Drei Monate später
»Wir hätten mit dieser Kiste anfangen sollen.«
Erik Schmidt zog ein gemustertes Stofftaschentuch aus seiner grünen Latzhose mit dem Aufdruck Schmidt & Sohn – Ihre Umzugsprofis und wischte sich den Schweiß von der kahlen, geröteten Stirn. Als er merkte, dass Mark seinen Scherz nicht verstanden hatte, fügte er hinzu: »Na ja, es war die letzte Kiste.«
Mark schmunzelte. »Prima, ich komme dann gleich nach.«
»Keine Eile, wir rechnen schließlich nach Stunden ab«, lachte Schmidt und stopfte das Taschentuch in seine Hose zurück. »Sie können sich also ruhig noch Zeit lassen.«
Dann hob er die Umzugskiste an, wobei er etwas in der Art von »Wie kann man nur so viele Bücher besitzen?« in seinen nicht vorhandenen Bart murmelte, und stapfte schnaufend ins Treppenhaus.
Mark machte noch einen letzten Rundgang durch die Wohnung, in der sich die Frühlingswärme unter den Dachschrägen staute und der Straßenlärm durch die undichten Fenster drang. Dort, wo Schmidt die Kiste weggenommen hatte, tanzten Staubpartikel in einem Sonnenstrahl.
Er hätte sich nie vorstellen können, dass er eines Tages beim Auszug aus diesem renovierungsbedürftigen Altbau ein wenig schwermütig werden könnte. Aber nun durchschritt er langsam noch einmal die drei kleinen Räume und dachte daran, wie viel sie schon von ihm gesehen hatten. Und nicht nur seine Sonnenseiten.
Mark, den Verzweifelten.
Mark, den Depressiven.
Mark, den Trinker.
Und nun zum Abschied sahen sie einen neuen Mark Behrendt. Jedenfalls hoffte er das.
Im Badezimmer schaute er noch einmal in den Spiegel und zwinkerte dem frisch rasierten Mann mit den kurz geschnittenen dunklen Haaren zu, der ihm entgegensah. Das Licht der Mittagssonne schien durch das Dachfester genau auf ihn, und auch wenn er nicht abergläubisch war, deutete er dies als ein gutes Omen.
Er hob den linken Arm mit seiner Lebensuhr, bis das Sonnenlicht auf der blanken Metallabdeckung reflektiert wurde, und lächelte.
»Du wirst einen guten Eindruck machen«, sagte er zu seinem Spiegelbild.
Dann zwinkerte er sich noch einmal zu und schnappte sein Jackett, das er in Ermangelung einer Garderobe an einen an der Wand befestigten Handtuchhalter gehängt hatte.
Vor dem Haus warteten Schmidt und Sohn bereits auf ihn.
»Am Montag werden Ihre Sachen eintreffen«, sagte Erik Schmidt und schloss die Hintertüren des Umzugswagens.
Sein Sohn, ein ebenso schmächtiger wie hochgewachsener junger Mann, der die ganze Zeit über kein Wort verloren hatte, lehnte an der Beifahrertür, drehte sich eine Zigarette und blinzelte in die Märzsonne. Auf der Straße wurde gehupt. Der Fahrer eines SUV regte sich über die besetzte Parkbucht auf. Doch das schien den jungen Mann nicht zu stören.
Plötzlich zuckte Mark zusammen. Inmitten des Straßenlärms glaubte er, eine schrille Stimme gehört zu haben.
Ein hohes, durchdringendes: »Hey, Doktor!«
Erschrocken fuhr Mark herum, hielt nach allen Seiten Ausschau.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Schmidt senior und reichte ihm ein Formular zum Unterschreiben.
»Ja«, murmelte Mark und sah sich noch einmal stirnrunzelnd um, ehe er auf dem Klemmbrett unterzeichnete. »Ich … dachte, ich hätte was gehört.«
»Gut, das wär’s dann.« Schmidt nickte zufrieden und stapfte zur Fahrertür des Lkws. »Und vergessen Sie nicht, uns weiterzuempfehlen, wenn Sie mit uns zufrieden waren«, rief er Mark durch den Verkehrslärm zu.
Mark zuckte mit den Schultern. »Bisschen weit weg von Frankfurt, finden Sie nicht?«
Schmidt stieß ein lautes Lachen aus und winkte ab. »Ach woher, was sind heutzutage schon noch Entfernungen?«
Dann stiegen Schmidt und Sohn, die Umzugsprofis, in ihren Wagen und waren bald darauf im Mittagsverkehr verschwunden.
Mark ging zurück zum Hauseingang, sah noch einmal an der bröckeligen Fassade zum Dach empor und warf seinen Hausschlüssel wie verabredet in den Briefkasten. Er wollte gerade zu seinem alten, rostigen Volvo gehen, als ein kleiner Junge auf ihn zugerannt kam.
»He, du!«, rief er.
Mark blieb verblüfft stehen. Er hatte den Kleinen mit den dunklen Strubbelhaaren und dem viel zu weiten South-Park-T-Shirt noch nie zuvor gesehen. Aber er hatte auch nie besonderes Interesse für seine Nachbarschaft gezeigt, dachte er. Bis vor ein paar Monaten hatte er seine Aufmerksamkeit einzig und allein auf sein eigenes dunkles Universum beschränkt, das an manchen Tagen kaum größer als ein Stecknadelkopf gewesen war – vor allem, wenn er getrunken hatte.
»Meinst du mich?«
»Heißt du Mark?«
»Ja, und wer bist du?«
»Ich soll dir das hier geben.«
Der Junge hielt ihm einen gefalteten Zettel entgegen.
»Von wem ist das?«
Mit einer lässigen Bewegung, die er sich wohl von irgendeinem Rapper abgeschaut haben musste, zeigte der Junge über seine Schulter hinweg zur anderen Straßenseite.
»Von der Frau da drüben.«
Dann rannte er davon, und Mark hielt nach der Frau Ausschau, die der Junge gemeint hatte.
Er sah mehrere Frauen, die die Straße entlanggingen. Zwei junge Frauen mit Kinderwagen und Einkaufstaschen, die sich angeregt miteinander unterhielten, eine ältere Frau, die sich auf einen Gehwagen stützte, und eine Gruppe Mädchen, die mit ihren Handys beschäftigt waren, als würden sie per SMS miteinander kommunizieren – aber keine von ihnen schaute zu ihm herüber.
Merkwürdig, dachte er und entfaltete den Zettel. Jemand hatte in aller Eile mit Kugelschreiber etwas daraufgekritzelt.
DU ZIEHST WEG?
GLAUB NUR NICHT,
DASS DU SO EINFACH
DAVONKOMMST!
WIR SIND NOCH NICHT
MITEINANDER FERTIG!
Trotz der warmen Frühlingssonne begann Mark am ganzen Leib zu zittern. Entsetzt sah er sich auf der Straße um und musste an die Worte des Möbelpackers denken.
Was sind heutzutage schon noch Entfernungen?