Die ein Traumgebilde mit zierlichen, goldenen Säulen und rot lackiertem Dach erhob sich vor Beatrice der Tempel, als sie auf den Stufen stand und emporblickte. Sie war allein. Maffeo, Li Mu Bai und sogar Marco hatten zwar angeboten, sie zu begleiten, aber sie hatte abgelehnt. Es gab Wege, die musste man allein zurücklegen. Zentnerschwere Bleigewichte schienen an ihren Beinen und Schultern zu hängen, als sie mühsam die hundert Stufen hinaufkroch. Zögernd, fast widerstrebend, als müsste sie sich erst durch eine unsichtbare Barriere hindurchkämpfen, betrat sie das Tempelinnere. Und im gleichen Augenblick wusste sie, dass sie das Richtige getan hatte. Dass es richtig war, hierher zu kommen.
Hunderte, nein Tausende von Kerzen brannten in dem fensterlosen hohen Raum. Rauchwolken stiegen aus zahlreichen Messingschalen zur Decke empor und verbreiteten den reinigenden Geruch von Beifuß. Im hinteren Teil des Tempels standen etwa ein Dutzend Mönche. Beatrice nahm ihre Anwesenheit kaum wahr. Für sie waren sie nichts als orange Farbkleckse zu Füßen der großen goldüberzogenen, still in sich hineinlächelnden Buddhastatue. Trotzdem hörte sie laut und deutlich das »Ommm« vieler Männerstimmen, diese Silbe, deren Schwingung bei Aufzeichnungen im Oszillografen die Form einer perfekten Sinuskurve hatte. Ihr Klang drang bis tief in die Eingeweide, sogar bis ins Hirn, und legte eine sanfte, schützende Decke über ihren Schmerz. Während sie langsam den Raum durchquerte, wurde ein Gong geschlagen, immer wieder, in regelmäßigen Abständen. Aber es war nicht der erhabene, dröhnende Klang des Gongs, der bei kaiserlichen Audienzen ertönte. Sein Ton war tief und dumpf, schwermütig, klagend und fast ohne Widerhall. Es hatte keinen Zweck, sie musste den Tatsachen ins Auge sehen. Dies war der Gong des Todes.
In der Mitte des Raums lag Dschinkim aufgebahrt auf dem Rücken. An seinem Kopf und zu seinen Füßen standen Messingschalen, aus denen Rauchsäulen aufstiegen. Seine lockigen schwarzen Haare quollen unter einem prächtigen Helm hervor. Jemand hatte ihm die Haare gekämmt und sie mit einem duftenden Öl eingerieben, sodass sie im Licht der Kerzen glänzten wie poliertes Ebenholz. Seine Rüstung war aus silbernen Platten gearbeitet, die von goldenen Gliedern zusammengehalten wurden. Dschinkims Hände lagen auf seiner Brust und hielten den Griff seines Schwerts. Er sah unbeschreiblich schön aus, wie ein strahlender Held oder ein sagenumwobener Krieger, der in tiefem Schlaf auf das Wort seines Herrn wartet, um aufzustehen und wieder in die Schlacht zu ziehen – neuen, noch ruhmreicheren Taten entgegen. Aber Beatrice wusste es besser. Dschinkim schlief nicht. Aus diesem Traum gab es kein Erwachen.
Sie legte eine Hand auf seine kalten, rauen Hände. So, wie sie es während der ganzen letzten Nacht getan hatte. Während dieser langen, qualvollen Nacht, in der sie nichts hatte tun können, als zuzusehen, wie ein blauer Fleck nach dem anderen an seinem Körper aufgetaucht war. Es waren Einblutungen in die Haut, ein Zeichen dafür, dass die Leber es nicht mehr geschafft hatte, genügend Gerinnungsfaktoren zu produzieren. Es waren die blauen Flecken eines Kriegers, der in eine aussichtslose Schlacht gezogen und von einem heimtückischen, unsichtbaren Gegner besiegt worden war. Dank der Kleidung war davon nichts mehr zu sehen. Er war schön. Sein Gesicht sah so friedlich aus, selbst die gelbe Farbe konnte es nicht mehr verunstalten. Hilflos hatte sie mit ansehen müssen, wie diese ungesunde Färbung unaufhaltsam seinen natürlichen Hautton verdrängt hatte. Minute um Minute, Stunde um Stunde hatte sie den Verfall dieses starken, unbeugsamen Mannes miterlebt. Sie hatte gespürt, wie sein Herzschlag immer unregelmäßiger geworden war. Und sie hatte gehört, wie seine Atemzüge immer tiefer und seltener kamen – bis sie schließlich ganz aufgehört hatten. Und dann war mit seinem letzten Atemzug auch ein Teil von ihr gestorben. Es gab kein Zurück mehr.
Vorsichtig berührte sie Dschinkims Stirn. Sie war kalt. Eisig kalt. Sanft streichelte sie über seine kühlen Wangen, fuhr mit dem Finger die Konturen seines Gesichts entlang – die Form seiner Brauen, die leicht gebogene Nase, das kräftige Kinn, die Falten um Mund und Augen. Es war Zeit, Abschied zu nehmen, endgültig. Beatrice beugte sich vor und küsste ihn. Seine Lippen waren kalt, gefühllos. Trotzdem bildete sie sich ein, dass er ihren Kuss spürte, dass seine unsterbliche Seele ihn erwiderte. Sie küsste ihn noch einmal und zeichnete mit dem Finger seine vollen Lippen nach. Diese Lippen, deren Wärme sie so gern gespürt hätte, wenigstens ein Mal. Es war zu spät.
Beatrice sah auf. Sanft und allwissend vor sich hin lächelnd, blickte die im Lotussitz verharrende Buddhastatue auf sie herab. Sie wusste nicht, ob Dschinkim Buddhist gewesen war. Aber selbst wenn er immer noch zu den Göttern seiner Ahnen gebetet hatte, den Göttern der Steppe und des Windes, so war es gut und richtig, dass man ihn hierher gebracht hatte. Sie war sicher, dass Dschinkim damit einverstanden war. Dieser Tempel gab ihm wenigstens im Tod die Ruhe und den Frieden, die ihm im Leben gefehlt hatten. Beatrice warf noch einmal einen Blick auf sein schönes, eindrucksvolles Gesicht, streichelte ein letztes Mal seine Wangen und seine Hände. Ein allerletztes Mal. Dann ging sie.
