicht viel mehr als ein Steinhaufen war.
»Es ist schön«, sagte Beatrice und hoffte, dass er die Lüge nicht bemerkte. »Wo wollen wir heute unser Zelt aufschlagen?«
»Wir brauchen unser Zelt nicht. Heute werden wir im Schutze des Grabes übernachten.«
Beatrice schluckte und fragte sich, ob es sich dabei um ein mongolisches Ritual zu Ehren des toten Herrschers handelte. Wenn ja, so durfte sie nichts dagegen sagen. Aber die Vorstellung, bei einsetzendem Schneefall mitten im Freien zu schlafen, verursachte ihr Magendrücken. Wieder fiel ihr die alte Chinesin auf dem Markt ein. Sie hatte ihr einen gewaltsamen Tod prophezeit – war damit etwa das Erfrieren gemeint?
»Glaubst du wirklich, dass es ratsam ist, wenn wir ohne Zelt zwischen den Steinen nächtigen?«, fragte Beatrice und hoffte inständig, dass Tolui sich überzeugen ließ, doch noch das Zelt aufzustellen – wenigstens für sie. »Es ist kalt. Und wer weiß, wie viel Schnee heute Nacht noch fallen wird.«
Tolui runzelte die Stirn und sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren oder würde plötzlich Altägyptisch sprechen.
»Ich weiß nicht, was du…«, begann er und brach ab. Plötzlich glättete sich seine Stirn, in seinen Augen leuchtete es auf, und dann fing er an zu lachen. Er lachte so sehr, dass er sich krümmte und ihm schließlich die Tränen über die Wangen liefen. »Verzeih mir, Beatrice«, sagte Tolui, als er sich wieder einigermaßen gefangen hatte, und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. »Du kannst das natürlich nicht wissen. Diese Steine, die du hier siehst, sind nicht das Grab meines Urgroßvaters, wie du vielleicht glaubst. Sie verbergen nur den Eingang.« Er lachte wieder. »Bitte sei mir nicht böse. Ich hätte es dir wahrscheinlich schon vorher erzählen sollen, aber ich wollte dich überraschen.« Dann reichte er ihr die Hand. »Nimm dein Pferd beim Zügel und lass uns hineingehen.«
Beatrice fühlte sich wie der allerletzte Idiot. Tolui betätigte einen versteckten Hebel, und ein paar der großen Felsbrocken glitten zur Seite. Sie gaben den Blick auf eine Rampe frei, die sanft in die Tiefe abfiel und so breit war, dass sie sogar die Pferde mit hinunterführen konnten. An den gemauerten Seitenwänden steckten Fackeln in schlichten eisernen Halteringen. Tolui nahm eine davon, entzündete sie und ging voran. Immer tiefer drangen sie unter die Erde vor, bis sie schließlich eine hohe, mit mindestens einem Dutzend Säulen abgestützte Halle erreichten. Vor jeder der Säulen stand ein grimmig dreinblickender, aus Stein gehauener Krieger in voller Rüstung und mit Schwert, Bogen und Krummsäbel bewaffnet. Sie erinnerten Beatrice an die Statuen in Khubilais Gemächern.
»Dies ist die Halle der Wächter«, sagte Tolui und ließ die Zügel seines Pferds los. »Pilger meines Volkes, welche die Grabstätte des großen Dschingis Khans besuchen wollen, können hier übernachten. Es gibt Kohlebecken und Brennmaterial. In den Seitennischen stehen sogar Truhen mit Fellen und Decken. Und eine unterirdische Quelle sorgt für frisches Wasser. Aber Vorsicht, die Alten sagen, dass die Wächter zum Leben erwachen und jeden auf der Stelle töten, der es wagt, etwas Böses in das Grab Dschingis Khans zu tragen.«
Tolui zündete ein Kohlefeuer an und packte ihre Vorräte aus. Sie aßen immer noch das gleiche zähe Dörrfleisch wie an den Tagen zuvor, aber allein das frische, klare Wasser verwandelte die karge Mahlzeit in ein Festmahl.
»Und wo ist nun das Grab des großen Dschingis Khans?«, fragte Beatrice ein wenig schüchtern.
