Es klopfte. Ein leises, kurzes, zaghaftes Klopfen gegen Holz, wie das Klopfen eines kleinen Kindes an eine Tür. Beatrice schlug die Augen auf und wusste im ersten Moment nicht, wo sie war. Es war ziemlich dunkel, und nur schemenhaft vermochte sie die Umrisse vereinzelter Möbelstücke zu erkennen – rechts von ihr standen zwei Stühle mit so niedrigen Sitzflächen, das man glauben konnte, es handelte sich um Kinderstühle, wenn die Lehnen nicht so hoch gewesen wären. Ihr eigenes Schlafzimmer war das hier nicht, so viel stand fest. Aber sie war auch nicht mehr im Krankenhaus. Diese Stühle gehörten auf gar keinen Fall zur Einrichtung eines Krankenzimmers oder des Kreißsaals. Am ehesten erinnerten sie Beatrice an jene seltenen, antiken chinesischen Stühle, die ein Freund ihrer Tante hin und wieder in seinem Geschäft für asiatische Antiquitäten anbot. Aber wie kam sie zu antiken chinesischen Stühlen? Wo…? Da fiel ihr alles wieder ein – das fernöstlich eingerichtete Zimmer, der chinesische Arzt, Maffeo Polo, der Onkel Marco Polos. Marco Polo… Sie konnte es kaum glauben. Vielleicht würde sie ihn auch treffen, den Venezianer, den Abenteurer, den Weltreisenden, der den Italienern die Nudel gebracht haben soll. Und natürlich war da der Stein der Fatima.
Sie konnte also beruhigt sein, das hier war kein Traum. Allerdings war es auch nicht die Realität. Wenigstens nicht die normale Realität der Beatrice Helmer, die Chirurgin in Hamburg und werdende Mutter war. Wenn sie ihre Lage richtig einschätzte, so würde sie jetzt – hoffentlich nur für einen begrenzten Zeitraum – zusammen mit Maffeo und Marco Polo ein Leben am Hof des großen Khubilai Khans führen. Sie würde Menschen, Persönlichkeiten begegnen, die sie aus Geschichtsbüchern kannte, über die Abhandlungen und Promotionen, Romane und Drehbücher geschrieben wurden – eine Situation, an die sich wohl selbst der Hartgesottenste erst einmal gewöhnen musste.
Morgen früh kannst du immer noch darüber nachdenken, wie du damit umgehst, sagte eine innere Stimme zu ihr. Jetzt ist es dunkel. Sei vernünftig, dreh dich um und schlaf weiter.
Das war die Stimme einer Frau, die praktisch und rational dachte und sich durch nichts, wie verrückt ihre Lage auch sein mochte, erschüttern ließ. Doch gehörte diese Stimme wirklich zu ihr? Oder war das der Einfluss des Steins, der mittlerweile sogar zu ihr sprach und ihr Mut machen wollte? Vielleicht befand sie sich aber auch auf der letzten Stufe zum Wahnsinn. Oder wie ließ sich sonst erklären, dass sie dies alles als völlig real und natürlich akzeptierte und in ihr Leben integrierte, als wäre nichts weiter passiert. Eine Kleinigkeit eben. Jobwechsel, Wohnungswechsel, Ortswechsel. Das war in ihrem Leben eigentlich seit zehn Jahren normal. Und jetzt auch noch Zeitenwechsel. Was war schon dabei? Schließlich war es bereits das zweite Mal, erst ein Harem im Mittelalter, jetzt eben China – na und? Das Ganze war so aberwitzig, so absurd und fantastisch, dass es bei näherer Betrachtung eigentlich nur aus der Feder von Schriftstellern und Drehbuchautoren stammen konnte.
Wer auch immer diese Frau sein mag, die da zu mir spricht, dachte Beatrice, gähnte und drehte sich auf die Seite, sie hat recht.
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und eine Gestalt huschte mit schnellen kleinen Schritten durch ihr Zimmer. In dem weiten, bodenlangen, hellen Gewand hatte sie Ähnlichkeit mit einem Gespenst. Doch was war das für ein Geist, der sich an den Fenstern zu schaffen machte und die Vorhänge öffnete?
