71.
Binnen kürzester Zeit waren zahlreiche Streifen- und Rettungswagen an der U-Bahn-Station eingetroffen. Stepney Green würde für die nächsten Stunden gesperrt bleiben. Blaulichter zuckten über die Häuserfassaden, und an der Ecke Mile End Road und Globe Road hatte sich ein Stau gebildet.
Mark saß am Heck eines Rettungswagens. Ein Sanitäter hatte ihm eine Wärmefolie um die Schultern gelegt, aber er zitterte immer noch wegen des Schocks. Während ein Constable seine Schilderung des Unfallhergangs aufgenommen hatte, hatte Mark die Fahrgäste des Unglückszuges beobachtet. Sie wurden von Polizisten und uniformierten Mitarbeitern der Transport-for-London-Gesellschaft ins Freie geführt. Er sah viele bleiche Gesichter, die Betroffenheit, Bestürzung und Ekel verrieten, aber auch viele Leute, die schwatzend und gestikulierend an ihm vorbeiliefen, als kämen sie aus einem Kinofilm. Im Schnitt nahmen sich jährlich fast achtzig Personen in der Londoner »Tube« das Leben, und die Zahl stieg von Jahr zu Jahr, sodass es nicht verwunderte, wenn bei vielen Fahrgästen eine makabere Art der Gewöhnung eingekehrt war.
»Guten Abend, Mr. Behrendt.«
Es war Detective Inspector Blake. In all dem Durcheinander aus Schaulustigen und Polizisten hatte Mark ihn nicht kommen sehen.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Blake und sah ihn mit einer Mischung aus Skepsis und Sorge an.
»Ich bin okay.«
Mark rieb sich seinen Arm, der noch immer schmerzte, als habe er heftigen Muskelkater. Die Nachwirkungen des Elektroschockers.
»Sie haben ausgesagt, dass es unser Mann gewesen sei. Sind Sie da sicher?«
»Absolut.«
»Und er hat Ihnen nicht seinen Namen genannt?«
»Nein. Er nannte sich nur Hiob.«
»Hiob«, sagte Blake und schnaubte. »Das macht es für uns nicht gerade einfacher. Wird eine Weile dauern, bis wir das identifiziert haben, was von ihm übrig geblieben ist. Was genau wollte er von Ihnen?«
»Uns davon überzeugen, dass er Stephen Bridgewater entführt hat.«
Mark hielt ihm den Ehering hin. Auf der Innenseite stand Sarahs Name, daneben war das Hochzeitsdatum eingraviert.
»Und er hat Ihnen keinen Hinweis auf den Aufenthaltsort von Bridgewater gegeben?«
»Er wollte ihn mir nicht sagen.«
Blake nickte stumm. Dann steckte er den Ring in einen transparenten Plastikbeutel und schob ihn in seine Lederjacke. »Und die Frau? Hat er auch Miss Parish erwähnt?«
»Ja, er hat von ihr voller Hass gesprochen. Für ihn war Katherine Parish eine Schlampe, die das Familienleben der Bridgewaters zerstört hat.«
Blake nickte wieder und zog eine Packung Kool aus der Jackentasche. »Mr. Behrendt, Sie als Psychiater, was glauben Sie – hat er die beiden umgebracht?«
»Nein, ich denke, sie sind noch am Leben. Zumindest hat er das gesagt.«
Blake sah ihn fragend an. »Glauben Sie ihm?«
»Er hatte keinen Grund zu lügen. Dieser Mann war sterbenskrank. Er hing am Leben, weil er wusste, dass es für ihn zu Ende war. Deshalb hat er sich in das Leben der Familie Bridgewater eingemischt. Er wollte bei ihnen das korrigieren, was bei ihm offenbar schiefgelaufen war. Ich glaube nicht, dass so einer tötet.«
»Korrigieren«, schnaubte Blake und versuchte vergeblich, sein Feuerzeug in Gang zu setzen, aber es gab nur knirschende Reibelaute von sich.
Dieses knirschende, mahlende Geräusch weckte bei Mark eine Assoziation. Wegen des Schocks von vorhin, hatte er zunächst nicht mehr daran gedacht, aber nun kamen ihm die Worte des Unbekannten langsam wieder in den Sinn. »Da fällt mir noch etwas ein … Gottes Mühlen?«
»Wie bitte?« Blake sah ihn irritiert an.