Beatrice stand vor den Toren des Tempels und beobachtete die Menschen auf der Straße unter ihr. Zu Pferd, zu Fuß oder mit Wagen hetzten, schoben und drängelten sie sich, als läge das Ziel am Ende der Straße und der Preis für den Sieger wäre ein immerwährendes Glück. Es war erstaunlich, dass das Leben hier seinen ganz normalen Rhythmus hatte. Eigentlich hätte die Zeit stehen bleiben müssen.
Die Sonne ging gerade unter. Und plötzlich, noch während Beatrice die Stufen hinabstieg, entstand ein Bild vor ihren Augen. Sie sah die Steppe, die Steppe vor den Toren von Shangdou. Die Sonne versank als blutroter Ball hinter dem Horizont und tauchte das weite grasbedeckte Land in ihr rotgoldenes Licht. Die Türme Shangdous erstrahlten, durchsichtig wie goldeingefasstes Glas. Ein einzelner Reiter galoppierte über die Hügelkuppe auf die Stadt zu. Er sah aus wie ein mongolischer Krieger. Seine Rüstung strahlte silbern und funkelte in der Sonne. Er kam Shangdou immer näher. Und dann sah Beatrice, dass sich die Tore der Stadt langsam öffneten und hinter dem Reiter wieder schlossen.
Beatrice war froh, als die Tür zu ihrem Gemach hinter ihr ins Schloss fiel. Mühsam, Meter für Meter hatte sie sich vom Tempel hierher in den Palast zurückgeschleppt. Der Schmerz, der sie noch vor Kurzem hell und scharf durchbohrt hatte, war verschwunden. Die friedliche Atmosphäre des Tempels hatte ihn beseitigt. Zurückgeblieben war eine Leere, ein Vakuum, ein schwarzes Loch in ihrer Seele.
Ohne sich zu entkleiden, ließ Beatrice sich auf ihr Bett fallen. Jen zog ihr die Schuhe von den Füßen, aber sie merkte es kaum. Es war, als würde die junge Dienerin jemand anderen entkleiden, eine Fremde, deren Körper nicht zu ihr gehörte. Sie spürte nichts mehr – keinen Schmerz, keine Angst, keine Wut, nur noch Müdigkeit und Leere. Es war, als würde sie gerade aus einer Narkose erwachen. Sie schloss die Augen.
Ein Geräusch drang an ihr Ohr, ein Pochen, ein Klopfen. Vielleicht war es ihr eigener Herzschlag, der in ihren Ohren dröhnte und den sie am liebsten abgestellt hätte. Wieso schlug ihr Herz noch, wenn Dschinkim tot war? Das war ein übler Scherz.
Nach einer Weile registrierte sie, dass das Klopfen aufgehört hatte. Trotzdem lebte sie immer noch, atmete. Irgendwo in einem Teil ihres Hirns regte sich der Gedanke, dass sie gar nicht ihren Herzschlag gehört, sondern dass jemand an die Tür geklopft hatte. Jemand, der etwas von ihr wollte. Sie versuchte, Jen zu sagen, dass sie niemanden empfange, doch ihre Zunge lag unbeweglich in ihrem Mund, dick und unförmig wie ein Klumpen Knetmasse.
Jemand zog und rüttelte an ihrem Arm und rief ihren Namen. Nur widerwillig drehte Beatrice ihren Kopf, schlug die Augen auf und erkannte Tolui.
Sein junges, hübsches Gesicht war von Schmerz gezeichnet. Aber da war noch etwas anderes. Wut. Tolui war außer sich vor Zorn. Allmählich, ganz langsam merkte Beatrice, dass er immer wieder dasselbe sagte, immer wieder dieselben Worte benutzte. Es dämmerte ihr, dass er mit ihr sprach, dass er ihr etwas mitteilen wollte. Und schließlich verstand sie ihn.
»Maffeo Polo, der Venezianer, hat meinen Onkel umgebracht!«
Mit einem Ruck setzte sich Beatrice auf. Sie war schlagartig wach. Innerhalb von Hundertstel Sekunden waren Lethargie und Schwere von ihr gewichen. Sie packte Toluis Handgelenk.
»Was hast du gesagt?«
»Maffeo Polo hat Dschinkim, den Bruder und Thronfolger des Khans, meinen Onkel, getötet!«
Beatrice sah ihn an. Sein Gesicht war bleich, seine Nasenflügel blähten sich, zornige Falten bildeten sich auf seiner Stirn. Was er sagte, klang verrückt, wie das Resultat der wirren Gedankenwelt eines Wahnsinnigen. Und wer weiß, vielleicht war er wirklich durchgedreht, wahnsinnig vor Schmerz und Trauer um den geliebten Onkel. Aber da waren seine Augen. Klare, leuchtende grüne Augen. Dschinkims Augen. Und sie wusste, dass er nicht verrückt war, ganz gleich, wie seltsam und befremdlich das, was er behauptete, auch klingen mochte.
Beatrice schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Du irrst dich. Maffeo würde so etwas nicht tun. Dschinkim ist…« Sie brach ab. »Er war Maffeos Freund. Sie sind gemeinsam zur Jagd gegangen, sie…«
»Ich wollte es zuerst auch nicht glauben«, fiel Tolui ihr ins Wort. Seine Stimme bebte vor mühsam unterdrücktem Zorn. »Aber es ist wahr. Maffeo Polo hat Dschinkim getötet. Und ich habe sogar Beweise dafür.«
Beatrice schloss die Augen. »Beweise?«, fragte sie kläglich. Ihre Kehle war staubtrocken. »Was für Beweise?«
»Das Gift, das meinen Onkel getötet hat, war in seinem Abendessen. Es waren Pilze. Fremde Pilze aus dem Abendland. Und sie waren ein Geschenk von Maffeo Polo.«
Pilze? Natürlich. Der berühmte, gefürchtete, tödliche Knollenblätterpilz. Das musste es sein. Eine Vergiftung mit diesem Pilz führte innerhalb von relativ kurzer Zeit zu einer schweren Gastroenteritis und dann unbehandelt zum Leberversagen. Beatrice wurde schwindlig. War sie denn aus dem einen Albtraum erwacht, nur um in den nächsten hinüberzugleiten?