Eisige Morgenluft wehte herein. Fröstelnd zog Beatrice ihre Decke bis zum Kinn. Sie hatte überhaupt keine Lust, aufzustehen. Sie war müde, es war lausig kalt, und außerdem war es da draußen noch nicht einmal richtig hell. Sie schloss die Augen und rührte sich nicht. Ihre Erfahrungen im Harem des Emirs von Buchara hatten gezeigt, dass sich Diener meistens wieder verscheuchen ließen, wenn man sie gar nicht beachtete. Allerdings schien der Geist hier im Zimmer von dieser Regel noch nichts gehört zu haben.
Die trippelnden Schritte näherten sich dem Bett, und das zarte, feine Klingeln von Porzellan drang an Beatrices Ohr. Dann berührte eine Hand, leicht, sanft und kühl wie eine Schneeflocke, ihren Arm, und eine leise Stimme sagte etwas in einer Sprache, die Beatrice nur mit großer Mühe als Arabisch identifizieren konnte.
Unwillig hob sie den Kopf. Eine kleine Frau, bekleidet mit einer weiten weißen Hose und einem ebenso weiten, am Hals fest geschlossenen Obergewand, stand vor ihr und verneigte sich. Ob das die Chinesin war, von der Maffeo gestern gesprochen hatte? Allerdings konnte sie sich beim besten Willen nicht mehr an ihren Namen erinnern.
»Zeit für Aufstehen«, sagte die Frau in gebrochenem Arabisch und mit einem so starken Akzent, dass Beatrice sie kaum verstehen konnte.
Sie drehte sich auf den Rücken, streckte sich und rieb sich die Augen.
»Jetzt schon? Es ist doch noch mitten in der Nacht!«
»Nein«, erwiderte die Frau und lächelte. Wenn Falten im Gesicht eines Menschen die Bedeutung von Jahresringen hätten, Beatrice hätte das Alter der Chinesin auf mindestens hundertzwanzig geschätzt. Aber etwas stimmte nicht. Da war etwas… »Sonne geht schon auf.«
Tatsächlich. Die Sterne begannen allmählich zu verblassen, und das Stück Himmel, das sie von ihrem Bett aus sehen konnte, war nicht mehr nachtschwarz, sondern dunkelblau mit einem Hauch von Silber. Aber wie spät mochte es wohl sein? Fünf Uhr? Bestenfalls sechs. Auf alle Fälle war es viel zu früh für jemanden, der nicht arbeiten musste. Trotzdem setzte Beatrice sich im Bett auf. Sie war hier Gast. Und die Höflichkeit verlangte es, sich nach dem hier üblichen Tagesablauf zu richten.
Die alte Frau stellte ein Tablett auf einen Tisch neben das Bett. Fasziniert betrachtete Beatrice das Geschirr. Es waren drei Schalen aus feinem Porzellan in unterschiedlichen Größen mit dazu passenden Deckeln. Jede der Schalen war in einer anderen Farbe glasiert – hellgrün, hellblau und braun. Sie waren schlicht und bestechend schön, eine Augenweide für jeden Puristen oder Liebhaber der Zen-Kultur. Ohne Weiteres hätten diese drei Schalen das Werk eines Topdesigners des späten 20. Jahrhunderts sein können.
»Essen«, sagte die Alte. »Du musst essen. Gut für dich und dein Kind.«
Sie hob die Deckel und verschwand für einen Augenblick in einer Dampfwolke. Plötzlich merkte Beatrice, wie hungrig sie war. Kein Wunder, da sie gestern Abend nichts mehr gegessen hatte. Gespannt warf sie einen Blick in die Schalen. Die größte war gefüllt mit Reis. In der mittleren Schale befand sich etwas, das gekochtem Gemüse ähnelte. Und die klare, leicht grünliche Flüssigkeit in der kleinsten Schale war offenbar Tee. Die alte Frau reichte Beatrice die Schale mit Reis und ein paar Stäbchen. Dann bot sie ihr das Gemüse an.