»Eine Formulierung, die Hiob verwendet hat. Gottes Mühlen mahlen langsam. Er hat dieses Sprichwort erwähnt, als ich ihn nach Stephen Bridgewater fragte. Sinngemäß meinte er, dass sie manchmal ein ganzes Jahrtausend mahlen müssen.«
»Ein Jahrtausend?«
Mark nickte. »Ja, und er hat es betont. Ich solle es ja nicht vergessen.«
»Verdammt!« Der Inspector riss die Augen auf. »Sind Sie sicher? Sagte er wirklich Mühlen und Jahrtausend?«
»Ja, das waren seine Worte. Meinen Sie, das hat etwas zu bedeuten?«
Blake warf seine Zigarette zu Boden. »Die Millennium Mills in den Docklands! Eine leer stehende Industrieruine. Dort müssen sie sein!«
Ohne Mark weiter zu beachten, lief er zu seinen Kollegen und gab Anweisung, ein Team zusammenzustellen, das sich unverzüglich auf den Weg zu den Docklands machen sollte.
»Blake, warten Sie!« Mark erhob sich. Er war noch etwas wackelig auf den Beinen. »Nehmen Sie mich mit!«
»Nein«, rief Blake ihm zu. »Sie bleiben hier!«
»Aber …«
»Kein Aber! Das ist Sache der Polizei.«
Damit ließ ihn der Detective Inspector stehen und stieg in einen Streifenwagen.
Mit eingeschalteter Sirene fuhren er und seine Kollegen davon.
Mark drängte sich durch die Menge und lief die Straße entlang, so schnell er konnte. Die eiskalte Luft schmerzte wie ein Messer in seiner Kehle, aber sie half auch gegen seine Benommenheit.
Als er an Gwens Wohnung angekommen war, klingelte er Sturm.
Gwen öffnete und sah ihn erschrocken an. »Mark! Was ist passiert?«
»Ich muss zu Sarah«, stieß er atemlos hervor.
Gwen deutete in die Wohnung. »Sie ist in der Küche. Kommen Sie doch …«
»Bitte holen Sie sie! Schnell!«
»Ja, sofort.«
»Und … Gwen?«, rief er ihr hinterher, als sie sich bereits abgewandt hatte.
»Ja?«
»Wir brauchen noch einmal Ihren Wagen.«
72.
Über den nächtlichen Docklands hing die dünne Sichel des Mondes. Ein frostiger Wind kräuselte Wellen im Hafenbecken des Royal-Victoria-Docks und ließ die Lichter des Londoner East End auf der Wasseroberfläche tanzen.
Einst war dies der größte Hafen der Welt gewesen und hatte zugleich einen Teil der Kornkammern Londons beherbergt, sodass die Anlegestellen mit zahlreichen Industriemühlen gesäumt waren. Doch mit dem Siegeszug der großen Containerschiffe kam das Ende des Londoner Hafens, denn nur noch wenige Schiffe konnten die nun zu eng gewordenen Docks anlaufen. In den Achtzigerjahren wurden die Anlegestellen schließlich für die Handelsschifffahrt geschlossen, und die Docklands erfuhren einen Wandel. Lagerhäuser und Industrieanlagen waren abgerissen worden und an ihrer Stelle Wohn- und Geschäftsgebäude aus dem Boden gewachsen. Nun nahm sich die gewaltige Ruine der Millennium Mills in diesem modernen Stadtviertel wie ein monströses Relikt einer längst vergangenen Epoche aus.
Detective Inspector Richard Blake hatte per Funk den Polizeieinsatz koordiniert und sämtliche verfügbaren Kräfte auf das weitläufige Gelände beordert. Außerdem hatte er um Verstärkung durch die Dockland Security gebeten, um zusätzliche Hilfe bei der Absicherung des nahezu sechzig Hektar großen Grundstücks zu erhalten. Auf keinen Fall durfte der Rettungseinsatz durch Schaulustige gefährdet werden.
Nun stand Blake neben dem Polizeiwagen und sah an dem elfstöckigen Gebäude empor, das im flackernden Schein der Blaulichter vor ihm aufragte.
Ganz oben, über der letzten Fensterreihe, konnte er den verrosteten Schriftzug Millennium Mills erkennen. Neben dem Hauptgebäude schloss sich ein kleinerer Trakt an, in dem sich einst die Ranks Premier Mill befunden hatte, und etwas abseits stand ein weiß getünchter Getreidesilo, dessen turmähnlicher Aufsatz an einen Leuchtturm erinnerte.
Es war kein leichtes Unterfangen gewesen, die Einsatzkräfte in so kurzer Zeit zu mobilisieren, besonders zu dieser späten Stunde. Doch es war ihm gelungen.
Nachdem sich die verschiedenen Suchtrupps um ihn versammelt hatten, wandte sich Blake an den Führer der Hundestaffel.