»Erzähl mir alles«, sagte sie. »Alles, was du herausgefunden hast.«
»Gut. Aber es wird nichts an den Tatsachen ändern.« Tolui straffte die Schultern. »Du selbst hast mir aufgetragen, Taijin nach den Speisen zu befragen, die Dschinkim zuletzt zu sich genommen hat. Das habe ich getan. Nichts von allem war ungewöhnlich. Er hat Reis zubereitet und Fleisch, am Spieß über dem Feuer gebraten, so wie es mein Onkel lie…« Er biss die Zähne zusammen und schluckte. Es war ihm deutlich anzumerken, welche Willensanstrengung es ihn kostete, vor Beatrice nicht in Tränen auszubrechen. »So wie es mein Onkel liebte. Aber da waren Pilze, Pilze, wie sie nicht bei uns wachsen, eine ganze Reisschale voll. Maffeos Diener brachte sie mit den besten Grüßen von seinem Herrn, als ein Geschenk aus dem Abendland für Dschinkim. Der Diener schärfte Taijin ein, dass nur Dschinkim von diesen Pilzen essen dürfe, weil sie so kostbar und erlesen seien. Die Pilze hatten eine weite Reise hinter sich und waren getrocknet, so dass Taijin sie erst in Wasser einweichen musste, bevor er sie zubereiten konnte. Von allen Speisen hat auch er selbst gegessen. Nur die Pilze hat er, so wie der Diener es ihm befohlen hatte, nicht angerührt.«
Beatrice rieb sich die Stirn. »Aber das beweist doch gar nichts. Überleg doch mal. Wenn Maffeo wirklich die Absicht gehabt hätte, Dschinkim zu töten, glaubst du tatsächlich, er wäre so dumm gewesen, seinen Diener mit den Pilzen zu Dschinkim zu schicken und ihn sagen zu lassen, dass sie von ihm sind? Wenn die Pilze also tatsächlich von Maffeo stammen, kann es sich nur um einen Unfall gehandelt haben. Einen unglücklichen Zufall, durch den unter den essbaren Pilzen auch ein oder zwei giftige waren. Es gibt aber auch noch andere Möglichkeiten. Der Diener könnte bestochen worden sein, und die Pilze kamen in Wirklichkeit gar nicht von Maffeo. Oder aber Taijin sagt nicht die Wahrheit.« Sie holte erschöpft Luft. »Wie äußert sich denn Maffeo zu den Vorwürfen?«
Tolui zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Aber er wird schon reden.« Ein grimmiges Lächeln huschte über sein Gesicht. »In diesem Augenblick steht der feige Mörder nämlich vor meinem Vater. Und den Khan anzulügen, das hat noch niemand gewagt.«
»Und der Diener? Hat man ihn schon befragt?«
Tolui schüttelte den Kopf. »Der Schurke hat sich selbst gerichtet. In einem Anfall von Reue hat er sich das Messer in die Brust gestoßen. Vielleicht war ihm der Gedanke, bei einer derart ruchlosen Tat der Helfer gewesen zu sein, unerträglich. Und bald wird diesen feigen Hund Maffeo ein ähnliches Schicksal ereilen. Ich hoffe, dass mein Vater ihn an die Sättel von vier Pferden binden lässt, die seinen Körper in Stücke reißen, oder…«
»Tolui!«, rief Beatrice entsetzt aus. »Vergiss nicht, dass Maffeo auch dein Freund ist. Er hat dir nie etwas Böses getan.«
»Das mag sein. Doch jetzt hat er sein wahres Gesicht gezeigt.«
Beatrice schwieg. Es hatte keinen Sinn, mit Tolui zu reden. Er war so voller Hass und verbohrt in seiner einmal gefassten Meinung, dass jedes Wort vergeudet war. Da kam ihr eine Idee. Es war nur ein vager Hauch von einer Hoffnung, aber immerhin. Sie musste dem nachgehen.
»Komm mit, Tolui, wir wollen uns gemeinsam den Diener ansehen.« – »Welchen Diener?«
»Maffeos Diener, den, der Selbstmord begangen hat.«
»Den Toten?« Toluis Stimme klang entsetzt.
»Ja. Ich will mich davon überzeugen, dass er sich wirklich selbst gerichtet hat und dabei nicht nachgeholfen wurde.«
Heimlich drangen sie in den Raum ein, in dem der tote Diener lag und auf seine Bestattung wartete. Der Leichnam ruhte auf einer schmucklosen Bahre aus Bambusstäben, eine einzige Räucherschale stand zu seinen Füßen, es gab keine Kerzen. Kein Vergleich zu Dschinkims Aufbahrung. Aber natürlich gab es zwischen den beiden Unterschiede – der eine war Herr, der andere Diener; der eine Opfer, der andere sein – wenn vielleicht auch unbeabsichtigter – Mörder.
Der Diener war bereits in ein großes weißes Baumwolltuch gehüllt. Neugierig sah Tolui zu, wie Beatrice die Leiche langsam und vorsichtig wieder auswickelte. In seinem Gesicht wechselten Ekel und Faszination einander rasch ab.
Beatrice betrachtete den Toten eingehend. Er war Chinese, zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahre alt und sehr schlank. Er trug die Kleidung, die alle Diener am Hof des Khans trugen – eine weite weiße Hose und darüber ein weites weißes Hemd mit hochgeschlossenem Kragen. Auffällig waren nur seine neuen Schuhe aus goldbestickter purpurfarbener Seide und der hässliche rot geränderte Riss, der über seiner linken Brust klaffte. Darunter war die Stichwunde zu sehen. Die Waffe lag neben ihm. Jemand hatte den Dolch aus seiner Brust entfernt. Offensichtlich sollte er nicht mit einem Dolch in der Brust ins Jenseits gehen. Dann glitt ihr Blick wieder zu den Schuhen.
»Purpur für einen Diener?«
»Was?«
»Ach nichts. Ich habe nur laut nachgedacht. Wie hat man ihn gefunden?«, fragte Beatrice Tolui und tastete behutsam die Wunde ab.