Reis zum Frühstück?, wunderte sich Beatrice. Ungewöhnlich, aber lecker.
Sie gehörte ohnehin zu den Menschen, die ein herzhaftes Frühstück bevorzugten und morgens sogar Chili con Carne essen konnten. Und diese Mahlzeit war ganz nach ihrem Geschmack. Der Reis war von guter Qualität, und das Gemüse, eine Mischung aus Pilzen, Sprossen, Bambus und einem kohlähnlichen Blattgewächs, schmeckte ausgezeichnet. Gewürze wie Koriander, Ingwer und ein Hauch von Zimt kombiniert mit einer überraschenden Schärfe kitzelten den Gaumen und weckten auf, was zu dieser frühen Morgenstunde an Lebensgeistern noch schlief. Die wunderschönen, ebenfalls schlichten, aus dunklem Holz gefertigten und mit silbernen Kappen verzierten Stäbchen bereiteten Beatrice beim Essen keine Probleme. Während der Zeit, als sie mit Markus zusammen gewesen war, hatten sie oft in erstklassigen chinesischen und japanischen Restaurants gegessen, sodass sie mit Stäbchen ebenso gut umgehen konnte wie mit Messer und Gabel.
So hat doch alles im Leben einen Sinn, sogar ein Markus Weber, dachte sie und langte kräftig zu.
Die alte Frau reichte ihr immer wieder die Schale mit dem Gemüse und hielt ihr den Tee an die Lippen, sodass sie trinken konnte, ohne die Stäbchen aus der Hand legen zu müssen. Sie tupfte ihr anschließend sogar den Mund mit einem Tuch ab. Beatrice wunderte sich ein wenig darüber. Sie war nichts weiter als eine namenlose Fremde, der Gast eines Gastes am Hof des großen Khans. Wenn bereits sie derart zuvorkommend bedient wurde, wie behandelte man dann Khubilai Khan selbst? Durfte der Kaiser überhaupt noch allein essen, oder wurde er sogar gefüttert?
»Wie ist dein Name?«, fragte Beatrice, als sie satt und die alte Frau gerade damit beschäftigt war, ihre Teetasse wieder zu füllen.
Diese warf ihr einen überraschten, beinahe verächtlichen Blick zu.
O weh, dachte Beatrice, das hätte ich wohl lieber nicht fragen sollen.
»Ich komme von weit her«, sagte sie und versuchte sich aus dem Fettnapf wieder herauszuarbeiten, in den sie offensichtlich getreten war. »In meiner Heimat ist es üblich, sich einander mit Namen anzusprechen. Ich heiße Beatrice. Beatrice Helmer. Und du?«
»Ming«, antwortete die alte Frau, ohne Beatrice anzusehen.
»Nur Ming?«
»Ja. Reicht.«
Hastig stellte die alte Frau die Teetasse wieder auf das Tablett und verbarg ihre Hände in den weiten Ärmeln ihres Hemds. Sie wirkte stolz. Stolz, verschlossen und trotzig. Und jetzt, da das Lächeln von ihrem Gesicht verschwunden war, erkannte Beatrice, was sie von Anfang an gestört hatte. Ihre Freundlichkeit war nicht echt. Das Lächeln, so mütterlich es auch gewesen sein mochte, war nichts als eine Maske, welche sie aufgesetzt hatte. Zu keiner Zeit hatte es ihre Augen erreicht.
»Darf ich dich Ming nennen?«
Die Alte nickte so kurz und knapp, dass es Beatrice fast entgangen wäre.
»Maffeo Polo sagt, er kommt, wenn Sonne aufgegangen ist«, erklärte Ming. Beatrice registrierte, dass ihre Stimme hart und abweisend war. Die alte Chinesin presste die Lippen zusammen, und zwischen ihren Augenbrauen hatte sich eine steile Falte gebildet. Offensichtlich war Beatrice es nicht wert, die Maske der freundlichen Dienerin weiterhin aufrechtzuerhalten. »Du musst schnell sein. Für Frau aus ehrbarer Familie schickt es sich nicht, Maffeo Polo im Bett zu empfangen.« Mit fast militärischer Strenge schlug die Alte die Decken zurück und half Beatrice beim Aufstehen.