»Sie gehen mit den Hunden ins Hauptgebäude. Die Zeit drängt, aber seien Sie trotzdem vorsichtig, die Ruine ist einsturzgefährdet. Dockland Security hat das Gebäude umstellt und behält die Hinterausgänge im Auge. Ich nehme mir mit meinen Leuten den Seitentrakt vor. Noch irgendwelche Fragen?« Er sah in die Runde und nickte. »Gut, dann los!«
Blake und seine Mannschaft hatten das Nebengebäude kaum erreicht, als sich sein Funkgerät meldete.
»Sir, hier ist Perkins vom Spurensicherungsteam. Wir haben ein verlassenes Fahrzeug in einer Halle gefunden. Es war unter einer Plane verborgen …«
»Okay, ich komme zu Ihnen«, sagte Blake und bedeutete seinen Kollegen, sich ohne ihn auf den Weg in den Seitentrakt zu machen. Dann eilte er zum Fundort, wo ihn der hochgewachsene Kriminaltechniker mit ernstem Blick empfing.
»Es ist der gesuchte Mercedes«, sagte Perkins und deutete auf den Wagen. »Sieht nicht gut aus, Sir. Die Rückbank ist voller Blut.«
»Na großartig!« Blake rieb sich mit der Hand übers Gesicht. »Sonst noch etwas?«
»Im Kofferraum haben wir eine Reisetasche mit mehreren Anzügen gefunden und einen leeren Karton.«
»Ein leerer Karton?«
»Dem Etikett nach stammt er von einem Online-Versand für medizinische Artikel und enthielt zwei Großpackungen Natriumchlorid.«
Blake sah den Kriminaltechniker konsterniert an. »Natriumchlorid?«
»Isotonische Kochsalzlösung, wie man sie für Infusionen verwendet.«
»Ja, ja, ich weiß.« Blake winkte ungeduldig ab und runzelte die Stirn. »Aber was kann dieser Kerl damit vorgehabt haben?«
»Nun ja, Sir, vielleicht hat er den Karton ja auch für etwas anderes verwendet. Mehr kann ich Ihnen im Augenblick noch nicht sagen. Wir machen dann mal weiter.«
Damit wandte Perkins sich um und ging zu seinen Kollegen zurück, die den Mercedes untersuchten. Blake sah ihm nachdenklich hinterher, dann machte er sich auf den Weg zurück zu seinem Suchteam.
Er hatte die Halle kaum verlassen, als ein Constable auf ihn zueilte.
»Inspector? Sir?«, rief er Blake schon von Weitem zu. »Hier sind ein Mann und eine Frau, die unbedingt zu Ihnen wollen. Eine Mrs. Bridgewater und ein Mr. …«
»Behrendt«, seufzte Blake. »Auch das noch!«
73.
Blake kam ihnen mit zornigem Gesicht entgegen.
»Verdammt, ich hatte Ihnen doch gesagt, dass Sie hier nichts verloren haben!«
»Mein Mann ist da drin!«, rief Sarah aufgebracht und deutete auf das Gebäude. »Ich habe alles Recht der Welt, hier zu sein.«
Blake schüttelte den Kopf. »Wir tun alles, was in unserer Macht steht, Mrs. Bridgewater. Also lassen Sie uns unsere Arbeit machen. Fahren Sie wieder nach Hause. Wir werden Sie umgehend verständigen, sobald wir …«
»Nein«, fuhr sie ihn an. »Mark und ich werden hierbleiben. Ohne uns wüssten Sie nicht einmal von der Existenz dieses Mannes. Glauben Sie etwa, ich werde jetzt nach Hause gehen und Däumchen drehen? Ich will wissen, was mit meinem Mann ist!«
»Na schön«, brummte der Inspector. »Dann bleiben Sie eben hier. Und zwar genau hier!« Er zeigte auf einen Polizeiwagen, der in sicherem Abstand zum Gebäude stand. »Und Sie werden sich keinen Millimeter von der Stelle rühren, verstanden?«
Just in diesem Moment meldete sich sein Funkgerät wieder.
»Wir haben etwas!«, quäkte eine Männerstimme aus dem Lautsprecher.
Der Detective Inspector riss das Funkgerät hoch und sah sich zu dem Gebäude um. »Hier ist Blake. Was haben Sie gefunden?«
»Inspector? Wir haben den Mann«, kam die Antwort. »Erster Stock.«
»Ist er am Leben?«
»Moment, wir gehen gerade zu ihm rein.«
Für drei oder vier endlose Sekunden hörten sie nur atmosphärisches Rauschen, ehe sich der Polizeibeamte wieder meldete. »Ja, Sir, er lebt. Wir brauchen sofort einen Not… Fuck! Was ist das denn?«
Blake wechselte einen ratlosen Blick mit Mark und Sarah, die ihn erschrocken ansahen. »Was ist denn los bei Ihnen?«
»Sir, das ist unglaublich!«
»Verdammt, was ist los?«
»Sir, kommen Sie schnell her. Das sollten Sie sich ansehen. Und schicken Sie die Sanitäter hoch. Sie sollen den seitlichen Aufgang nehmen. Der Hauptaufgang ist zu marode.«
»In Ordnung«, sagte Blake und wollte sich schon auf den Weg machen, als Sarah ihn zurückhielt.