»Siehst du dort die beiden Türen?« Tolui deutete zum anderen Ende der Halle. »Da ist der Eingang. Morgen, wenn wir ausgeschlafen sind, werden wir das Grab betreten und nach dem Stein suchen. Hat Maffeo dir gesagt, wo er ihn versteckt hat?«
»Nein. Er sagte bloß, dass er in Dschingis Khans Grab liegt.«
Tolui seufzte. »Dann können wir wohl nur auf die Hilfe der Götter hoffen. Oder wir müssen uns auf eine lange, mehrere Tage dauernde Suche einstellen.«
Er erhob sich und holte aus einer der Truhen Decken, Polster und Felle. Das Lager, das sie sich daraus bereiteten, erschien Beatrice nach den Tagen auf dem harten Boden des Zelts so bequem, dass es ihr weicher vorkam als ihr eigenes Bett zu Hause in Hamburg. Sie hatte sich auch kaum darauf ausgestreckt und die Decken bis zum Kinn gezogen, als ihr auch schon die Augen zufielen und sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf sank.
Als sie wieder erwachte, kam Tolui gerade die Rampe herunter.
»Guten Morgen«, sagte Beatrice und lächelte. Sie fühlte sich zum ersten Mal seit langer Zeit wirklich ausgeruht.
»Es ist bereits Mittag«, erwiderte Tolui.
Sie setzte sich auf. In ihrem Rücken zog es schmerzhaft.
»Oh, du hättest mich doch…«
Aber Tolui winkte ab. »Du brauchst den Schlaf. Der Ritt hierher muss an deinen Kräften gezehrt haben.«
Erst jetzt bemerkte Beatrice, dass der junge Mongole aussah, als würde ihn etwas beschäftigen.
»Was ist los?«, fragte sie ihn und spürte, wie sich unwillkürlich ihr Herzschlag beschleunigte.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Tolui und schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich war eben draußen. Zwischen den Steinen habe ich Spuren entdeckt. Frische Hufspuren. Natürlich können es unsere eigenen sein. Seit gestern Abend scheint es nicht mehr geschneit zu haben. Aber…«
»Aber?«
Tolui sah Beatrice an. »Ich glaube, es ist besser, wenn wir uns mit der Suche nach dem Stein beeilen und so schnell wie möglich wieder von hier verschwinden.«
Dem war nichts hinzuzufügen. Beatrice nickte und schlang hastig ihr getrocknetes Obst hinunter. Während sie die Wasserflaschen neu füllten und die Polster und Decken wieder in die Truhen räumten, fragte sie sich, von wem die Spuren stammen konnten. Hatte man sie etwa schon von Taitu aus verfolgt? Wenn ja, wer mochte das sein?
Die Antwort liegt auf der Hand, dachte Beatrice und spürte, wie ihre Kehle zunehmend enger wurde. Das kann niemand anders als Dschinkims Mörder sein.
Nur kurze Zeit später standen sie vor der riesigen Tür. Seltsame goldunterlegte Zeichen waren in das schwere Holz geschnitzt. Während Beatrice die Zeichen betrachtete und versuchte ihre Bedeutung zu erraten, legte Tolui seine Waffen ab – Krummsäbel, Schwert, Dolch, Bogen und den Köcher mit den Pfeilen. Eins nach dem anderen legte er die Gegenstände auf eine steinerne Bank, die auf der linken Seite des Tors stand.
Beatrice runzelte unwillig die Stirn. »Warum tust du das?«, fragte sie den jungen Mongolen.
»Niemand darf mit Waffen das Grab meines Urgroßvaters betreten. So heißt es.«
»Tolui, das mag ja sein, aber hältst du das in unserem Fall wirklich für klug?«, wandte Beatrice ein. »Du bist doch der Ansicht, dass wir von jemandem verfolgt werden. Glaubst du ernsthaft, dass derjenige sich an diese Vorschrift halten wird?«
»Vielleicht nicht«, antwortete Tolui, und seine grünen Augen funkelten. »Trotzdem bin ich nicht bereit, die Ruhe des Grabes zu stören. Wenn ein anderer das Böse hierher bringt, so hat er selbst die Konsequenzen zu tragen. Dann werden die Wächter sich seiner annehmen. Ich hingegen kann und will nicht den Zorn und den Fluch meines Urgroßvaters auf mich laden.«
Beatrice zuckte mit den Schultern. Sie wusste, dass es falsch war, die Waffen hier zu lassen. Sie wusste, dass die Steinstatuen nicht zum Leben erwachen und ihnen im Kampf gegen einen bewaffneten, gefährlichen Gegner beistehen würden. Dass man ihnen den Stein abnehmen und sie anschließend umbringen würde, war das Einzige, was sie erwarten durften. Aber gegen Traditionen und Überlieferungen gab es keine vernünftigen Argumente. Nun ja, immerhin befanden sie sich bereits in einem Grab. Wenigstens würden sie nicht irgendwo draußen in der endlosen Steppe vor sich hin verwesen.