»Er lag in der Dienerkammer auf seinem Bett, auf dem Rücken. Mit beiden Händen hielt er den Dolch umklammert, den er sich selbst ins Herz gestoßen hat.«
»Ich wäre da nicht so voreilig«, sagte Beatrice und suchte erfolglos nach weiteren Verletzungen am Körper des Toten. »Ich mag mich täuschen, aber für einen Stich ins Herz hat er nur sehr wenig geblutet.«
Tolui sah sie verständnislos an. »Und?«
»Wenn er nicht durch Zufall sein eigenes Herz wie ein Profi getroffen hat und der Tod innerhalb von Sekunden eingetreten ist, kann das nur bedeuten, dass er bereits tot war. Und das wiederum heißt, dass er es wohl kaum selbst getan haben kann.«
Tolui runzelte die Stirn. »Aber hätten wir dann nicht Spuren eines Kampfs sehen müssen?«
»Nicht, wenn er bereits tot war, als man ihn in sein Bett legte. Vielleicht wurde er an einem anderen Ort getötet und anschließend in sein Zimmer gebracht. Und vor allem…« Sie hatte plötzlich eine Idee. Eine Geschichte aus der Rechtsmedizin-Vorlesung fiel ihr ein. Der Professor hatte von einem Arzt berichtet, der auf dem Totenschein »Natürlicher Tod« eingetragen und dabei die Stichwunde am Rücken des Toten übersehen hatte. »Hilf mir bitte, ihn umzudrehen.«
Gemeinsam drehten sie den Diener auf die Seite. Das hatte vorher bestimmt noch niemand getan. Trotzdem wurden ihre Hoffnungen enttäuscht. Am Rücken war keine weitere Wunde zu erkennen. Schade. Ihre Theorie vom heimtückischen Mord wollte sich gerade in Nichts auflösen, als sie eine neue Idee hatte. Sie nahm das dichte, zu einem langen Zopf geflochtene schwarze Haar des Dieners beiseite. Und tatsächlich…
»Na also!«
Tolui sah sie verständnislos an. Beatrice vermochte ein Lächeln nicht mehr zu unterdrücken, so unpassend es angesichts der Leiche vor ihr auch war. Sie hätte jubeln können. Dies war der Beweis, nach dem sie gesucht hatte. Der Beweis, dass Maffeo Dschinkim nicht getötet hatte, sondern dass das Ganze nichts weiter als eine überaus geschickt eingefädelte Intrige war.
»Siehst du diese Wunde direkt unter seinem Haaransatz?«, fragte sie und deutete auf die Stella. Es war kaum mehr als ein kleiner dunkler Punkt. Ein Fleck, den man bei oberflächlicher Betrachtung leicht für ein Muttermal halten konnte. Aber es war Blut. Dunkles, getrocknetes Blut. »Wenn du einen Menschen schnell töten willst, musst du dein Messer dorthin stechen, direkt zwischen Schädel und ersten Halswirbel. Damit durchtrennst du das Stammhirn, und der Mensch stirbt innerhalb kürzester Zeit, ohne jemals die Chance zu haben, sich zu wehren. Er ist nicht einmal mehr in der Lage, zu schreien.«
»Aber diese Wunde ist so klein!«, wandte Tolui ungläubig ein. »Wie kann so ein winziger Stich…«
»Der menschliche Körper ist viel zerbrechlicher, als es den Anschein hat. Für einen Mord wie diesen braucht man kein Schwert. Ein Stichwerkzeug vom Durchmesser meines kleinen Fingers ist völlig ausreichend. Natürlich muss man die Stelle kennen. Und das, Tolui, kann nur eines bedeuten.« Sie sah ihn triumphierend an. »Wer auch immer das getan hat, ist ein Profi. Derjenige wusste ganz genau, was er tut und wie er es tun muss, damit es nicht auffällt. Und das beweist, dass Maffeo unschuldig ist.«
Tolui atmete heftig. Es schien, als würde er mit sich kämpfen, zwischen seiner Überzeugung und Beatrices Argumenten hin und her schwanken. Doch schließlich erwiderte er ihren Blick.
»Lass uns gehen«, sagte er. »Wir müssen auf der Stelle mit meinem Vater sprechen.«
Ohne Verzögerung wurden sie zu Khubilai vorgelassen, und der Khan empfing sie tatsächlich. Beatrice erschrak, als sie ihn sah. Innerhalb weniger Stunden war Khubilai um Jahre gealtert. Alt und grau sah er aus. Gebückt saß er auf seinem Thron, seine Augenbrauen zuckten nervös.
Kein Wunder, das Schicksal hat diesen Mann hart geschlagen, dachte Beatrice. Sein Bruder ist tot. Ermordet von einem seiner besten Freunde, einem seiner engsten Vertrauten – das glaubt er wenigstens. Und das, obwohl sein Bruder ihn immer vor allzu großer Leichtgläubigkeit gewarnt hatte. Neben der Trauer um Dschinkim macht er sich bestimmt schwere Vorwürfe, weil er nicht auf ihn gehört hat.
»Was wollt ihr?«, fragte Khubilai. Seine Stimme war nur ein Schatten ihrer selbst. Sie klang kraftlos wie die eines gebrochenen uralten Mannes. »Lasst mich allein. Ich will mit niemanden sprechen.«
»Aber Vater, wir…«
»Schweig!«, donnerte Khubilai. Sein Gesicht war gramerfüllt. »Sieh dich doch um!« Er sprang von seinem Thron auf und lief kreuz und quer durch den Saal, vorbei an Tischen, Truhen und Kommoden, auf denen sehr geschmackvoll Objekte der unterschiedlichsten Art platziert waren. »Schätze! Alles Schätze, die Untertanen aus der ganzen Welt in meinem Namen zusammengerafft haben.« Er nahm einen merkwürdig ausschauenden Dolch in die Hand und schleuderte ihn fort. »Der Opferdolch des Abraham! Ein Zahn des Gautama Buddha!« Er warf die schlichte Holzkiste gegen die Wand.
»Was haben mir all diese Schätze genutzt? Was haben sie mir eingebracht? Weisheit? Frieden? Nein. Ich sage euch, sie haben mir nichts gebracht. Gar nichts! In meinem Wahn, ein Reich zu gründen für alle Menschen, für alle Religionen, habe ich vergessen, was der Mensch in Wirklichkeit ist: ein habgieriges, von Bosheit und Hinterlist durchdrungenes Ungeheuer. Hier…« Er rannte zu einem der Tische. »Da steht es, das Öl vom Grabe Jesu Christi!« Er hielt die kleine Phiole einen Augenblick in seiner Hand und betrachtete sie angeekelt. »Überreicht vom Mörder meines Bruders!« Er schmetterte die Flasche auf den Boden, sodass das Glas in tausend Scherben zersprang und das Öl überallhin spritzte.
»Vater!«, rief Tolui aus. Er lief auf den Khan zu und warf sich vor ihm auf die Knie. Tränen liefen über seine Wangen. »Vater, ich bitte dich, halt ein. Ich…«
Khubilai legte Tolui eine Hand auf den Kopf.