Erst als sie direkt neben ihr stand, fiel ihr auf, wie klein die Chinesin war. Ming reichte Beatrice nicht einmal bis zum Kinn. Flink trug die alte Frau eine große Tonschüssel herbei und einen riesigen Krug, der mindestens zehn Kilo wiegen mochte. Doch ohne mit der Wimper zu zucken oder zu stöhnen hob die kleine zierliche Person den Krug hoch und goss heißes Wasser in die Schüssel. Dann half sie Beatrice beim Entkleiden und begann, sie mit einem Schwamm zu waschen – schnell, routiniert und ohne jegliche Begeisterung oder Hingabe, wie jene Krankenschwestern, die ihren Beruf nur als Job ansahen und bei ihren Patienten nicht besonders beliebt waren. Erst als Ming am Bauch angelangt war, milderte sich die Strenge ihrer Gesichtszüge wieder, und die Falte zwischen den Augenbrauen verschwand. Beatrice spürte deutlich die Bewegungen des Kindes, das in ihrem Leib fröhlich Purzelbäume schlug. Und Ming schien es ebenfalls zu bemerken.
»Kleiner Tiger ist auch wach«, sagte sie und lächelte. Und diesmal veränderten sich auch ihre Augen und strahlten warm und verständnisvoll. Dann murmelte sie etwas auf Chinesisch. Natürlich verstand Beatrice gar nichts, aber es klang freundlich. Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen, um sich mit der Alten zu versöhnen.
»Verzeih mir, falls ich dich gekränkt haben sollte«, sagte sie. »Das war nicht meine Absicht. Die Sitten in diesem Land sind mir noch nicht vertraut. Ich bitte dich, Geduld mit mir zu haben.«
»Ich habe Geduld«, erwiderte Ming. Sie holte Kleidung aus einem Korb und breitete sie ordentlich auf dem Bett aus. Ob der Zeitplan, bis Maffeo eintreffen würde, tatsächlich so eng war, oder ob die Alte lediglich ihrem Blick ausweichen wollte, konnte Beatrice nicht sagen. »Viel Geduld. Ich hoffe, Hose wird passen.«
Sie hielt Beatrice das Kleidungsstück hin, sodass sie nur noch in die Hosenbeine steigen musste. In diesem Moment trafen sich ihre Blicke, und Beatrice verstand. Die dunklen Augen der alten Chinesin erzählten eine Geschichte von Trauer, Demütigung und Entbehrung.
Und dann fiel Beatrice plötzlich ein, was sie noch aus ihrem Geschichtsunterricht wusste. Khubilai Khan war Mongole gewesen, ein Tyrann, kriegerisch und unersättlich in seinem Streben nach Macht und Besitz. Immer neue Kriegszüge und Gewalt hatten sein riesiges Reich geformt und zusammengehalten. Die Chinesen in den eroberten Provinzen waren nichts anderes als Kriegsgefangene oder Beute – und wurden auch als solche behandelt. Sie waren eine besiegte und sicherlich auch unterdrückte Nation, ein kulturell hoch entwickeltes Volk, das Poesie, Kunst und so etwas Herrliches wie diese Porzellanschalen geschaffen hatte und sich jetzt von wilden, nomadisierenden und weitgehend ungebildeten Hirten regieren lassen musste.
