Zitternd vor Angst und Kälte kroch Beatrice wieder in ihr Bett, aber an Schlaf war nicht mehr zu denken. Misstrauisch beobachtete sie die Umrisse der Möbel. In der Dunkelheit wirkten sie seltsam fremd und unheimlich, und in ihrem Schatten konnte sich ein Mann ohne Probleme verstecken. Sie lauschte nach Atemzügen und forschte nach Bewegungen in der Finsternis, bis ihre Lider langsam schwer wurden. Doch jedes Mal, wenn sie kurz davor war, einzuschlafen, glaubte sie die Nähe dieser entsetzlichen Kreatur zu spüren und ihren Gestank zu riechen. Dann schreckte sie auf, saß kerzengerade in ihrem Bett und wartete darauf, dass sich ihr Puls wieder beruhigte. Und da sie aus einem unerklärlichen Grund annahm, dass ihre Träume die Pforte waren, durch die das Ungeheuer sie erreichen konnte, hatte sie noch mehr Angst davor, einzuschlafen.
Dabei gab es keine Ungeheuer oder Vampire. Das war irrational, das Resultat ihrer blühenden Fantasie, nichts weiter. Doch die Stimme der Vernunft war leise und schwach. Wenn sie ehrlich war, zweifelte sie keinen Augenblick daran.
Nach einer Weile sah Beatrice ein, dass es zwecklos war. Erst wenn das Tageslicht und das normale Leben genügend Zeit zwischen sie, diesen entsetzlichen Albtraum und die heutige Nacht gebracht hatten, würde sie wieder in der Lage sein, ruhig zu schlafen. Sie stand auf und begann sich zu waschen und anzukleiden. Als sie fertig war, schob sie einen der beiden Stühle näher zum Fenster, setzte sich hin, starrte hinaus und wartete auf den Morgen.
Die Sonne ging gerade auf und verzauberte die Kuppeln und Türme des Palastes mit ihrem Licht, als Ming mit einem Stapel frischer Wäsche im Arm das Zimmer betrat. Ihr Erstaunen darüber, sie bereits fertig angekleidet auf dem Stuhl vor dem Fenster sitzen zu sehen, war unverkennbar.
»Du kommst spät heute, ich habe bereits auf dich gewartet«, sagte Beatrice und war gespannt darauf, wie Ming sich heute verhalten würde. So vor zwei untergebenen Dienerinnen behandelt worden zu sein, hatte die Alte sicher in ihrer Ehre gekränkt. Trotzdem hatte Beatrice kein Mitleid. Nicht mit dieser kalten, herzlosen Frau. »Hat man dir nichts gesagt?«
Ming runzelte die Stirn. »Was gesagt?«
»Das Gefolge des Khans wird in wenigen Tagen aufbrechen und nach Taitu übersiedeln«, antwortete Beatrice. »Wir sollten zeitig damit beginnen, alles reisefertig zu verpacken. Es wäre eine unverzeihliche Schande, wenn sich ausgerechnet unseretwegen die Abreise verzögern würde.«
Natürlich entsprach das nicht der Wahrheit, niemand hatte gesagt, dass sie sich beeilen mussten. Aber Beatrice konnte nicht anders. Sie genoss es geradezu, der Alten ihre Arroganz und Überheblichkeit heimzuzahlen.
Die faltigen Wangen der Chinesin färbten sich zartrosa, in ihren braunen Augen funkelte blanker Hass. Sie presste ihre schmalen Lippen aufeinander und verneigte sich kurz.
»Niemand hat mir gesagt«, erwiderte sie, legte die Wäsche auf die Kommode und betrachtete Beatrice mit missbilligend gerunzelter Stirn. »Das ist nicht richtig, nicht richtig angezogen. Du mich rufen sollst, wenn du in Eile bist.«
Mit strengem Gesicht korrigierte sie nun all die Fehler, die Beatrice in ihrer Unwissenheit und mangelnden Bildung beim Ankleiden begangen hatte. Dabei zog die Alte einige der Bänder so straff an, dass Beatrice fast schwarz vor Augen wurde. Trotzdem lächelte sie. Endlich hatte sie es geschafft, die alte Ming in Verlegenheit zu bringen. Und das war mehr wert als alles andere.