»Nenne mich nicht Vater. Ich bin ein Narr, ein Tor. Ein Dummkopf, der an das Gute im Menschen geglaubt hat. Aber das ist jetzt vorbei. Jetzt werde ich…«
»Aber Vater, hör doch!«, unterbrach ihn Tolui. Er schluchzte und rang seine Hände. »Bitte, hör, was wir dir zu sagen haben. Beatrice hat etwas entdeckt. Es scheint, als wäre Maffeo Polo unschuldig.«
»Gerne würde ich das glauben, aber…« Khubilai sah Beatrice an. In seinen dunklen Augen wechselten Hoffnung und Zweifel einander ab. Dschinkims Tod steckte wie ein vergifteter Pfeil im Herzen dieses Mannes. »Nun gut, so rede, Weib!«, sagte er schließlich und ließ sich müde auf seinen Thron sinken. »Zu verlieren habe ich ohnehin nichts mehr.«
Und Beatrice erzählte.
Sie erzählte von dem wenigen Blut auf der Brust des Dieners und von der in Wahrheit tödlichen Wunde am Hinterkopf, die sie schließlich gefunden hatte.
»Und, was soll das alles bedeuten?«
»Es liegt doch auf der Hand, dass jemand den Diener von hinten erstochen hat und ihn dann auf das Bett legte, damit es so aussieht, als hätte er aus Gram über seine Tat seinem Leben selbst ein Ende gesetzt.«
»Und weshalb kann Maffeo dies nicht ersonnen haben?«
»Weil er ein Kaufmann ist. Maffeo Polo mag in der Lage sein, Bilanzen zu fälschen. Er könnte auch giftige Pilze erstehen. Aber über das Wissen eines Meuchelmörders verfügt er bestimmt nicht«, erwiderte Beatrice. »Der Mörder hingegen wusste ganz genau, wie man einen Menschen schnell und lautlos tötet. Seine Vorgehensweise zeigt, dass er Erfahrung darin hat. Wer auch immer den Diener und auch Dschinkim getötet hat, ist ein gedungener Mörder, ein Attentäter. Jemand, der schon mehr als einen Mord auf dem Gewissen hat.«
»Und warum sollte er den harmlosen Diener töten wollen?«
»Damit dieser unter der Folter nicht mit der Wahrheit herausrückt, nämlich mit der Wahrheit, dass ihm nicht Maffeo den Korb mit den Pilzen gegeben hatte, sondern jemand anders. Und dass er dafür bestochen wurde.« Beatrice lächelte, als sie ihren letzten Trumpf hervorholte. »Der Diener trug bei seinem Tod neue Schuhe. Teure Schuhe aus kostbarer purpurfarbener Seide, eines Königs würdig. Ich bin sicher, wenn Ihr Taijin befragt, so wird er sich daran erinnern, dass der Diener diese Schuhe bereits trug, als er den Korb mit den Pilzen zu Dschinkim brachte. Es dürfte auch ohne Schwierigkeiten möglich sein, herauszufinden, wann und wo die Schuhe gekauft worden sind. Und ich verwette meinen rechten Arm, dass es nicht Maffeo war, der ihm die Schuhe gekauft hat.«
Khubilai sprang auf und begann aufgeregt vor seinem Thron hin und her zu laufen.
»Deine Geschichte klingt einleuchtend. Aber einen Haken hat sie doch«, erklärte er schließlich und blieb direkt vor Beatrice stehen. »Nehmen wir an, es ist so, wie du sagst. Der Diener bekam ein Bestechungsgeld dafür, dass er die Pilze brachte und Taijin erzählte, sie seien ein Geschenk von Maffeo. Weshalb war dieser Kerl dann so dumm, die Schuhe zu tragen, die er von dem Blutgeld gekauft hat? Er müsste doch wissen, dass sie an einem Diener auffallen würden.«
Beatrice zuckte mit den Schultern. »Derjenige, der ihn bestochen hat, hat natürlich nicht erwähnt, dass die Pilze Dschinkim den Tod bringen und Maffeo erheblich schaden würden. Vermutlich hat er einfach gesagt, dass er sowohl Dschinkim als auch Maffeo ganz unauffällig einen Freundschaftsdienst erweisen wolle. Und wenn es sich bei dem Unbekannten noch dazu um eine hochgestellte Persönlichkeit gehandelt hat, welchen Grund sollte der Diener gehabt haben, diesen Worten nicht zu trauen?«
Khubilai nickte nachdenklich. »Warum nur ist mir das nicht auch eingefallen?« Er schüttelte den Kopf. »Es klingt, als könnte es gar nicht anders gewesen sein.«
»Es muss so gewesen sein«, sagte Beatrice voller Überzeugung. »Denn eines habt Ihr noch nicht bedacht, großer Khan. Maffeo ist ein ehrlicher, rechtschaffener Mann. Er lebt nicht jahrelang an Eurem Hof, um dann seinen besten Freund umzubringen. Dazu wäre er gar nicht fähig, das widerspricht seinem Charakter. Allerdings hatte ich damit gerechnet, dass Ihr das auch wisst.«
Khubilai holte tief Luft. »Du hast mir eine Lehre erteilt, Beatrice, Frau aus dem Norden des Abendlandes. Und ich werde sie so schnell nicht vergessen.« Er nickte. »Du hast recht. Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte wissen müssen, dass Maffeo unschuldig ist. Dass er lieber selbst sterben würde, als meinem Bruder, seinem Freund, mit dem er so oft zur Jagd gegangen ist, mit dem er so viel geteilt hat, ein Leid zuzufügen. Kommt mit, wir müssen zu Maffeo und ihn von diesem schrecklichen Verdacht freisprechen. Schnell, bevor ein Unglück geschieht. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
Beatrice und Tolui sahen sich an.
»Warum…«
Khubilai atmete heftig. »Ich liebe Maffeo Polo wie einen Bruder. Deshalb war mir die Vorstellung, ihn dem Henker oder gar dem Zorn des Volkes zu überlassen, ein Gräuel. Wegen unserer Freundschaft wollte ich es ihm selbst in die Hand legen, sich zu richten. Auf meine Weisung hin wurde ihm bereits vor zwei Stunden das Schwert gebracht.«
Sie liefen durch den Palast, sie rannten die schmalen Wege zwischen den unzähligen Gebäuden entlang. Diener sprangen erschrocken zur Seite und drehten sich überrascht nach ihnen um. Kaum einer von ihnen wollte seinen Augen so recht trauen, dass einer der drei Verrückten, die scheinbar um ihr Leben liefen, wirklich und wahrhaftig Khubilai, der Khan, der Herrscher über alle Mongolen und Chinesen, war.