»Wir kommen mit!«
Blake funkelte sie zornig an. »Mrs. Bridgewater, ich lasse Sie verhaften, wenn Sie jetzt nicht vernünftig …«
»Blake«, ging Mark dazwischen, »ich bin Arzt. Nehmen Sie wenigstens mich mit. Wir verlieren gerade wertvolle Zeit.«
Für einen Augenblick sah ihn der Inspector ungeduldig an, dann nickte er. »Also gut, auf Ihre eigene Verantwortung. Aber Sie bleiben hier, Mrs. Bridgewater! Haben Sie mich verstanden?«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, wandte Blake sich ab und lief zu den Rettungssanitätern
Mark nahm Sarah bei den Schultern.
»Bitte warte hier, okay?«
Sarah sah an dem Gebäude hoch, dann wieder zu Mark.
»Du musst Stephen helfen«, sagte sie, und er sah die Angst in ihren Augen.
74.
Ausgerüstet mit Helmen und Handlampen machten sie sich auf den Weg in das dunkle Gebäude.
Blake ging voran, dicht gefolgt von Mark, einem Constable und den beiden Sanitätern. Bereits nach wenigen Metern stieß Mark gegen einen Steinbrocken und wäre beinahe gestürzt.
»Passen Sie auf, wo Sie hintreten«, sagte einer der Sanitäter hinter ihm. »Hier können Sie sich leicht alle Knochen brechen.«
Die Millennium Mills befanden sich in einem maroden Zustand. Es war ein lebensgefährliches Unterfangen, hier einzudringen – vor allem bei Nacht. Das war Mark vorher nicht klar gewesen, und er war froh, dass Sarah nicht mitgekommen war.
Es roch nach Moder und Fäulnis, und Mark atmete unwillkürlich flacher.
»Hier hat man früher auch Hundefutter hergestellt«, sagte der zweite Sanitäter, der Mark beobachtet hatte. »Und so stinkt es hier auch.«
In den zerbrochenen Fensterscheiben heulte der Nachtwind, der vom Hafenbecken herüberdrang, und in unmittelbarer Nähe quiekten aufgescheuchte Ratten, die hier und da als schwarze Schatten über den Boden huschten. Sie schienen groß und gut genährt zu sein.
Im Gehen leuchtete Mark sein Umfeld ab. Überall bröckelte Putz von den Wänden, an vielen Stellen waren die Decken durchgebrochen, und man musste über Steinhaufen und herumliegende Metallträger steigen.
Sie durchquerten eine Halle, deren Decke von rostigen Metallsäulen getragen wurde. Von einigen hing noch der weiße Anstrich wie Hautfetzen herab. Sie kamen an verlassenen Schaltpulten, Armaturen und gewaltigen Spiralen vorbei, die einst das Getreide durch die Stockwerke der Mühle geleitet hatten, und dann erreichten sie die Stahltreppe, von der der Polizist am Funkgerät gesprochen hatte.
Die Treppe war völlig von Rost überzogen, schien aber noch begehbar zu sein. Bei jedem ihrer Tritte gaben die Stufen ein metallisches Ächzen von sich, und Mark vermied, sich an dem bedenklich wackelnden Geländer festzuhalten.
Als sie das erste Stockwerk erreichten, erwartete sie bereits ein junger Constable. Er hatte den Strahl seiner Lampe auf den Boden gerichtet, um die Ankömmlinge nicht zu blenden, aber Mark konnte erkennen, dass er hektisch auf einem Kaugummi kaute. Was immer er gesehen haben mochte, es schien ihn nervös gemacht zu haben.
»Hier entlang«, sagte er und zeigte auf das Ende des Ganges. »Aber seien Sie um Himmels willen vorsichtig! Da vorn gibt es ein paar verdammt große Löcher.«
Der Constable übernahm die Führung, und tatsächlich waren die Bodendielen an vielen Stellen durchgebrochen. In den Löchern hätte man sich leicht ein Bein brechen können.
Plötzlich blieb er stehen.
»Ach ja, Sir«, sagte er an Blake gewandt. »Das haben wir auch noch gefunden.«
Er leuchtete in einen kleinen kahlen Nebenraum, wo ein einzelnes Feldbett stand. Das Bett wirkte neu, als habe man es erst vor Kurzem hier aufgestellt, ebenso wie das Kissen und die akkurat zusammengefaltete Wolldecke. Daneben, auf dem Boden, standen einige geöffnete Konservendosen und Plastikflaschen mit Mineralwasser. Sie waren ordentlich an der Wand aufgereiht.