Ming war bestimmt nicht als Dienerin geboren worden. Ihre aufrechte Haltung sprach von dem Stolz und der Selbstachtung einer Frau aus gutem Hause. Wer konnte schon sagen, welche Geschichte sich hinter ihrem Familiennamen verbarg. Vielleicht war er das Einzige, was ihr noch von ihrem alten Leben geblieben war, das Einzige, was die Mongolen ihr nicht hatten nehmen können, der letzte Rest ihrer Würde. Kein Wunder, dass sie diesen Namen nicht preisgeben wollte. Man hatte sie dazu gezwungen, den Mongolen zu dienen. Man hatte sie sogar gezwungen, eine fremde Sprache wie Arabisch zu lernen. Beatrice versuchte, sich vorzustellen, was sie in einer solchen Situation getan hätte. Ihr Aufenthalt im Harem des Emirs von Buchara war vielleicht mit dem zu vergleichen, was Ming durchmachte. Sie selbst war damals fast verrückt geworden und hatte nichts als Abscheu und Hass für den Emir empfinden können.
Ich verstehe deinen Zorn, dachte Beatrice. Ja, ich verstehe ihn gut.
Die alte Frau senkte hastig ihren Blick und half Beatrice beim Anziehen. Bis sie damit fertig waren, sprach keine von ihnen ein Wort.
Beatrice betrachtete sich in einem Spiegel. Sie trug einen chinesischen Anzug aus Seide mit Blumenstickerei am Kragen und darüber eine farbenfrohe gefütterte Weste. Ihr Haar hatte Ming zu einem Knoten geschlungen und mit Haarnadeln und Kämmen aus Horn und Perlmutt festgesteckt. Wäre ihr Haar nicht blond gewesen, man hätte sie ohne Weiteres für eine Asiatin halten können.
War das da im Spiegel wirklich sie, Beatrice Helmer? Diese Frau, die sich so kühl und gleichgültig betrachten konnte, obwohl sie sich in einer anderen Kultur, sogar in einem anderen Zeitalter aufhielt? So kühl und gleichgültig, als wäre es das Normalste von der Welt, als könnte man Zeitsprünge wie Urlaub planen und im Reisebüro buchen?
Merkwürdig, dachte Beatrice, ich zweifle nicht einen Augenblick daran, dass dies hier alles wirklich passiert.
In Buchara, als der Stein sie vor etwa sechs Monaten zum ersten Mal auf diese ungewöhnliche Reise geschickt hatte, war sie anfangs in tiefe Depressionen gefallen. Sie hatte sich immer wieder gesagt, dass ihre Umgebung – die Frauen in arabischen Gewändern, die Eunuchen, die orientalischen Möbel und Gegenstände – lediglich eine Wahnvorstellung seien. Mit Sicherheit war das eine ganz normale Reaktion gewesen, denn wer rechnete schon damit, ohnmächtig zu werden und in einer anderen Zeit wieder aufzuwachen? Jetzt allerdings akzeptierte sie das alles ohne auch nur den geringsten Einwand. Warum? Vielleicht lag es an Maffeo. Er wusste etwas über sie und über den Stein der Fatima. Vielleicht wusste er sogar, was der Stein von ihr wollte.
Ich muss mit Maffeo sprechen, dringend, dachte Beatrice. Hoffentlich kommt er bald.
Es klopfte laut und energisch.
Mit kleinen trippelnden Schritten ging Ming zur Tür und öffnete. Die alte Frau trat zur Seite und verneigte sich tief.
»Guten Morgen«, sagte Maffeo.
Beatrice wandte sich um. Doch ihre Freude und Erleichterung verwandelte sich in Enttäuschung, als sie bemerkte, dass Maffeo nicht allein war. Sie konnte nicht über den Stein der Fatima mit ihm sprechen, wenn er in Begleitung zu ihr kam. Sie musste sich gedulden – schon wieder. Ob er das wohl absichtlich machte?
Der Mann, der bei ihm war, überragte ihn um mehr als Haupteslänge. Er trug ähnliche Kleidung wie Maffeo, sah darin allerdings weitaus kriegerischer und wilder aus als der alte Venezianer. Unter seiner Kopfbedeckung, einem spitzen Helm aus rot und blau gefärbtem Leder, quollen lange fast schwarze Haare hervor. Sein Gesicht war finster, und seine überraschend hellen Augen funkelten, als wollte er sie auf der Stelle mit dem Krummsäbel köpfen, der drohend und wie zur Abschreckung an seinem Gürtel hing. Dieser Mann sah genauso martialisch und gefährlich aus, wie Beatrice sich Mongolen immer vorgestellt hatte.