»Nun richtig!«, sagte Ming schließlich, und ein böses Lächeln umspielte ihre Lippen. »Ich verspreche, morgen ich werde rechtzeitig da sein und beim Anziehen helfen.«
Beatrice war sprachlos. Diese alte Hexe, dachte sie wütend. Immer muss sie das letzte Wort haben.
Aber sie ärgerte sich auch über sich selbst. Warum nur hatte sie nicht einfach den Mund halten können? Sie kannte doch die alte Chinesin mittlerweile gut genug. Jetzt hatte sie es sich selbst zuzuschreiben, wenn Ming sie in Zukunft bereits vor Sonnenaufgang aus dem Bett zerren würde.
In diesem Augenblick klopfte es an der Tür.
»Guten Morgen, Beatrice«, sagte Maffeo.
Täuschte sie sich oder sah er heute Morgen besonders grau und alt aus? Da waren dunkle Schatten unter seinen Augen, und seine Wangen wirkten eingefallen. Vielleicht war er krank?
»Es freut mich, dass du bereits fertig angekleidet bist«, fuhr er fort. »Khubilai hat soeben allen seinen Untertanen verkünden lassen, dass wir in drei Tagen nach Taitu aufbrechen werden.« Er seufzte, doch Beatrice hatte nicht den Eindruck, dass es daran lag, dass er Shangdou nachtrauerte. Ihn bedrückte etwas anderes. Ob es mit Marco zu tun hatte? »Wir werden uns beeilen müssen. Drei Tage sind eine sehr kurze Zeit, um alles zu verpacken. Es sind so unglaublich viele Kleinigkeiten – das Geschirr, die Möbel, die Bilder. Ming, würdest du…«
Die Alte verbeugte sich. »Ich werde Kisten und Decken holen lassen. Herr kann sicher sein, dass ich mich um alles kümmern werde.«
Sie richtete sich wieder auf und trippelte mit hoch erhobenem Kopf davon. Überrascht sah Beatrice ihr nach. Sie hatte den Eindruck, dass Ming sich fast über den bevorstehenden Umzug freute. Da war plötzlich so ein seltsames Leuchten in den Augen der alten Chinesin gewesen. Aber vielleicht hatte sie sich auch getäuscht.
Maffeo seufzte wieder und ließ sich schwer auf Beatrices Bett nieder.
»Was ist mit dir?«, fragte Beatrice und setzte sich neben ihn. »Geht es dir nicht gut?«
»Nein, nein, mir geht es gut. Es ist nur…« Er ergriff ihre Hand und tätschelte sie wie ein Vater, der seiner Tochter eine unangenehme Nachricht überbringen muss. »Dieser Umzug kommt viel zu früh. Ich hatte gehofft, dass ich noch mindestens zehn Tage mehr Zeit habe.« Er rieb sich die Augen wie jemand, der keinen Schlaf gefunden hatte. »Dschinkim bat mich, für ihn Nachforschungen anzustellen. Er vermutet, dass einer oder mehrere der hohen Beamten Khubilai betrügen und Gelder aus der Staatskasse veruntreuen. Ich müsste jetzt eigentlich die Bücher durchgehen und nach Beweisen forschen, aber…« Er zuckte hilflos mit den Schultern. »Nun ja, die Bücher werden jetzt natürlich ebenso wie alles andere hier in Shangdou eingepackt. Und bevor wir in Taitu angekommen sind und die Bibliothek dort nicht eröffnet wird, kann ich meine Nachforschungen nicht fortsetzen. Das aber kann noch Monate dauern.«
»Na und? Dann kommst du den Betrügern eben später auf die Spur. Wenn du keinen Zugriff auf die Bücher hast, dann haben sie ihn auch nicht. Es wird ihnen also kaum gelingen, ihre Spuren zu verwischen.«