Endlich erreichten sie das Gefängnis. Es war ein großes, fast würfelförmiges Gebäude ohne Fenster, das einzige Gebäude in ganz Taitu, das nur aus Stein erbaut worden war. Niemandem sollte es gelingen, zu entkommen. Und darin, dass Stein schwerer zu durchdringen war als Holz, waren sich wohl Mongolen und Chinesen ausnahmsweise einig.
Die Überraschung war den Wachen vor dem Tor des Kerkers deutlich anzumerken, als sie den Khan so unerwartet und in so ungewohnter Haltung auf sich zustürmen sahen. Doch sie stellten keine Fragen. Sie hoben ihre Krummsäbel, strafften ihre Schultern und richteten ihre Blicke starr geradeaus, sodass Khubilai und seine beiden Begleiter ungehindert passieren konnten.
Sie betraten einen quadratischen, von rußenden Fackeln erleuchteten Raum. An einem halben Dutzend Tischen saßen Schreiber.
Was sie so emsig auf große Bogen Papier notierten, konnte Beatrice nicht erraten. Vielleicht waren es die aktuellen Listen der Gefangenen, Listen über Zugänge und Entlassungen, Terminpläne für die Hinrichtungen oder die Lieferungen für die Verpflegung des Wachpersonals.
Einer der Schreiber, ohne Zweifel ein Mongole, denn er trug einen dichten schwarzen Schnurrbart, sah auf. Und für einen kurzen Moment glaubte Beatrice, dass diesen Mann der Schlag getroffen hatte. Er saß auf seinem Stuhl, ohne sich zu rühren, und starrte sie mit weit geöffneten Augen und offenem Mund an.
»Starr deinen Kaiser nicht so ungehörig an!«, fauchte Khubilai ungeduldig. »Bring uns sofort zur Zelle von Maffeo Polo, dem Venezianer. Schnell!«
In der nächsten Sekunde brach ein wahrer Tumult los. Die Männer sprangen wie aufgescheuchte Hühner durcheinander, keiner schien so recht zu wissen, was er als Erstes tun sollte, bis schließlich der Mongole, der offensichtlich so etwas wie der Oberaufseher war, seine Faust auf den Tisch niedersausen ließ. Das Holz ächzte und stöhnte unter der Wucht des Schlags, aber die Männer blieben wie erstarrt stehen.
»Ihr lauft hier herum wie eine Horde kopfloser chinesischer Dirnen.« Die Stimme des Mannes donnerte über die Köpfe der anderen hinweg. »Ihr habt gehört, was der Khan von uns verlangt.«
Einem seiner Männer befahl er, drei Fackeln zu entzünden. Dann deutete er auf einen anderen. »Du siehst nach, wo dieser Venezianer untergebracht ist. Und ich selbst werde Euch, den großen Khan, hinführen. Ihr anderen geht wieder an eure Arbeit. Aber ein bisschen plötzlich!« Er verneigte sich tief vor Khubilai. »Verzeiht, Herrscher und Gebieter, zürne deinen nichtsnutzigen Untertanen nicht. Der Glanz und die Ehre Eurer Anwesenheit hat ihre einfachen Gemüter so schwer erschüttert, dass sie nicht mehr Herr ihrer Sinne sind.«
»Es sei ihnen verziehen«, sagte Khubilai. »Vorausgesetzt, sie bringen uns sofort zu Maffeo Polo. Schnell. Wir haben es eilig.«
»Jawohl, Herr und Gebieter.«
Der Oberaufseher verneigte sich wieder tief und zischte seinen Leuten dann zornig etwas zu. Die Männer gehorchten den Befehlen, und innerhalb kürzester Zeit waren sie mit drei Fackeln ausgestattet auf dem Weg durch den Kerker.
Die Luft war stickig, die vermutlich meterdicken Mauern ließen keinen Luftaustausch zu. Immer wieder sah Beatrice im Licht der Fackeln mit Speeren gespickte Seitengänge oder gähnende Löcher im Boden. Sie liefen treppauf, treppab und schmale, nur handbreite Simse entlang, die über bodenlose Gruben führten.
Oft musste der Mongole stehen bleiben und einen geheimen Hebel betätigen, damit sie gefahrlos eine Falltür passieren konnten. Als wollten sie dieses Horrorszenario noch untermalen, drangen aus den Tiefen des Kerkers die qualvollen Schreie von Gefolterten zu ihnen.
Sie gingen vorbei an zahllosen Türen aus dickem schwarzen eisenbeschlagenen Holz. Selbst wenn es einem der Gefangenen jemals gelingen sollte, diese Türen zu öffnen – die Dunkelheit, das labyrinthartige Gangsystem, die zahlreichen Fallen, Sackgassen und Gruben würden jede Flucht vereiteln. Aus diesem Gefängnis gab es kein Entrinnen. Dies hier war die Hölle.
Die Gefangenen hämmerten gegen das Holz ihrer Zellentüren.
Ohne Zweifel konnten sie die Schritte des Wärters und seiner Begleiter hören, vermutlich sogar durch Türritzen und Astlöcher den Schein ihrer Fackeln sehen. Sie schrien um Gnade, beteuerten ihre Unschuld oder verfluchten alles auf Gottes Erdboden, das im Gegensatz zu ihnen frei herumlaufen konnte. Ihre kreischenden, kaum noch menschlichen Stimmen überschlugen sich fast und verfolgten sie, bis sie außer Hörweite waren. Am schlimmsten fand Beatrice jedoch jene Zelltüren, hinter denen sich gar nichts regte. Waren sie leer, oder befanden sich dahinter Menschen, die bereits resigniert und jede Hoffnung auf Befreiung aufgegeben hatten? Oder waren die Zelleninsassen schon tot? Gestorben vor Hunger und Verzweiflung, qualvoll verreckt an letztlich banalen Infektionen?
Schaudernd dachte Beatrice an ihre Kerkerhaft in Buchara zurück.