Sie rieb sich den Rücken. Das schmerzhafte Ziehen wollte nicht aufhören. Wahrscheinlich waren die Polster nach den Nächten auf dem Zeltboden doch zu weich gewesen.
Ein Königreich für eine Massage, dachte Beatrice und schaute zu, wie Tolui das kompliziert aussehende Schloss öffnete.
Er ächzte und stöhnte, als er die schwere Tür aufzog, bis der Spalt groß genug war, dass sie beide hindurchgehen konnten. Ihre Pferde ließen sie in der Halle der Wächter zurück. Ein weiterer Fehler, wie Beatrice fand. Denn einen besseren Hinweis darauf, dass sie hier waren, konnten sie gar nicht hinterlassen. Aber sie wollte sich nicht mit Tolui streiten.
Der junge Mongole entzündete eine neue Fackel. Ihr Lichtschein wurde von unzähligen Spiegeln reflektiert. Und was Beatrice dann sah, ließ sie auf der Stelle alles vergessen, was ihr bis zu diesem Augenblick Sorgen gemacht hatte.
Vor ihnen breitete sich ein riesiger Raum aus, wobei »Raum« das falsche Wort war, denn was sie sah, war eher mit einer Halle vergleichbar. Tatsächlich handelte es sich um ein Höhlensystem, das offenbar den ganzen Hügel und noch weite Teile der Umgebung dazu ausfüllte. Es gab auf natürlichem Wege entstandene Terrassen und von Menschenhand geschaffene Treppen aus Stein und Marmor, gemauerte Plattformen und zierliche Brücken sowie Stützpfeiler, in Jahrtausenden geformt durch einen unterirdischen Fluss. Vielleicht war es immer noch derselbe Fluss, der jetzt die unterirdische Quelle speiste und hier, mitten in einem Grab, für frisches Wasser sorgte. Überall auf den Terrassen und Plattformen standen die Grabbeigaben für die letzte Reise des großen Herrschers der Mongolen: Truhen, goldene Statuen und kostbare Möbel, sogar lebensgroße Pferde, Teppiche und Krüge, in denen vermutlich Getränke und Speisen lagerten. Was hatte sie gestern noch gedacht? Hier würde es keine Schätze geben? Von wegen!
Merk dir diesen Ort für später, schoss es Beatrice durch den Kopf. Wenn du eines Tages wieder zu Hause bist, rüstest du eine Expedition aus und beginnst mit den Ausgrabungen.
Dann wirst du reich und brauchst nie wieder Nachtdienste und Überstunden zu machen.
Wie in einem Traum folgte sie Tolui die Treppe hinab. Steinerne Krieger hielten auch hier ihre stumme Wache. Und tatsächlich hatte Beatrice das Gefühl, als würden ihre misstrauischen Blicke jedem ihrer Schritte folgen.
»Mein Gott!«, sagte sie schließlich, als sie ihre Sprache wiedergefunden hatte. Sie ließ ihre Finger über das Holz einer Truhe gleiten, deren bäuerliche Schnitzerei sie an das mittelalterliche Europa erinnerte. Vielleicht kommt sie ja tatsächlich aus Ungarn oder Polen. »Das ist ja wirklich unglaublich! Woher stammt das alles?«
»Mein Urgroßvater hat die ganze Welt beherrscht. Er ist sogar bis ins ferne Abendland vorgedrungen. Und von jedem seiner Feldzüge hat er unzählige Schätze mitgebracht.«
Natürlich, dachte Beatrice. Das ist alles Kriegsbeute. Was denn sonst.
»Aber du hast recht«, sagte sie. »Wenn wir den Stein nicht durch einen glücklichen Zufall finden, werden wir Jahre brauchen.«
»Wie sieht dieser Stein denn aus?«, fragte Tolui.
»Es handelt sich um einen Saphir, einen Stein von der Größe einer Walnuss, der eine oder mehrere Bruchkanten hat. Unter normalen Umständen würde ich sagen, dass es kein Problem ist, ihn zu finden. Er ist nämlich außergewöhnlich schön. Aber hier…« Sie zuckte resigniert mit den Schultern. »Das ist wie die berühmte Nadel im Heuhaufen oder der Diamant im Kronleuchter. Ich weiß wirklich nicht, wo und wie wir mit der Suche beginnen sollen. Maffeo hat ein geniales Versteck gefunden, das muss man ihm lassen. Aber er hätte uns auch gern noch ein paar Tipps geben dürfen.«
Tolui kratzte sich am Kopf und sah sich um.