»Ich weiß, du hast recht, aber du verstehst nicht…« Maffeo seufzte wieder und fuhr sich müde durch das Haar. »Du kennst noch nicht die ganze Wahrheit. Dschinkim nannte in diesem Zusammenhang mehrere Namen, und dabei…« Er schluckte, und Beatrice wusste, was er sagen wollte, noch bevor er es ausgesprochen hatte. »Marco war einer von ihnen. Und ich weiß nicht, was ich…« Er schüttelte den Kopf und presste die Lippen aufeinander. Sie hatte den Eindruck, dass er nur mit größter Willensanstrengung die Tränen zurückhielt. »Ich kenne meinen Neffen, seinen Charakter. Ich weiß, dass er… Aber er ist und bleibt trotzdem mein Neffe. Deshalb würde ich am liebsten so schnell wie möglich meine Nachforschungen beenden, in der Hoffnung, dass dieser schreckliche Verdacht jeder Grundlage entbehrt. Schon allein meinem Bruder Niccolo zuliebe. Er weiß noch gar nichts davon. Ich fürchte, es könnte ihm das Herz brechen.«
Armer Maffeo, dachte Beatrice. Das ist wahrlich keine leichte Bürde. »Wenn ich dir irgendwie helfen kann…«
»Danke.« Er drückte ihre Hand und versuchte zu lächeln. »Aber ich sollte dich nicht mit unseren Familienproblemen belasten. Weißt du was? Ich werde dir Taitu zeigen. Das wird uns beide auf andere Gedanken bringen.«
»Taitu? Aber wie…«
»Khubilai besitzt ein Modell der Stadt. Es steht im Kartenraum. Er hat bestimmt nichts dagegen, wenn wir es uns ansehen.«
Als Beatrice an der Seite von Maffeo den Kartenraum betrat, hätte sie sich vor Überraschung fast hingesetzt, so überwältigend und unerwartet war der Anblick. Das, was Maffeo so lapidar als »Kartenraum« bezeichnet hatte, entpuppte sich als ein riesiger runder Saal mit einer Kuppel, die dem florentinischen Dom an Größe und Schönheit in nichts nachstand.
Sie befanden sich auf einer Empore, die um den ganzen Saal herumführte, und blickten hinunter auf eine Miniaturstadt.
»Das ist…« Beatrice brach ab. Fantastisch, wie in einem Film, hatte sie eigentlich sagen wollen. Doch Maffeo hätte ohnehin nicht gewusst, was sie damit ausdrücken wollte. Und da ihr nichts anderes einfiel, schwieg sie lieber.
»Du meinst, es ist wunderbar? Ja, in der Tat, das ist es. Aber davon sind hier nicht alle überzeugt. Viele sagen, dass Taitu besser nie gebaut worden wäre.«
»Und warum?«
Maffeo zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es ja nur Aberglaube.«
Beatrice sah auf die Modellstadt hinunter. Alles war so detailgetreu aufgebaut, dass man darüber nur staunen konnte. Die kleinen Häuser und Tempel waren sogar in verschiedenen Farben bemalt worden, und die farbigen Ziegel der Dächer glänzten wie bunte Edelsteine. Am deutlichsten stach der kaiserliche Palast ins Auge – ein riesiges Gebäude, höher als alle anderen, mit mehreren leuchtend blauen Dächern. Doch wenn sie sich vorstellte, dass dies eine Stadt war, in der sie selbst wohnen sollte, bekam sie eine Gänsehaut. Sie konnte es sich nicht erklären, aber irgendetwas stimmte hier nicht.
»Was ist das für ein Aberglaube?«, fragte sie und zog fröstelnd die Schultern zusammen.
»Die Leute glauben, dass in Taitu böse Geister umgehen«, meldete sich hinter ihnen eine Stimme zu Wort. Beatrice und Maffeo wandten sich um. Vor ihnen stand Marco. »Sie sagen, es sind die Geister der chinesischen Arbeiter, deren Blut die Fundamente der Stadt tränkt. Viele glauben, allen voran Dschinkim, der Thronfolger, dass sie den Mongolen nicht unbedingt wohlgesonnen sind und ihnen Verderben bringen werden.«
Er lächelte, und Beatrice spürte, wie allein seine Gegenwart ihr wieder die Röte ins Gesicht trieb. Und dann ergriff er sogar ihre Hand, leicht, fast zärtlich. Es war eine Berührung, die sie elektrisierte.