Der Mann sagte etwas in jener Sprache, die Beatrice bisher nicht hatte einordnen können. Jetzt vermutete sie, dass es sich um einen mongolischen Stammesdialekt handelte. Hastig, beinahe überstürzt verließ Ming den Raum.
Na wunderbar, dachte Beatrice. Wenn Maffeo auch gleich verschwindet, fange ich an zu schreien. Mit diesem Kerl möchte ich nicht einmal im Traum allein in einem Zimmer sein.
»Dschinkim, Bruder und Thronfolger des großen und allmächtigen Khans, ist gekommen, um mit dir zu reden«, sagte Maffeo und sprach endlich wieder Arabisch.
Beatrice verneigte sich. Sie wusste zwar nicht genau, welche Stellung ein Bruder des Khans bei den Mongolen innehatte, aber es klang, als wäre er so etwas wie der zweite Mann im Staat. Abgesehen davon konnte eine Verbeugung nie schaden. Sie richtete sich wieder auf und wartete ab. Etliche Monate Leben im Harem hatten sie gelehrt, vorsichtig damit zu sein, zuerst das Wort an einen Mann zu richten.
Mit langen, kräftigen Schritten ging der Mongole zu einem der Stühle und nahm Platz. Maffeo folgte ihm und setzte sich daneben. Beatrice sah sich um. Es gab hier im Raum nur zwei Stühle. Sollte sie… Sie ging auf das Bett zu, doch Maffeo warf ihr einen warnenden Blick zu und schüttelte kaum merklich den Kopf. Offensichtlich erwartete man von ihr, dass sie stehen blieb. Sollte das hier ein Verhör werden, oder behandelten die Mongolen ihre Frauen immer so?
Der Mongole sagte etwas und winkte sie zu sich heran. Als sie gehorchte, wandte er sich an Maffeo, und Beatrice wurde heiß. Hatte sie etwas falsch gemacht? Die Worte des Mongolen klangen misstrauisch und wütend.
»Dschinkim fragt, ob du die mongolische Sprache beherrschst.«
Beatrice schüttelte den Kopf. »Nein.«
Der Mongole sprang auf und war mit zwei Schritten bei ihr. Seine Stimme und die harten, wütend zwischen den blendend weißen Zähnen hervorgestoßenen Worte klangen wie das Bellen eines Hundes – eines sehr großen, sehr gefährlichen Hundes. Erschrocken wich Beatrice einen Schritt zurück. Es dröhnte in ihren Ohren, als er seine Worte wiederholte, noch lauter als zuvor. Die Luft wurde ihr knapp. Gern wäre sie geflohen, einfach aus dem Zimmer gerannt, doch sie konnte nicht. Wie ein verängstigtes Kaninchen starrte sie in die zornig funkelnden Augen des Mongolen. Das waren nicht die dunklen Augen der Chinesen, das waren grüne, lodernde Flammen. Jadegrüne Augen, die ihr Gehirn und ihre Seele durchforschten.
Das ist kein Mensch, das ist ein Drache, der Menschengestalt angenommen hat, dachte Beatrice. Gleich macht er den Mund auf und wird mich mit seinem Feueratem rösten. Verzweifelt suchte sie Maffeos Blick.
»Er will wissen, warum du näher gekommen bist, wenn du ihn nicht verstanden hast.«
Beatrice hatte das Gefühl, als würde ihr jemand den Boden unter den Füßen wegziehen. Es war eine Kleinigkeit. Eine unbedachte Reaktion, ein so winziger Augenblick, dass man ihn sicherlich nicht einmal mit Zehntelsekunden messen konnte. Und doch reichte diese Banalität aus, um ein Leben zu beenden. Zwei sogar, wenn man es genau nahm.