»Vielleicht sollten wir am Sarkophag meines Urgroßvaters beginnen«, schlug er vor. »Er steht am hintersten Ende der Grabanlage. Und wenn wir den Stein dort nicht finden, arbeiten wir uns Stück für Stück wieder nach vorne vor.«
»Gut«, stimmte Beatrice zu und spürte, wie sich das Ziehen im Rücken verstärkte und ringförmig zum Bauch und den Leisten hin ausbreitete.
Hoffentlich habe ich mir jetzt nicht noch einen Bandscheibenvorfall zugezogen, dachte sie und rieb sich den Rücken. Das würde die Heimkehr zu einer Tortur machen.
Während sie die Treppen hinauf- und hinunterstiegen, Brücken überquerten und sich auf schmalen Wegen an den Truhen, Spiegeln, Stühlen und Schränken vorbeizwängten, fragte sich Beatrice, ob dieses Grab in den folgenden Jahrhunderten jemals entdeckt und geplündert worden war. Die Mär von den hier verborgenen Schätzen musste sich doch unter Historikern, Grabräubern und Archäologen herumgesprochen haben. Oder hatte man das Grab des Dschingis Khans ebenso wie die Existenz von Shangdou in den Bereich der Sagen und Märchen eingestuft, von den Mongolen nur erfunden, um ihren Herrscher in den Olymp der Götter zu erheben?
Vielleicht sollte ich mich wirklich mal mit einem Archäologen unterhalten, dachte Beatrice.
Andererseits gefiel ihr die Vorstellung, dass die Hallen eines Tages leer geräumt sein würden, überhaupt nicht. Wenn die Archäologen dieses Grab jemals in ihre Finger bekämen, würde jede Statue, jede Truhe, jeder Dolch und jeder Ring mit einer Nummer und einem Schildchen versehen in einer Museumsvitrine landen. Dschingis Khans sterbliche Überreste würden obduziert und durch sämtliche Röhren der modernen Medizin geschoben werden, bis man ihm endlich seine Ruhe wiedergeben würde – allein und einsam in einem leeren, dann endgültig toten Grab. Nein, das sollte nicht geschehen. Er sollte nicht das Schicksal der Pharaonen, Inka und Maya teilen. Sollte Dschingis Khan seine Schätze behalten und weiterhin hier in Frieden ruhen, verborgen vor den gierigen Augen der Welt.
Endlich erreichten sie den Sarkophag. Es war eigentlich nur ein aus Marmor gehauener Kasten mit einem Deckel aus demselben Material. Keine Inschrift, keine Verzierungen, kein Porträt deutete an, dass dies die letzte Ruhestätte des Dschingis Khans war. Aber gerade in dieser Schlichtheit wirkte der Sarkophag edel und erhaben. Tolui beugte seine Knie und lehnte die Stirn gegen den Marmor, als wollte er beten. Und als er sich wieder erhob, schimmerten seine Augen feucht.
»Ich habe so lange darauf gewartet, am Grabe des großen Herrschers zu stehen«, sagte er leise. »Als ich ein kleiner Junge war, hat mein Vater mich hierher mitgenommen. Damals war ich noch nicht in der Lage, die wahren Wunder dieses Grabmals zu begreifen, und doch fühlte ich die Kraft, die von dem Sarkophag ausgeht. Und ich weiß noch, dass ich so von Ehrfurcht erfüllt war, dass ich zehn Tage lang kein einziges Wort mehr gesprochen habe. Doch jetzt, jetzt spüre ich es ganz deutlich. Obwohl der große Herrscher schon viele Jahre tot ist, schlägt hier immer noch das Herz meines Volkes.«
Beatrice schwieg. Tolui sprach ihr aus der Seele. Doch im Gegensatz zu ihm spürte sie noch etwas anderes. Es war wie ein Magnet oder wie eine Stimme, die sie zu sich rief, mal fordernd, mal lockend.
»Nun lass uns diesen Stein suchen«, sagte Tolui und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Aber wo wollen wir anfangen?«
»Im Sarkophag«, antwortete Beatrice, ohne nachzudenken.
Tolui wurde bleich. »Aber wir können doch nicht einfach die Gebeine meines Großvaters schänden!«, rief er entrüstet. »Das werde ich niemals zulassen.«
»Wir werden ihn auch nicht schänden«, beschwichtigte Beatrice und hielt plötzlich die Luft an. Was war das denn? Ein heftiger Schmerz überrollte sie. Eine Art Krampf oder Kolik. Übelkeit wallte auf. Sie krümmte sich und hielt sich am Sarkophag fest. Was war nur heute mit ihr los?