»Hier muss der Täter campiert haben.«
Blake runzelte die Stirn und nickte nur, dann setzten sie ihren Weg fort bis zu einem Durchgang, der zu einer weiteren Treppe führte.
Durch einen schmalen Aufgang stiegen sie acht Metallstufen bis zu einer Kehre empor, dann weitere acht Stufen bis zu einer offen stehenden Stahltür. Dort blieb der Constable stehen und sah sich zu ihnen um.
»He, was ist los da vorn?«, rief einer der Sanitäter. »Warum geht’s nicht weiter?«
Er leuchtete in das Gesicht des Constables, dessen ausgeprägter Adamsapfel wie wild auf und ab hüpfte. Auf seiner Stirn schimmerten Schweißperlen, und seine weichen Gesichtszüge waren blass und wie zu einer Grimasse verzerrt.
»Also, ich sag Ihnen …« Er räusperte sich und schluckte mehrmals, ehe er weitersprechen konnte. »Sie sollten sich … auf was gefasst machen.«
Dann trat er zur Seite und ließ sie an sich vorbeigehen.
75.
Mark blieb neben dem jungen Constable stehen, während Blake und die anderen in den Raum eilten. Der Inspector war jedoch noch keine drei Schritte weit gekommen, als er abrupt stehen blieb.
»Ach du heilige Scheiße!«, stieß er hervor und riss die Augen auf.
Der Anblick, der sich ihnen bot, war bizarr. Der Raum hatte die Größe eines Ballsaales und war in einem deutlich besseren Zustand als die anderen Räume, die sie bisher auf ihrem Weg nach oben gesehen hatten. Der Boden war mit Kalkstaub bedeckt, in dem sich Schleifspuren und Fußabdrücke abzeichneten. Etwa in der Mitte des Raumes saß Stephen Bridgewater gefesselt auf einem Stuhl. Er war nur mit einem Hemd bekleidet, und seine Haut wirkte ebenso bleich wie die Kalkwände um ihn herum. Von seinem linken Arm führte ein dünner Schlauch zu einem rostigen Infusionsständer, an dem ein leerer Beutel mit Kochsalzlösung baumelte.
Beim Näherkommen drang ihnen der Gestank von Fäkalien entgegen. Mark sah Stephens Beine, an denen eine bräunliche Flüssigkeit angetrocknet war, und verzog angewidert das Gesicht.
Stephen hatte die Augen geschlossen und wirkte wie tot. Die beiden Sanitäter eilten zu ihm, befreiten ihn von seinen Armfesseln und lösten vorsichtig den Klebebandstreifen um seinen Kopf, der ihn an die Stuhllehne fixiert hatte, während Blake auf das Gebilde vor ihm zuging und es fassungslos anstarrte.
»Teufel auch«, ächzte er. »Das ist pervers!«
Unmittelbar vor Stephen befand sich ein halbhohes Metallregal. Obenauf stand ein Flachbildschirm, der durch ein buntes Kabelgewirr mit mehreren Autobatterien verbunden war. Zwei weitere Kabel führten über den Boden in den hinteren Teil des Raumes zu einer Glaskabine, deren Fensterscheiben mit schwarzer Folie verhängt waren.
Mark trat zu dem Inspector. Als er sah, was der Bildschirm zeigte, fuhr er angewidert zurück. Er wechselte einen schnellen Blick mit Blake, dann sahen sie beide zu der Kabine, wo die beiden Constables soeben die Plane von der Glasfront entfernt hatten.
In dem kleinen Raum saß eine Frau auf einem Stuhl. Ihr Kopf hing auf die Brust herab, und ihre langen roten Locken verdeckten ihr Gesicht. Wie Stephen war auch sie nackt bis auf ein Hemd, doch bei ihr sah es aus, als habe man ihre Brust mit einem Eimer roter Farbe übergossen – eine Unmenge Blut, die inzwischen auf ihrem Körper getrocknet und verkrustet war. Die beiden langen Kabel führten zu einer Kamera, die vor ihr auf einem Stativ angebracht war.
»Das ist unglaublich«, sagte Blake mit belegter Stimme. »Ich habe in meinem Beruf wirklich schon einiges gesehen, aber das hier …«
Er deutete wieder auf den Bildschirm. Die Kamera in der Glaskabine war so ausgerichtet worden, dass der Bildschirm eine Großaufnahme von Katherine Parishs gespreizten Beinen zeigte.