Denk an deinen Traum, denk an Saddins Warnung, ermahnte sie sich und versuchte vergeblich, ihm die Hand wieder zu entziehen. War er nur zufällig im Kartenraum, oder hatte er ganz genau gewusst, dass er Maffeo und sie hier antreffen würde?
»Seid gegrüßt, Onkel«, sagte er fröhlich. »Es freut mich, Euch zu sehen. Am größten ist jedoch meine Freude, Euch zu sehen, Beatrice. Ihr seid wie der junge Frühling. Von Tag zu Tag scheint Ihr schöner zu werden.« Marco verneigte sich lächelnd vor Beatrice und hauchte einen Kuss auf ihren Handrücken. »Was tut ihr zwei hier einsam und allein im Kartenraum?«
Maffeo räusperte sich. »Ich wollte Beatrice das Modell von Taitu zeigen.«
»Ja, wahrlich ein Meisterwerk«, sagte Marco und sah auf die Miniaturstadt hinab, ohne Beatrices Hand loszulassen. »Fünfzig Arbeiter haben ein volles Jahr gebraucht, um aus kleinen, eigens für das Modell gebrannten Lehmziegeln, Marmorstücken und Holz die Stadt anhand der Zeichnungen der Baumeister aufzubauen. Sie haben sich wirklich sehr bemüht. Trotzdem ist es ihnen nicht gelungen, der Wirklichkeit auch nur nahe zu kommen.«
»Ihr wart schon in Taitu?«, fragte Beatrice.
»Ja«, antwortete Marco, als wäre es nichts Besonderes. »Khubilai führt bereits seit einiger Zeit einen Teil seiner Regierungsgeschäfte von der ›Großen Stadt‹ aus. Und als Mitglied der Ehrengarde ist mein Platz stets an seiner Seite, ganz gleich, ob er sich in der Wüste aufhält oder in Taitu.«
Beatrice sah Marco forschend an. Etwas in seiner Stimme klang ironisch, so als würde er sich über den Khan und die höfischen Protokolle lustig machen.
»Beatrice, komm«, sagte Maffeo. Er zog die Augenbrauen zusammen und rieb sich die Stirn, als litte er plötzlich unter Kopfschmerzen. »Es geht bereits auf die Mittagszeit zu und…«
»Lieber Onkel, gebt Ihr mir die Erlaubnis, Euren Gast heute zu entführen?«, fragte Marco. »Beatrice, würdet Ihr mir die Ehre erweisen und heute mit mir speisen? Mein Onkel wird wegen der bevorstehenden Abreise sehr beschäftigt sein und Euch nicht einmal einen Bruchteil der Aufmerksamkeit widmen können, die Ihr verdient.«
Beatrice wurde wieder rot und ärgerte sich über sich selbst. Dieser Kerl war unverschämt, er war eingebildet. Aber er sah gut aus, er hatte Charme und ausgezeichnete Manieren. Und außerdem war er Marco Polo. Man bekam schließlich nicht jeden Tag die Gelegenheit, mit einer so wichtigen historischen Persönlichkeit zu speisen.
»Nun, werdet Ihr nicht auch viel zu tun haben?«, fragte Beatrice. Ein überaus schwacher, halbherziger Versuch, Widerstand zu leisten, das musste sie sogar selbst zugeben. Aber wenigstens versuchte sie es.
Marco lachte. Es war ein angenehmes, sympathisches Lachen. Und dieses Lachen spülte Saddins warnende Worte einfach mit sich fort.
»Nein. Der Großteil meines Besitzes befindet sich bereits seit zwei Jahren in Taitu. Und den kläglichen Rest packen meine Diener auch ohne meine Hilfe zusammen. Also, was ist? Macht Ihr mir die Freude? Bitte!«
Marcos Augen flehten sie an, sie lagen förmlich auf Knien vor ihr. Die letzten Reste ihres Widerstands schmolzen dahin. Gegen diesen Blick war sie machtlos.