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Tolui besorgt.
»Ich weiß nicht…«
Dann war es ebenso plötzlich wieder vorbei, wie es gekommen war. Beatrice richtete sich auf und lächelte.
»Geht schon wieder, nur eine kleine Kolik. Vielleicht spielen mein Magen und mein Darm verrückt wegen der ungewohnten Nahrung der vergangenen Tage. Es ist nichts weiter.«
»Wirklich?«
»Ja. Ich verspreche dir, Tolui, dass wir deinem Urgroßvater kein Leid zufügen werden. Wir heben lediglich den Deckel ab und schauen nach, ob der Stein dort ist. Und dann machen wir den Deckel wieder zu.«
Tolui holte tief Luft. »Gut. Aber lass es mich allein tun. Kein Angehöriger eines anderen Volkes soll einen Blick auf den großen Dschingis Khan werfen dürfen.«
»In Ordnung«, stimmte Beatrice zu und setzte sich auf einen Marmorblock. Sie war erleichtert, sich einen Augenblick lang ausruhen zu können. Auch wenn sie es nicht gern zugab, sie fühlte sich plötzlich matt und hätte sich am liebsten hingelegt. Vielleicht war es ja doch mehr als ein paar Darmkrämpfe? Vielleicht litt sie unter einer Infektion?
Sie beobachtete Tolui, der mühsam den Deckel zur Seite schob. Schließlich war das Loch groß genug, um hineinzuschauen. Seine Miene wurde fast zärtlich, als er einen Blick in den offenen Sarkophag warf. Und dann wusste Beatrice plötzlich, dass der Stein der Fatima wirklich da war, noch bevor Tolui was sagen konnte. Etwas wie ein bläulicher Schimmer erschien auf seinem Gesicht.
»Du hattest recht«, sagte er und griff in die Tiefe des Sarkophags, vorsichtig und behutsam, als wollte er den großen Herrscher nicht wecken. Er zog seine Hand wieder hervor und hielt einen Stein zwischen Daumen und Zeigefinger. Das flackernde Licht der Fackel brach sich in ihm und versprühte blaue Funken. »Ist er das?«
Beatrice nickte. Ihr Mund war seltsam trocken. Sie brachte keinen Ton hervor.
»Maffeo hat nicht gelogen«, sagte Tolui leise. »Diesen Stein zu bewachen bedeutet keine Schändung des Grabes. Es ist eine Ehre.« Mit sichtlicher Willensanstrengung riss er seinen Blick von dem Saphir in seiner Hand los und sah Beatrice an. »Erzähl mir von diesem Stein, sofern es dir erlaubt ist. Was hat er zu bedeuten?«
»Große Macht«, meldete sich plötzlich eine laute Stimme hinter ihnen. »In der Hand der Gläubigen!«
Sie fuhren herum und sahen eine dunkel gekleidete Gestalt auf einer der Plattformen stehen. Wie sie dort hingekommen war, konnte Beatrice nicht sagen. Sie hatte niemanden kommen hören.
»Den Ungläubigen hingegen bringt er Tod und Verderben.« Leichtfüßig und elegant sprang der Mann die Treppenstufen empor und stellte sich breitbeinig vor sie hin.
»Ahmad!«, keuchte Tolui, als er ihn erkannte.
»Ganz recht, junger Freund, ich bin’s, Ahmad!« Der Araber lockerte die Tücher, die sein Gesicht verhüllten. Dann streckte er seine Hand aus. Beatrice fiel auf, dass er Handschuhe trug, dunkle Handschuhe aus einem dünnen Stoff, kaum geeignet für die in der Steppe herrschende Kälte, aber überaus nützlich für Heimlichkeit, Schnelligkeit und heimtückische Morde. Er hatte Ähnlichkeit mit einem Ninja. »Und nun gib mir den Stein. Aus freiem Willen, damit der Zorn Allahs dich und deine Nachkommen nicht trifft.«
Doch Tolui wich rasch zwei Schritte zurück und schloss seine Hand um den Stein.
»Niemals«, sagte er, und seine Augen funkelten. »Dieser Stein gehört Maffeo. Und er wird ihn auch zurückbekommen!«
Ahmad schüttelte den Kopf, mitleidig, bedauernd.