Mark konnte es nicht fassen. Das war also die Lektion, die der Mann, der sich Hiob genannt hatte, Stephen Bridgewater erteilt hatte. Die Lektion hatte daraus bestanden, dass er Katherine Parish vor Stephens Augen auf ihr Geschlecht reduziert hatte. Es war ein Bild, das Stephen entgegenschreien sollte: Sieh dir genau an, worum es dir wirklich bei ihr geht!
Hiob hatte gesagt, dass Stephen zäh gewesen sei. Demnach musste er lange auf diesen Bildschirm gestarrt haben, der ihm die mit Blut verschmierte Vagina seiner Geliebten gezeigt hatte.
Doch am meisten schockierte Mark das gerahmte Foto, das neben dem Bildschirm stand. Die lachende Familie Bridgewater, Stephen mit Sarah und Harvey vor einer Miniatureisenbahn. Ein einziger zynischer Vorwurf.
Das hast du dafür aufgegeben, sollte dieses Foto sagen.
Ein lautes Krachen hinter ihnen ließ Mark herumfahren. Die beiden Constables hatten die Tür der Glaskabine aufgebrochen.
»O Scheiße!«, schrie einer von ihnen auf und schlug die Hand vors Gesicht. »Dieser Gestank!«
Er taumelte zurück und stieß dabei gegen seinen nicht minder schockierten Kollegen, während ein Sanitäter an ihnen vorbei zu Katherine Parish eilte. Er hob vorsichtig ihren Kopf an und fühlte den Puls an ihrer Halsschlagader. Dann ließ er ihren Kopf wieder auf ihre Brust zurücksinken und sah Blake durch die Glaswand an. Der Sanitäter schüttelte den Kopf.
»Sie ist tot, Sir.«
Der jüngere der beiden Constables, der nur wenige Meter von dem Sanitäter entfernt stand, wandte sich hastig von der Kabine ab und lief zu einer Ecke des Raumes, wo er sich geräuschvoll übergab.
76.
Zwei Tage später stand Mark in der Küche der Bridgewaters und sah in den schneebedeckten Garten hinaus. Gwen spielte Fangen mit den beiden Kindern. Sie jagten sich kichernd und quiekend zwischen den Büschen, und hin und wieder flog ein kleiner Schneeball durch die Luft. Gestern hatte es stundenlang geschneit, und an diesem Morgen waren noch einmal ein paar Zentimeter Neuschnee hinzugekommen – zu pulvrig für einen Schneemann, aber wenigstens eine vielversprechende Aussicht auf weiße Weihnachten.
Gwen und Diana hatten die Nacht bei Sarah und Harvey verbracht. Es war ihre erste Nacht im eigenen Haus gewesen, seit die Ereignisse um den Unbekannten ihren Lauf genommen hatten, und Gwen hatte Sarah wie immer beigestanden.
Nun war es, als würde ganz allmählich der Alltag ins Haus der Bridgewaters zurückkehren. Aber der Schein trog, dachte Mark. Es war vielleicht eher der Auftakt zu einem Neuanfang.
Auf dem Gang hörte er Sarah telefonieren. Sie sprach mit Stephens Arzt auf der Intensivstation des King’s Hospitals. Bei Stephens Einlieferung war sein Zustand als bedenklich eingestuft worden. Trotz der Infusion, die ihm der Unbekannte verabreicht hatte, war er stark dehydriert gewesen, und er hatte eine schwere Unterkühlung erlitten.
Dennoch, Stephen schwebte nicht Lebensgefahr, und diese gute Nachricht hatte einen sichtbaren Wandel bei Sarah hervorgerufen. Bei Marks Besuch am gestrigen Abend hatte sie wieder mit Appetit gegessen, und in ihr Gesicht war die Farbe zurückgekehrt.
Heute Morgen hatte Mark noch einmal mit Detective Inspector Blake gesprochen. Offenbar gab es immer noch keine zuverlässigen Hinweise zur Identität des Unbekannten. Zunächst war man der Verbindung des Mannes zu John Wakefield nachgegangen. Wie die alte Mrs. Livingstone erzählt hatte, musste Wakefield selbst einmal Patient des Royal Marsden Hospitals gewesen sein. Dort hatte man sich auch an einen ehemaligen Patienten erinnert, auf den die Beschreibung des Narbenmannes zutraf – laut Aussage des Personals sei sein Name John Reevyman gewesen –, doch rätselhafterweise gab es weder eine Krankenakte noch eine Eintragung in die Patientendatei der Klinik.