»Aber… Seine Hand… Er…«, stotterte sie verwirrt und wich noch einen Schritt zurück. Je mehr Raum sie zwischen sich, den wütenden Mongolen und seinen Krummsäbel brachte, umso besser, obwohl sie sicher war, dass es ihr nicht viel nützen würde. Der Mann war schnell. Und so wie er aussah, hatte er Übung im Verfolgen von flüchtigem Wild. »Er hat mich doch zu sich gewinkt.«
Die Augen des Mongolen verengten sich zu schmalen Schlitzen, dann wandte er sich abrupt ab und kehrte zu seinem Stuhl zurück. Überrascht registrierte Beatrice, dass Maffeo ihre Worte noch gar nicht übersetzt hatte.
Der Mongole sagte etwas zu Maffeo, nickte einmal kurz und erhob sich erneut. Maffeo gab Beatrice mit Gesten zu verstehen, dass sie sich wieder verbeugen musste. Sie verneigte sich so tief sie konnte und spürte den Luftzug in ihrem Haar, als der Mongole an ihr vorüberrauschte.
»Ich komme wieder, sobald ich kann«, flüsterte Maffeo ihr im Vorbeigehen zu. »Dann reden wir.«
Verwirrt sah Beatrice den beiden Männern nach. Dieser Dschinkim hatte sie verstanden, vermutlich die ganze Zeit über. Hatte er sie nur auf die Probe gestellt? Und wenn ja, warum?
»O mein Gott, wo bin ich nur wieder hingeraten!«, sagte Beatrice und sank kraft- und mutlos auf ihr Bett. »Gegen diese Bestie von einem Mann war sogar Nuh II. ibn Mansur, Emir von Buchara, sanft und harmlos wie ein Lamm.«
»Ich stimme deinem Urteil zu. Es scheint wirklich keine Gefahr von dieser Frau auszugehen. Wenigstens zurzeit nicht«, sagte Dschinkim zu Maffeo. »Lass uns den Turm hinaufsteigen. Dort oben können wir ungestört reden.«
Eilen oder laufen wäre sicherlich das passendere Wort, dachte Maffeo, während sie die steilen Stufen erklommen. Er gab sich Mühe, mit dem Mongolen Schritt zu halten, ihm gleichzeitig zuzuhören und darüber das Atmen nicht zu vergessen.
»Ihr Entsetzen und ihre Angst waren ehrlich, ich habe es in ihren Augen gesehen. Diese Frau scheint das zu sein, was sie vorgibt.«
»Du hast ihr Angst gemacht, Dschinkim. War das wirklich nötig?«, fragte Maffeo und wischte sich heimlich den Schweiß von der Stirn.
Seine Beine waren schwer wie Blei, seine Knie protestierten gegen das Strecken und Beugen, gegen die Steilheit der Treppe und gegen das Gewicht seines eigenen Körpers. Bei jeder Stufe spürte er, wie die Knochen von Ober- und Unterschenkel knirschend aneinander rieben und sich wie zwei tollwütige Hunde ineinander verbissen. Die beiden Knochen voneinander zu trennen, sie daran zu erinnern, dass sie zum Beugen und Strecken geschaffen worden waren, kostete Maffeo immer mehr Kraft. Und bei jeder Stufe dachte er, dies sei die letzte, die er noch ertragen könne. Hatte diese Treppe denn gar kein Ende?
»Verstehe mich nicht falsch, mein Freund«, brachte Maffeo mühsam hervor, »aber sie erwartet ein Kind.«
Dschinkim zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Und? Ich musste sie prüfen. Das ist meine Pflicht.«
Endlich hatten sie das Ende der Treppe erreicht. Mit einem kräftigen Tritt stieß Dschinkim die Tür auf, und sie betraten die von einer hüfthohen Mauer umgebene Plattform des Turms. Es war der höchste Punkt des Palastes. Wer hier stand, dem lag nicht nur Shangdou zu Füßen, die Stadt des großen Khans mit ihren schmalen Gassen und großzügigen Plätzen, den ausgedehnten, parkähnlichen Gärten, den runden Häusern aus weißem Marmor, den Tempeln und Moscheen, in denen die Götter aller bekannten Religionen offen verehrt wurden, auch die ganze Umgebung war von hier aus gut zu sehen. Der Blick reichte bis weit in die unendliche Steppe hinein.