»Tolui, denk doch mal nach. Du bist jung, fast noch ein Knabe, dein ganzes Leben liegt noch vor dir. Willst du dieses Leben wirklich einfach so wegwerfen – für einen Stein, den du ohnehin nicht behalten kannst, weil er niemals dir oder einem anderen Mongolen gehören wird?«
»Du wirst es nicht wagen, hier an der Grabstätte meines Urgroßvaters…«
»Was sollte ich nicht wagen? Dich und diese Hure zu töten? Was sollte mich davon abhalten? Du etwa?«
Tolui atmete schwer. Es war ihm deutlich anzumerken, dass er Mühe hatte, seinen Zorn noch länger zu zügeln. Er sah aus, als wäre er Ahmad am liebsten ins Gesicht gesprungen.
»Solltest du es wirklich wagen, Hand an mich oder Beatrice zu legen, so werden die Wächter deinem Frevel ein schmerzvolles Ende bereiten. Sie werden dich töten und in tausend Stücke reißen!«
Doch Ahmad warf seinen Kopf in den Nacken und lachte. »Du glaubst wirklich, dass mich eure lächerlichen Ammenmärchen und Spukgeschichten ängstigen können? Das Einzige, was ich fürchte, ist der Zorn Allahs, des Allmächtigen, und auch du solltest Ihn fürchten, denn Er straft jene, die sich Seinem Willen widersetzen, mit harter Hand.« Er winkte Tolui mit zwei Fingern zu sich. »Du sollst noch eine letzte Chance erhalten. Sei ein braver Junge und gib den Stein seinem rechtmäßigen Besitzer zurück.«
»Nein. Niemals…«
»Gut«, unterbrach ihn Ahmad, »dann werde ich dich wohl zwingen müssen.« Mit einer Bewegung, so schnell und unerwartet, dass man ihr kaum mit den Augen folgen konnte, hatte der Araber Beatrice ergriffen und sie auf die Füße gezogen. Und schon im nächsten Moment fand sie sich in seinen Armen wieder – mit einem scharfen, spitzen Dolch an der Kehle.
»Du Elender!« Außer sich vor Zorn sprang Tolui auf den Araber zu. »Ich werde dich…«
»Nur zu, noch einen Schritt näher, und du besiegelst das Schicksal dieser Hure.« Er drückte Beatrice das Messer so gegen die Kehle, dass sich die Spitze schmerzhaft in ihre Haut bohrte. »Sei jetzt vernünftig und gib mir den Stein. Andernfalls muss ich sie töten. Mit deinem eigenen Dolch. Das willst du doch sicher nicht, oder?«
»Nein, Tolui, tu das nicht!«, stieß Beatrice mühsam hervor. Das Messer kratzte an ihrer Haut. Aber sie musste Tolui davon abhalten, Ahmad den Stein zu geben. Er würde sie ohnehin töten, beide. »Wenn der Stein diesem Kerl in die Hände fällt, wird er…«
»Schweig!« Ahmad presste ihr seine Hand auf den Mund, sodass sie nichts mehr sagen konnte und kaum noch Luft bekam. »Das ist jetzt meine letzte Aufforderung, Tolui. Gib mir endlich den Stein, oder die Hure wird hier vor deinen Augen ihren letzten Atemzug machen.«
Tolui kämpfte mit sich. »Hier, du elender Sohn einer räudigen Hündin«, stieß er schließlich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und öffnete seine Hand. »Hier, nimm dir den Stein.«
»Nein, mein Freund, für wie dumm hältst du mich?«, erwiderte Ahmad. »Leg ihn auf den Boden, und stoß ihn mit dem Fuß zu mir herüber.«
Tolui tat es, obwohl Beatrice strampelte und schrie und mit aller Kraft versuchte, sich zu befreien und in die Hand des Arabers zu beißen. Dieser Schuft durfte den Stein nicht bekommen. Sie wusste zwar nicht, weshalb, aber sie spürte, dass es einfach nicht geschehen durfte. Doch ihre Gegenwehr war vergebens. Ahmads Griff wurde nur mit jeder ihrer Bewegungen fester, bis sie schließlich das Gefühl hatte zu ersticken. Dann rollte wieder der Schmerz über sie hinweg. Jener krampfartige Schmerz, der ihr den Atem nahm. Und plötzlich wusste sie, was mit ihr los war. Sie hatte Wehen.
Jetzt?, schoss es ihr durch den Kopf. Da hast du dir aber den denkbar ungünstigsten Zeitpunkt ausgesucht, um ein Kind zu bekommen.
Ihr wurde schwarz vor Augen.