Es waren lediglich ein paar Tage gewesen, nicht mehr als acht oder zehn, die sie in völliger Dunkelheit und Isolation hatte verbringen müssen. Und doch war sie innerhalb dieser kurzen Zeit fast verrückt geworden. Und die Dunkelheit des Kerkers, die Stille verfolgten sie immer noch in ihren schlimmsten Albträumen.
»Wir sind da«, sagte der Wärter und blieb endlich vor einer Tür stehen.
Beatrice hatte schon lange die Orientierung im Labyrinth des Kerkers verloren. Trotzdem war sie sicher, dass sie sich jetzt an seinem tiefsten und abscheulichsten Punkt aufhielten. Die Wände waren feucht, und es stank nach Schimmel, nach Urin, Kot und noch schlimmeren Dingen. Hier konnte man sich wirklich vorstellen, dass hinter einigen der Zelltüren unbemerkt verwesende Leichen lagen. Und die Schreie der Gequälten waren hier so laut, dass Beatrice glaubte, hinter dieser Tür würde sich die Folterkammer befinden. Ihr wurde schlecht, und nur unter äußerster Willensanstrengung schaffte sie es, sich nicht zu übergeben.
Der Wärter holte einen Schlüsselbund hervor und öffnete das riesige, mit Dornen gespickte Schloss.
»Geht hinein«, sagte er und trat zur Seite. »Aber seid vorsichtig, dass Ihr das Schloss nicht berührt, denn die Dornen sind mit Gift getränkt. Ich überlasse Euch zwei Fackeln und werde vor der Tür auf Euch warten. Denn allein findet Ihr niemals den Weg aus dem Kerker.«
»Wenn du einen Gott hast«, flüsterte Khubilai Beatrice ins Ohr, »dann bete jetzt zu ihm, dass wir nicht zu spät kommen.«
Die Tür öffnete sich mit einem abscheulichen Quietschen, das laut von den Wänden widerhallte. Und dann betraten sie die Zelle.
Mit angezogenen Knien kauerte Maffeo auf dem Boden. Er zitterte und verbarg sein Gesicht in seinen Händen. Das Schwert, das seinem Leiden ein Ende bereiten sollte, lag unbeachtet und – zum Glück – ungenutzt zu seinen Füßen. Eigentlich hatte er sich zusammennehmen und stark sein wollen. Doch nach allem, was er in den vergangenen Stunden durchgemacht hatte, nach allem, was ihm Khubilai, Tolui und Beatrice erzählt hatten, konnte er jetzt nicht mehr anders.
Wie Sturzbäche liefen ihm die Tränen über das Gesicht, und er schluchzte wie ein kleiner Junge. Vor Erleichterung – aber auch vor Trauer.
Khubilai saß neben ihm auf dem Boden, mitten im schimmligen Stroh, in dem es vor Ungeziefer nur so wimmelte, ohne auf seine kostbare kaiserliche Kleidung zu achten.
»Was ich getan habe, ist unentschuldbar«, sagte Khubilai leise und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Trotzdem hoffe ich von ganzem Herzen, dass es dir eines Tages gelingen möge, mir zu verzeihen.«
»Verzeihen?« Maffeo hob sein Gesicht. »Ich habe dir vom ersten Augenblick an verziehen, Khubilai. Ich kann dich verstehen. Wäre Dschinkim mein Bruder, ich hätte kaum anders gehandelt. Allerdings bin ich überglücklich, dass dieser furchtbare Verdacht nicht länger auf mir lastet. Und dass du von dem Glauben befreit bist, ich sei nichts weiter als ein heimtückischer Verräter, der sich eure Freundschaft erschlichen hat, um deinen Bruder zu ermorden.«
Khubilai schwieg. Doch er drückte Maffeos Arm, und in seinen Augen schimmerten Tränen.
»Ich danke dir, mein Freund«, sagte er schließlich mit heiserer Stimme.
»Verzeih auch mir, Maffeo Polo«, bat Tolui und sank vor Maffeo auf die Knie. »War ich es doch, der als Erster den Verdacht gegen dich ausgesprochen hat.«
Maffeo legte Tolui eine Hand auf den Kopf. Er war gerührt. Und er war glücklich. So glücklich wie schon lange nicht mehr. Er schämte sich fast deswegen, denn er musste an Dschinkim denken, seinen hoch geschätzten Freund, dessen Leben ein so schreckliches, verfrühtes Ende gefunden hatte.
»Ich verstehe dich, Tolui. Du wolltest nichts als einen abscheulichen Mörder stellen. Du hast deinen Onkel geliebt. Wir alle haben ihn geliebt.« Maffeo sah Beatrice an. »Ich danke dir, Beatrice. Ohne deine Hilfe würde ich immer noch als Dschinkims Mörder gelten. Und es gäbe keine Hoffnung für mich, jemals diesen schrecklichen Irrtum aufzuklären.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Mein armer, armer Wang. Dich trifft keine Schuld. Ich kann nur hoffen, dass du nicht leiden musstest.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Beatrice leise. »Wahrscheinlich hat er gar nichts gespürt und nicht einmal mehr erfahren, wer oder was ihn getötet hat.«
»Doch zerbrich dir darüber nicht den Kopf.« Khubilai lächelte ein wenig. »Zuerst werden wir dich wieder ans Tageslicht bringen. Und wir werden vor dem ganzen Volk von Taitu bekannt geben…«
»Nein«, unterbrach ihn Maffeo und wischte sich mit dem Ärmel seines Hemds die Tränen vom Gesicht. Er zitterte immer noch. Ihm war kalt, obwohl es hier im Kerker heiß, feucht und stickig war. Was er vorhatte, machte ihm Angst.
Aber er hatte keine andere Wahl. »Lasst mich hier im Kerker bleiben.«
»Aber…«
»Niemals!«
»Hast du den Verstand verloren?«
»Wir müssen ihn zur Vernunft bringen!«
Sie riefen alle durcheinander. Seine Freunde. Sie waren rührend in der Besorgnis um ihn. Dabei ging es doch gar nicht um ihn. Es ging um Dschinkim. Um seinen Mörder. Und um den kostbaren Stein. Er hob beschwichtigend die Hände.
»Ruhe, meine Freunde«, sagte er und lächelte. »Ruhe, dann werde ich es euch erklären.«
Allmählich beruhigten sie sich und sahen ihn erwartungsvoll an.