»Gern«, antwortete Beatrice und versuchte Maffeos missbilligenden Blick zu ignorieren.
»Gut, dann lasst uns gehen«, sagte Marco und bot ihr seinen Arm an. »Verehrter Onkel, Ihr entschuldigt uns?«
Beatrice hakte sich bei Marco unter und ging gemächlich mit ihm davon.
Ein paar Stunden später saß sie Marco gegenüber auf einem niedrigen Schemel. Sie tauchte ihre Hände in eine Schüssel mit klarem Wasser, tupfte sich den Mund und trocknete sich mit einem weißen Tuch ab, das ihr eine Dienerin reichte. Sie war satt und zufrieden. Obgleich Maffeos Koch jeden Tag sehr leckere Sachen für sie zubereitete, hatte sie schon lange nicht mehr so gut und ausgiebig gespeist. Marco hatte ein wahres Festmahl auffahren lassen. Es gab eine klare Fleischbrühe mit Pilzen und hauchfeinen Nudeln, geröstete Ente mit verschiedenen Gemüsen und dazu eine süß-saure Soße, gebackene Hühnerflügel, gedämpfte Fischbällchen, Flusskrebse in einer scharfen Soße und gebratene Nudeln, die so exzellent gewürzt waren, dass man beinahe süchtig danach werden konnte. Dazu reichten die Diener natürlich viel Reis und einen köstlichen grünen Tee, der zart nach Jasminblüten duftete.
Vielleicht ist aber auch nur die angenehme Gesellschaft der Grund, weshalb ich dieses Essen so genossen habe, dachte Beatrice, während ein Diener ihr eine Schale mit frischen Pflaumen, Pfirsichen und Litschis reichte.
Bisher hatte sie fast immer allein gegessen. Maffeo war sehr beschäftigt und fand meist keine Zeit, um mit ihr zusammen zu essen, sodass in der Regel nur Ming anwesend war, um sie zu bedienen. Und die alte Chinesin war alles andere als ein guter Gesprächspartner.
Ganz anders Marco. Er konnte überaus plastisch erzählen und tat es mit Begeisterung. Er mochte zwar kaum dreißig Jahre alt sein, aber er hatte bereits viel erlebt. Er hatte von seiner Ankunft am Hof des Khans berichtet, von Taitu, den Eigenheiten Khubilais und anderer Mitglieder der kaiserlichen Familie und den Wundern, denen er auf seinen ausgedehnten Reisen durch das Reich bereits begegnet war. Beatrice hätte noch stundenlang zuhören und jedes Wort, das von seinen Lippen tropfte, in sich aufsaugen können wie ein trockener Schwamm. Kein Wunder, dass noch Jahrhunderte nach seinem Tod seine Reisebeschreibungen die ganze Welt faszinierten. An diesem Mann war ein großer Schriftsteller verloren gegangen.