Ahmad bückte sich langsam und bedächtig und hob den Stein auf. Der Sapir funkelte in seiner Hand. Doch Beatrice bildete sich ein, dass sein Licht viel von seiner Wärme, seinem Feuer und seinem Glanz eingebüßt hatte. In der Hand dieses Mannes wirkte der Stein kalt, unfreundlich und sogar gefährlich.
»So, jetzt hast du, was du willst!«, sagte Tolui. »Nun lass Beatrice frei!«
»O nein, mein kleiner Freund«, erwiderte Ahmad und lächelte triumphierend. »Ich werde sie mitnehmen – wenigstens ein Stück. Ich muss doch sichergehen, dass du dich an unsere Abmachung hältst und keine Tricks versuchst, um mir den Stein wieder abzujagen.«
»Du mieses Schwein!«, schrie Tolui. »Das kannst du nicht machen! Sie ist schwanger! Lass sie auf der Stelle frei, oder ich werde dich…«
»Was wirst du? Mich anspucken? Mich beißen oder kratzen?« Ahmad lachte schallend. »Vergiss nicht, du hast deine Waffen vor dem Eingang zum Grab zurückgelassen.« Er schüttelte belustigt den Kopf. »Welch eine törichte Sitte. Eigentlich hatte ich euch Mongolen für etwas klüger gehalten. Du hättest auf dieses Weib hören sollen.«
Tolui knirschte mit den Zähnen, ballte die Fäuste – aber er war hilflos.
»Du…«
»Ich gehe jetzt. Mit ihr. Doch was mache ich mit dir?« Ahmad runzelte die Stirn und dachte kurz nach. »Du darfst hier zurückbleiben. Ich gewähre dir die Gnade, an der Grabstätte deines Urgroßvaters deinem Onkel ins Jenseits zu folgen. Ja, das ist ein guter Plan. Mein Freund Senge wird begeistert sein.«
»Du Schuft!«
»Schuft?« Ahmad hob spöttisch eine Augenbraue. »Diese Ehre haben nicht viele Mongolen vor dir erfahren dürfen. Du solltest mir dankbar sein.«
»Verflucht sollst du sein!« Tolui zitterte, aber nicht vor Angst. »Du kannst mich umbringen. Und Beatrice. Aber dem Zorn der Götter wirst du nicht entgehen. Eines Tages wird dich deine gerechte Strafe ereilen, und dann wird dein Name aus dem Gedächtnis der Menschen getilgt werden. Sei gewiss, mein Vater wird dich für den Mord an mir und an Beatrice richten!«
Ahmad lachte wieder. »Wie sollte er? Er wird es nie erfahren.« Er zog Beatrice mit sich. »So lebe denn wohl, Tolui. Ich denke, es wird drei, vier Tage dauern, dann bist du so schwach, dass dich dein Schicksal nicht mehr kümmern wird.«
Er zerrte Beatrice aus der Grabkammer hinaus und warf sie brutal auf den Boden der Halle der Wächter. Sie stöhnte vor Schmerz und vor Wut. Wenn sie sich jemals gewünscht hatte, dass Märchen wahr werden würden, dann jetzt. Sie hoffte, die Statuen würden zum Leben erwachen. Doch nichts geschah. Der Araber machte die schwere Tür zur Grabkammer zu und schob sogar noch die steinerne Bank davor. Tolui war eingeschlossen. Für immer.
Ahmad kam zu ihr.
»Was wirst du mit mir machen?«, fragte sie. »Willst du mich auch hier im Grab zum Sterben zurücklassen?«
Ahmad schüttelte den Kopf. »Nein, obwohl ich zugebe, dass dieser Gedanke sehr verlockend ist. Aber ich werde dich zu Senge bringen.«
Beatrice bekam Herzklopfen. Sie hatte Senge nur einmal gesehen – als er sich mit Ahmad unterhalten hatte. Aber was sie über ihn gehört hatte, reichte aus, um Angst vor ihm zu bekommen. »Der Unheimliche« wurde er genannt. Sicher nicht ohne Grund.
»Zu Senge?«, fragte sie und hoffte, dass Ahmad das Zittern in ihrer Stimme nicht bemerkte. »Warum? Was will er von mir?«
Ahmad zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Er braucht dich und will dich haben. Mehr hat er mir nicht gesagt.«
»Und du?« Ihre Angst wich allmählich dem Zorn. »Was ist dein Lohn für den Mord an Dschinkim, Tolui und mir? Was springt für dich dabei heraus?«
Ahmad lächelte. Triumphierend hielt er den Saphir zwischen Daumen und Zeigefinger hoch.