Doch Maffeo achtete nicht auf die Schönheit der Landschaft. Ihn plagten andere Sorgen. Erleichtert ließ er sich auf der Mauer nieder und rieb verstohlen seine schmerzenden Knie. Bereits jetzt dachte er mit Grauen an den Abstieg.
»Warum?«, fragte er und gab sich Mühe, nicht zu sehr zu keuchen. »Weshalb musstest du sie prüfen?«
»Diese Frau tauchte einfach so aus dem Nichts auf. Und sie spricht die Sprache der Araber.«
»Dschinkim, ich habe dir doch erklärt…«
»Ich weiß. Du hast mir davon erzählt. Von ihrer Heimat und dem Emir und dem ganzen Zeug. Aber das waren ihre Worte. Wo ist dieses Land, das angeblich ihre Heimat ist? Ich kenne es nicht. Du etwa? Es könnten ebenso gut Lügen gewesen sein.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »In spätestens zwei Tagen kehrt mein Bruder aus Taitu zurück, und du weißt, was das bedeutet. Ich darf kein Risiko eingehen.«
»Und was willst du jetzt tun?«, fragte Maffeo. »Willst du sie etwa so lange einsperren, bis der große Khan Shangdou wieder verlässt? Das kann unter Umständen bis zum Frühjahr dauern.«
Dschinkim schüttelte den Kopf. »Nein. Wie ich schon sagte, glaube ich dir, dass sie jetzt keine Gefahr darstellt. Aber du wirst für sie bürgen, mein Freund. Mit deinem Leben.«
»Gut, ich…«
»Ich weiß, auch du verbirgst ein Geheimnis, Maffeo Polo«, unterbrach ihn Dschinkim. »Und vielleicht teilt diese Frau das Geheimnis mit dir?«
Maffeo schluckte. Unter dem Blick des Mongolen wurde ihm der Kragen eng. Was wusste Dschinkim? Hatte er schon vom Stein der Fatima gehört? Wusste er, dass Maffeo einen besaß? Hatte er doch in der Steppe den Saphir in der Hand von Beatrice gesehen? Maffeo kämpfte mit sich. Sollte er Dschinkim vom Stein der Fatima erzählen? Auf der einen Seite war der Stein, für dessen Sicherheit er sich verbürgt hatte, auf der anderen Seite stand eine Freundschaft, die ihm viel bedeutete, sehr viel sogar.
Weshalb nur hat Lama Phagspa ausgerechnet mir diese Verantwortung aufgebürdet?, dachte Maffeo verzweifelt, während er versuchte, beides gegeneinander abzuwägen.
»Ich dachte immer, du vertraust mir«, sagte er schließlich.
Er hatte sich bereits entschieden. Es gab Dinge, die wichtiger waren als Sympathie, Freundschaft oder sogar ein Leben.
»Du hast dich nicht getäuscht«, sagte Dschinkim. »Ich vertraue dir, mein Freund. Ich vertraue dir mehr als allen anderen Männern im Gefolge des großen Khans. Trotzdem bin ich kein Narr. Ich denke nicht nur über das nach, was ich höre und sehe, sondern auch darüber, was ich nicht höre und sehe.« Er legte Maffeo eine Hand auf die Schulter und lächelte. »Bewahre dein Geheimnis, alter Freund und Jagdgefährte, bewahre es gut. Ich will es dir nicht nehmen. Doch gib acht, dass es meinem Bruder nicht gefährlich wird.«
Maffeo sah Dschinkim an. Er war mehr als nur erleichtert. Tränen traten in seine Augen, Tränen, derer ein Mann sich nicht zu schämen brauchte. Dschinkim würde es verstehen. Er legte seine Hand auf die des Mongolen und drückte sie.
»Du kannst dich auf mich verlassen, Dschinkim, mein Freund und Jagdgefährte«, sagte er. »Das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist.«