»Maffeo erzählte mir, dass viele hier in Shangdou dem Umzug nach Taitu nicht gerade mit Freuden entgegensehen«, sagte Beatrice, nachdem die Diener das wunderschöne, mit Blumen und Drachen bemalte Geschirr abgeräumt hatten. »Was haltet Ihr davon?«
»Ich halte Khubilais Entscheidung für sehr klug«, antwortete Marco und drehte nachdenklich seine Teeschale in der Hand. »Taitu liegt im Herzen des Reiches, von dort kann er alle Provinzen mühelos und innerhalb kurzer Zeit erreichen. Es ist ein starkes Symbol, das besonders den Chinesen sehr viel bedeutet. Es zeigt ihnen, dass Khubilai nicht allein der Khan der Mongolen ist, sondern auch der Sohn des Himmels, der Herrscher über die Chinesen. Für eine Nation, die aus zwei so verschiedenen Völkern besteht, ist das ein überaus wichtiges Signal. Außerdem«, er lächelte, »sind die Handelswege nach Taitu viel günstiger. Denkt allein an die frischen Pflaumen und Pfirsiche, die wir gerade verzehrt haben. Hier in Shangdou sind das so seltene Köstlichkeiten, dass man sie mit Gold aufwiegt. Nach Taitu hingegen kommen fast täglich Karawanen aus den südlichen Provinzen, reich beladen mit Obst und Gemüse.«
»Das klingt eigentlich so, als müsste jeder dankbar sein, dass der Khan nach Taitu umziehen will«, sagte Beatrice. »Und trotzdem sind Einwände zu hören?«
Marco zuckte mit den Schultern. »Es gibt eben überall verbohrte, verstockte Menschen«, erwiderte er und schnippte sich ein Reiskorn von seiner Hose. »Die Leute haben Angst vor der Veränderung. Was neu ist, wird kategorisch abgelehnt. Sie vergessen, dass fünftausend Arbeiter zwanzig Jahre lang geschuftet haben, um diese Stadt zu errichten, und dass Hunderte von ihnen dabei ihr Leben ließen. Stattdessen erfinden sie lieber düstere Prophezeiungen.«
» Prophezeiungen?«
»Ja, einige Alte, Schamanen und irgendwelche Großmütter, die angeblich über das zweite Gesicht verfügen, wollen schlechte Omen gesehen haben. Sie sagen, dass Khubilai mit dem Umzug nach Taitu die Verbindung zu den Ahnen durchtrennt und sich und das mongolische Volk dadurch dem Untergang preisgibt. Sie behaupten sogar, dass Khubilais Herrschaft in Taitu keine zehn Jahre dauern wird, dann werden ihn angeblich die Chinesen stürzen.« Marco zuckte erneut mit den Schultern. »Aber das ist nur das Geschwätz seniler Greise. Nichts, was man ernst nehmen sollte. Hätten wir damals auch auf die Unkenrufe einer alten Tante gehört, würden wir jetzt immer noch in unserem Geschäft in der Nähe des Markusplatzes sitzen und Juwelen an venezianische Edelfrauen verkaufen.«
»Da habt Ihr sicher recht. Doch meint Ihr nicht auch, dass man die Tradition und insbesondere den Glauben eines Volkes nicht einfach so außer Acht lassen sollte?«, wandte Beatrice ein.
»Möglich. Aber ist nicht jeder Glaube so gut wie der andere? Wenn der Glaube der Mongolen in Taitu nicht mehr zu ihrem Leben passt, sollten sie eben ihren Glauben ändern.«
Marco lächelte. »Der Khan tut es doch auch. Die Mongolen sollten ihrem Herrscher nacheifern, dann gäbe es keine Probleme mehr.«
Beatrice wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Natürlich verabscheute sie Intoleranz und Fanatismus zutiefst, aber dieser oberflächliche Umgang mit Religion, wie Marco ihn offensichtlich praktizierte, gefiel ihr ebenso wenig. Den Glauben zu wechseln, so wie es gerade in die Lebensumstände passte, das war falsch. Solche Menschen würden auch ohne zu zögern einen Pakt mit dem Teufel schließen.