»Der Stein der Fatima«, sagte er. »Wie lange habe ich auf diesen Augenblick gewartet. All die Jahre des Wartens haben nun endlich ihre Vollendung gefunden. Nichts war umsonst. Das Dasein als Kaufmann, der Umgang mit den Ungläubigen. Nun kann ich endlich Allahs Rache am Volk der Mongolen vollziehen. Ich werde sie alle vernichten. Einen nach dem anderen. Und von ihren Städten wird kein Stein mehr übrig bleiben.«
»Du bist wahnsinnig!«, schrie Beatrice. »Glaubst du allen Ernstes, dass dies Allahs Wille ist? Wer oder was bist du, dass du es wagst, Leben, das Allah in seiner unendlichen Güte erschaffen hat, zu vernichten? Hast du etwa die Macht, auch nur einem deiner Opfer das Leben wieder zurückzugeben? Bist du…«
»Schweig!«, schrie Ahmad und schlug Beatrice mit seinem Handrücken ins Gesicht. »Schweig, du elendes Weib, du Ungläubige! Du weißt überhaupt nichts!«
Trotzdem hatte Beatrice den Eindruck, dass sie Ahmad an einem wunden Punkt getroffen hatte. Aus irgendeinem Grund wirkte er nicht mehr so selbstsicher wie zuvor.
»Komm jetzt, wir müssen zurück.«
Er packte ihren Arm und zerrte sie vom Boden hoch.
»Du wirst ohne mich gehen müssen«, sagte Beatrice und biss sich auf die Lippe. Eine neue Wehe kam. Es war die heftigste bisher. »Ich bekomme jetzt ein Kind.«
»Aber das…« Fassungslosigkeit stand auf seinem Gesicht geschrieben. Er wurde unsicher. »Du lügst!«
»Nein, leider nicht«, erwiderte Beatrice und stöhnte. Sie versuchte, ruhig zu atmen. Sie hatte nie einen der Vorbereitungskurse gemacht. Irgendwie war ihr dieses Gruppenhecheln immer komisch vorgekommen. Trotzdem hatte sie ein paar Grundkenntnisse, die sie im Laufe der Zeit von schwangeren Freundinnen, Kolleginnen und Frauen in Bussen und U-Bahnen aufgeschnappt hatte. Die konnte sie jetzt nutzen.
Vor allem wollte sie nicht schreien, sich vor den Augen und Ohren dieses Mannes keine Blöße geben. Aber was sollte sie machen, es tat so hundsgemein weh.
Ahmad lief nervös auf und ab, völlig aus dem Konzept gebracht. Schließlich holte er den Stein hervor.
»Hier. Dieser Stein hat die Macht, deine Lüge zu entlarven.« Er legte ihr den Stein auf den Bauch. »Der heilige Stein der Fatima wird dir ein Loch in die Seele brennen, dir den Frevel austreiben und deine Zunge verdorren lassen.«
Beatrice schrie. Die Schmerzen waren mittlerweile so stark, dass sie sich fragte, wie sie sie noch länger ertragen sollte.
Und dann fühlte sie, wie etwas in ihr platzte.
Zwischen ihren Beinen wurde es nass, und Flüssigkeit sprudelte hervor, als hätte sich mitten in ihrem Leib eine Quelle aufgetan.
Woher kommt nur all die Flüssigkeit?, dachte sie und legte eine Hand auf den Stein, der auf ihrem Bauch lag. Das müssen mindestens zehn Liter sein.
Als hätte sie sich Watte in die Ohren gestopft, hörte sie Schritte, eilige, schwere Schritte von vielen Stiefeln auf dem Steinfußboden. Dumpfe Schreie, Stimmen. ‘Wie aus weiter Ferne erklang die Stimme Khubilais, der Ahmads Namen rief. Waffen klirrten. Um sie herum blitzte und funkelte es, als würde hier, mitten in Dschingis Khans Grabe, ein Gewitter entfesselt. Sie versuchte, sich an einer der Statuen zu orientieren, aber sie bewegten sich. Waren sie doch noch zum Leben erwacht, wie Tolui gesagt hatte? Wollten die steinernen Wächter den Frevel am Grab des großen Herrschers rächen? Doch dann sah sie, dass sich die Statuen im Kreis um sie herum drehten. Immer schneller und schneller drehten sie sich.
Es passiert wieder!, dachte Beatrice noch. Jetzt verstehe ich das Orakel. Jie und Ji Ji. Gewalt und ein Sprung über den großen Fluss der Zeit…
Dann kam erneut eine Wehe. Und diesmal war der Schmerz so heftig, dass sie das Bewusstsein verlor.