Auch sonst schien es einen Mann dieses Namens nie gegeben zu haben. Ein John Reevyman tauchte in keinem Personenstandsregister auf. Aufgrund der fehlenden Fingerabdrücke, die wie alle übrigen Verbrennungen an seinem Oberkörper von einem schweren Unfall herrühren mussten, gestaltete es sich weiterhin schwierig, wenn nicht gar unmöglich, die wahre Identität dieses Mannes herauszufinden. Denn es gab auch keine Vermisstenmeldung, die auf einen Mann mit seiner Beschreibung zutraf.
Ja, es war, wie Hiob selbst gesagt hatte: Er war ein Niemand – und offenbar hatte er alle notwendigen Vorkehrungen getroffen, dass dies auch so blieb.
Was die junge Frau auf dem Foto betraf, das Hiob Sarah hatte zukommen lassen, liefen die Nachforschungen noch. Man hatte das Bild in der Presse veröffentlicht, aber bislang hatte sich niemand gemeldet.
Nach einer Weile kehrte Sarah in die Küche zurück und trat zu Mark ans Fenster. Auf ihrem Gesicht stand Erleichterung zu lesen.
»Wie geht es ihm?«
Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Er ist über den Berg, sagt der Doktor. Seit heute Morgen ist er wieder bei Bewusstsein. Wenn es so gut weitergeht, kann er vielleicht schon nächste Woche aus dem Krankenhaus entlassen werden.«
»Das freut mich«, sagte Mark und berührte sie an der Schulter.
Sarah nickte, griff nach seiner Hand und sah dann zu Gwen und den Kindern in den Garten hinaus.
»Wenn ich doch nur wüsste, was ich jetzt tun soll«, sagte sie leise. »Ich fühle mich so zerrissen. Wie soll ich mich Stephen gegenüber verhalten? Ich bin so maßlos wütend auf ihn. Und gleichzeitig habe ich Mitleid mit ihm. Was muss er durchgemacht haben … Ich glaube, ich liebe ihn noch immer. Trotz allem. Klingt das verrückt?«
Mark drückte ihre Hand. »Nein, überhaupt nicht. Ihr solltet miteinander reden, sobald es ihm besser geht. Versucht, eine gemeinsame Lösung zu finden.«
»Das hätten wir schon viel früher tun sollen.« Sie sah zu Harvey hinaus, der lachend auf dem Rücken lag und mit Armen und Beinen einen Schneeengel formte. »Vielleicht wäre dann all das nicht passiert. Wenn wir wirklich eine glückliche Familie gewesen wären, hätte uns dieser Verrückte vielleicht in Ruhe gelassen. Dann hätte es für ihn keinen Grund gegeben, sich in unser Leben einzumischen.«
»Da wäre ich mir nicht sicher«, sagte Mark.
»Wieso?«
»Er wollte unbedingt an Stephens Stelle sein. Selbst als er sich das Leben genommen hat, trug er Stephens Kleidung. Als ob er dadurch in die Haut deines Mannes schlüpfen und seine Rolle einnehmen konnte. Ihr hattet etwas, worum er euch beneidet hat. Und wer weiß, vielleicht habt ihr es ja noch immer?«
Sie ließ ihn los, wandte sich von ihm ab und ging zur Küchenzeile. Mark sah, wie sie sich mit dem Handrücken über die Augen wischte, ehe sie sich wieder zu ihm umdrehte.
»Möchtest du noch Tee?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln.
»Nein danke«, sagte er und stellte die leere Tasse auf dem Tisch ab. »Ich werde mich jetzt wieder auf den Weg machen. Mein Flug geht in ein paar Stunden, und ich muss noch meine Sachen packen.«
»Was wirst du tun, wenn du wieder in Deutschland bist?«
»Es gibt einige Dinge, die ich noch in Ordnung bringen muss, und dann werde ich mir einen neuen Job suchen.«
»Wirst du in Frankfurt bleiben?«
»Offen gestanden, habe ich mir darüber noch keine Gedanken gemacht. Aber ich glaube, ein Tapetenwechsel würde mir ganz guttun.«
Sie lächelte ihn an. »Vielleicht kommst du ja nach London zurück? Unsere Tür steht jederzeit für dich offen, das weißt du.«
Er ging zu ihr und küsste sie auf die Wange, woraufhin Sarah ihn in die Arme nahm. Aus dem Garten drang das Lachen der Kinder zu ihnen, und wieder musste Mark an ihre gemeinsame Jugend denken. An den Tag, an dem sie ihm von ihrem Stipendium erzählt hatte. Von dem Neuanfang, den ihr der Brief der Universität versprochen hatte.
Nun war es ähnlich.
»Danke«, flüsterte sie. »Danke für alles.«
»Ich bin immer für dich da.«
Sarah begleitete ihn zur Tür, wo sie sich noch einmal umarmten, ehe er sich endgültig verabschiedete und in den Garten ging, um Gwen und den Kindern Auf Wiedersehen zu sagen.