»Wenn wir Dschinkims Mörder finden und zur Strecke bringen wollen, müssen wir ihn – oder besser gesagt sie, denn ich glaube nicht, dass dies die Tat eines Einzelnen ist – in Sicherheit wiegen. Sie sollen glauben, dass sie ihr Ziel erreicht haben. Dass ich so gut wie tot bin. Und das geht nur, wenn ich tatsächlich hier im Kerker bleibe.« Maffeo erschauerte. Der Gedanke daran, noch länger, eventuell noch viele Tage oder sogar Wochen hier zu verbringen, erfüllte ihn mit Angst. Aber er hatte keine andere Wahl. Es mochte noch andere, bessere Wege geben, die Wahrheit ans Licht zu bringen, doch er kannte nur diesen. »Während ich hier im Kerker sitze und alle Welt dort draußen glaubt, dass ich Dschinkims Mörder bin…«
»Das kann und werde ich nicht zulassen!«, unterbrach ihn Khubilai heftig. »Ich werde nicht mit ansehen, wie dein Name weiterhin beschmutzt wird von einer ruchlosen Tat, die ein anderer begangen hat!«
»Mein Freund, glaube mir, die Gedanken der Menschen über mich sind mir gleichgültig. Für mich zählt nur, dass ihr, die ihr jetzt bei mir seid, die Wahrheit kennt. Ich werde also im Kerker bleiben. Und währenddessen musst du, Beatrice, den Stein holen.«
»Ich?« Beatrice sah ihn entgeistert an.
Maffeo fragte sich, ob sie mehr erschrocken darüber war, dass sie es war, die den Stein holen sollte, oder darüber, dass er den Stein so offen vor Khubilai und Tolui erwähnte.
»Stein? Welchen Stein?«, fragte Khubilai. »Wovon sprichst du, Maffeo?«
»Später, Khubilai«, erwiderte Maffeo. »Ich werde dir alles über diesen Stein erzählen – zu einem anderen Zeitpunkt. Jetzt muss ich dich bitten, dich zu gedulden und mir zu vertrauen.«
Khubilai verneigte sich. »Gut, es sei, wie du sagst. Ich stehe in deiner Schuld.«
»Du musst den Stein an dich nehmen, Beatrice. Er wird den Mörder überführen.«
»Aber wieso…«
»Frage mich nicht, woher ich das weiß«, unterbrach Maffeo sie. »Ich weiß es einfach.«
»Und wo finde ich ihn?«
»Ich habe ihn vor Jahren im Grabe des Dschingis Khans versteckt.« Maffeo lächelte Khubilai an. »Verzeih mir, mein Freund. Es ist wahrlich nicht meine Absicht gewesen, das Grab deines hoch geschätzten Großvaters zu schänden. Glaube mir, wenn du mehr über den Stein wüsstest, wärst auch du davon überzeugt, dass ich keinen Frevel begangen habe. Im Gegenteil, es gibt keine größere Ehre.«
Khubilai neigte seinen Kopf. »Ich will deinen Worten Glauben schenken, auch wenn es mir zurzeit schwer fällt.«
»Wo ist denn das Grab von Dschingis Khan?«, fragte Beatrice.
»Es liegt an einem geheimen Ort, verborgen in der Weite der mongolischen Steppe«, antwortete Tolui, noch bevor Maffeo seinen Mund öffnen konnte. »Allerdings kennen nur wenige die genaue Lage der Grabstätte. Du wirst also in jedem Fall einen Begleiter brauchen, um es zu finden. Und ich kann…«
»Nein!«
»Aber Vater, ich…«
»Nein, Tolui. Du weißt, wie gefährlich das ist. Ich habe schon deine Mutter verloren, ich habe Dschinkim verloren. Ich will nicht auch noch dich verlieren.«
Tolui runzelte zornig die Stirn. »Aber es gibt niemanden, der sie sonst begleiten könnte.«
»Verzeih, dass ich das vor deinem Sohn sage, aber Tolui hat recht, Khubilai«, erklärte Maffeo. »Er kennt die Wahrheit über Dschinkims Tod, und er kennt die Lage des Grabes. Jedem anderen gegenüber, der Beatrice begleiten würde, müssten wir mehr preisgeben, als uns lieb sein kann. Es wäre ein großes Risiko. Wir wissen nicht, wem wir trauen können.«
Khubilai seufzte schwer. »Also gut«, gab er nach. »Aber glaubt nicht, dass ich meine Zustimmung gern gebe. Ihr verlangt viel von mir.«
Tolui hob triumphierend den Kopf, seine Augen funkelten abenteuerlustig.
»Wann sollen wir aufbrechen?«
»So schnell wie möglich«, sagte Maffeo. »Die Zeit drängt. Und das liegt nicht nur daran, dass der Winter bald Einzug hält und für Beatrice die Niederkunft bevorsteht. Die Mörder laufen frei herum. Und wenn ich mich nicht sehr irre, wollen auch sie den Stein in ihren Besitz bringen.«
»Also kommt«, sagte Khubilai und erhob sich. »Wenn wir uns beeilen, könnt ihr noch heute aufbrechen.« Dann wandte er sich noch einmal an Maffeo. »Und du bist wirklich sicher, dass du die Zeit bis zur endgültigen Aufklärung des Verbrechens im Kerker verbringen willst?«
Maffeo seufzte.
Die Vorstellung, wieder Tageslicht zu sehen und frische, unverbrauchte Luft zu atmen, war mehr als verlockend. Aber…
»Ja, ich bin sicher.«
»Gibt es etwas, was ich noch für dich tun kann?«
»Ja. Lasst mir bitte eine Fackel hier.« Ein Schauer lief ihm über den Rücken. »Ich weiß nicht, ob ihr das verstehen könnt, aber die Dunkelheit ist das Schlimmste. Ich fürchte, ich könnte sie nicht einen Augenblick länger ertragen.«
Beatrice und Tolui verabschiedeten sich beinahe ehrfürchtig von ihm.
»Ich danke dir, mein Freund«, sagte Khubilai und drückte ihm eine der Fackeln in die Hand. »Ich werde dem Kerkermeister sagen, dass er dir jeden Tag eine neue bringen soll. Leb wohl, Maffeo.«
Der Khan legte ihm noch einmal seine Hand auf die Schulter, dann schloss sich hinter ihnen die Tür. Maffeo war wieder allein. Aber im Lichtschein der Fackel war die Haft leichter zu ertragen. Außerdem…
»Es muss getan werden«, sagte er leise zu sich selbst. »Beatrice muss den Stein an sich nehmen. Sie ist mein Nachfolger. So wie es mir im Traum gesagt wurde.«