»Es ist spät geworden«, sagte sie und merkte, dass sie auf ihr Handgelenk geschaut hatte. Dabei trug sie natürlich keine Armbanduhr, sonst nicht und hier, am Hof des Khans, schon gar nicht. »Ich werde jetzt besser gehen.«
»Aber warum denn?«, fragte Marco. »Von mir aus könnt Ihr gerne bleiben. Maffeo wird mit dem Einpacken auch allein fertig. Er hat eine überaus tüchtige Dienerin.«
»Das mag zwar sein«, erwiderte Beatrice und lächelte verlegen, »aber trotzdem möchte ich ihm nicht die ganze Arbeit allein überlassen. Vielleicht kann ich mich ja nützlich machen. Und wenn nicht, habe ich wenigstens kein schlechtes Gewissen.«
»Nun gut, ich werde Euch nicht bedrängen.« Marco half ihr beim Aufstehen und klatschte dann in die Hände. »Einer meiner Diener wird Euch zu Euren Gemächern begleiten.«
»Ich danke Euch für das ausgezeichnete Essen.« – Marco verbeugte sich lächelnd und ergriff ihre Hand. »Ich bin derjenige, der Euch danken muss. Eure Gesellschaft hat diesem Tag erst seinen Glanz verliehen.« Er beugte sich vor und küsste ihren Handrücken. »Ich wünschte, wir könnten das wiederholen, zu jeder Zeit, wenn Ihr wollt. Ich stehe Euch zur Verfügung.«
Während Beatrice dem jungen Diener quer durch den Palast folgte, ärgerte sie sich über sich selbst. Noch heute Nacht hatte sie sich vorgenommen, Marco gegenüber vorsichtig zu sein. Und was war geschehen? Keine fünf Minuten nachdem sie ihm begegnet war, hatte sie ihre guten Vorsätze bereits vergessen.
Was bist du nur für eine dumme Gans!, schimpfte sie mit sich. Du solltest vielleicht mal einen Blick in deinen Personalausweis werfen, ob du wirklich schon über dreißig bist. Deinem Benehmen nach zu urteilen, bist du keinen Tag älter als sechzehn.
Als sie wenig später in ihren Gemächern eintraf, war sie überrascht, wie weit die Diener mit ihrer Arbeit bereits gekommen waren. Überall standen mit Stroh und Sägespäne gefüllte Kisten, die Wände waren kahl, die beiden Stühle und die niedrigen Tische fehlten, und ein Diener leerte die Schubladen der Kommode. Inmitten der Betriebsamkeit stand Ming und gab Anweisungen in alle Richtungen. Sogar das junge verletzte Mädchen humpelte mit dick verbundenen Beinen durch das Zimmer und packte Wäsche in eine Reisetruhe.
Auf dem Bett saß Maffeo und sah dem Ganzen zu. Er wirkte ein wenig verloren, so als wüsste er nicht, warum er hier war und was das alles bedeuten sollte, was um ihn herum vorging. Erst als Beatrice ihn ansprach, sah er auf.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte er.
Beatrice wusste zwar nicht genau, was er damit meinte, aber sie nickte.
»Ja«, sagte sie und setzte sich neben ihn. »Allerdings bin ich so satt, dass ich wahrscheinlich heute keinen Bissen mehr hinunter kriege.«
»Und sonst?« Maffeo sah Beatrice mit dem Blick eines Vaters an, der befürchtet, dass seine einzige Tochter soeben entjungfert worden war.
»Nichts weiter«, antwortete sie und ärgerte sich. So rührend seine Besorgnis um ihr Wohlergehen auch gemeint sein mochte, was fiel Maffeo ein? Sie war nicht seine Tochter. Außerdem war sie alt genug, um selbst zu entscheiden, was sie wann tun wollte – und mit wem.
»Verzeih mir«, sagte Maffeo und legte ihr kurz eine Hand auf den Arm. »Ich habe mir nur Sorgen um dich gemacht. Du warst lange fort.«
Beatrice beschloss, es dabei zu belassen. Sie hatte keine Lust, sich den bisher recht angenehmen Tag mit einem Streit zu verderben.
»Kann ich noch beim Zusammenpacken behilflich sein?«
Maffeo schüttelte den Kopf. »Nein. Wie du siehst, hat Ming alles im Griff. Im Grunde genommen sind wir beide hier überflüssig.«
Er seufzte, schwieg und starrte wieder auf den Boden vor seinen Füßen. Beatrice fragte sich, weshalb sie nicht doch länger bei Marco geblieben war. In ihm hatte sie wenigstens einen angenehmen, ansehnlichen Gesprächspartner, mit dem die Zeit sicherlich schnell vergangen wäre. Hier hingegen konnte sie nichts weiter tun, als auf dem Bett herumzusitzen und sich tödlich zu langweilen.
Nun ja, dachte sie missmutig, auch das wirst du überleben. Schließlich ist das nicht deine erste Fehlentscheidung.