Er dankte Gwen für ihre Hilfe und musste Harvey versprechen, ihn recht bald wieder zu besuchen. Dann machte er sich auf den Weg zurück zur Bahnstation und sah sich noch ein letztes Mal um. Sarah winkte ihm nach, doch dann hielt ein brauner UPS-Lieferwagen vor ihrer Tür und nahm Mark die Sicht.
Als er kurz darauf am Bahnsteig stand und auf seinen Zug zurück in die Innenstadt wartete, fragte er sich, ob er Sarah jemals wiedersehen würde. Dann schaute er auf die Lebensuhr an seinem Handgelenk – auf die Metallplatte, unter der seine verbleibende Zeit rückwärts lief.
Ja, dachte er. Es wäre durchaus möglich.
77.
Ein kaugummikauender junger Mann mit bleichem Sommersprossengesicht, das über seiner braunen UPS-Uniform wie ein Vollmond zu leuchten schien, überreichte Sarah ein Paket.
»Terminlieferung für Mrs. Sarah Bridgewater«, sagte er und hielt ihr lässig sein digitales Unterschriftengerät entgegen. »Bitte bestätigen Sie den Empfang.«
Sarah stellte das Paket ab und unterzeichnete auf dem Display, dann nahm sie es wieder auf und trug es in die Küche. Es war nicht besonders schwer, und irgendetwas schien darin hin und her zu kullern.
Gwen und die Kinder kamen hinter ihr ins Haus.
»Puh!«, rief sie aus. »Das war vielleicht ein Spaß. Jetzt haben wir uns aber einen schönen heißen Tee verdient.«
»Für mich Milch und Kekse«, orderte Harvey, und Diana stimmte lauthals mit ein: »Au ja, Milch und Kekse!«
»Sind schon unterwegs«, sagte Gwen und stellte kurz darauf ein Tablett mit zwei Gläsern Milch und Schokokeksen vor den Kindern auf den Küchentisch. Dann goss sie sich selbst eine Tasse Tee ein und lehnte sich neben Sarah an das Büfett.
»Glaubst du, du wirst allein zurechtkommen?«, fragte sie und nippte an ihrer Tasse.
»Klar«, sagte Sarah. »Außerdem habe ich ja noch Harvey. Wir werden das schon schaffen.«
Harvey bewegte den Keks in seiner Hand, als sei er eine fliegende Untertasse im Anflug auf Diana. Dazu machte er einen tiefen Brummlaut, der dem Mädchen ein Kichern entlockte.
»Er ist ein großartiger Junge«, sagte Gwen, »und er ist sehr tapfer.«
Sarah lächelte. »O ja, das ist er. Wenn man ihm so zusieht, könnte man glauben, es wäre nie etwas geschehen.«
»Wie geht es Stephen?«
»Besser. Er wird wohl bald aus dem Krankenhaus entlassen werden.«
»Und?«
Sarah stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich weiß es noch nicht. Mark meint, wir sollen es noch einmal miteinander versuchen. Aber ich bin mir so unschlüssig.«
»Du wirst schon die richtige Entscheidung treffen, da bin ich mir sicher«, sagte Gwen und stellte ihre Tasse neben sich ab. »So, und nun werden Lady Di und ich nach Hause fahren und Schulaufgaben machen. Wer zwei Tage Schule schwänzt, hat einiges nachzuholen.«
»Es ist ja nicht mehr lange hin bis zu den Weihnachtsferien.«
»Stimmt«, erwiderte Gwen mit einem Blick auf das Paket, »und ich habe noch keine einzige Karte verschickt. Also los, Milady!« Sie winkte Diana zu. »Auf, auf, es wartet Arbeit auf uns!»
Sie wandte sich wieder Sarah zu und nahm sie in die Arme. »Du kannst dich jederzeit bei mir melden, Liebes, das weißt du.«
»Ja, ich weiß.«
Gwen machte ein lustig bekümmertes Gesicht. »Schade nur, dass Mark nicht geblieben ist. Ich finde ihn sehr nett.«
Sie zwinkerte Sarah zu, nahm Diana bei der Hand und ging. Harvey lief ihnen zur Tür nach und schob Diana zum Abschied einen Keks in die Jackentasche, wofür er einen dicken Kuss auf die Wange erhielt, den er sich sogleich mit gespieltem Ekel abwischte.
Ja, Gwen, dachte Sarah ein wenig schwermütig, es ist wirklich schade, dass Mark nicht geblieben ist.
Wenn sie all den Geschehnissen der letzten Tage überhaupt etwas Gutes abgewinnen wollte, dann war es dieses Wiedersehen gewesen. Ein Beweis dafür, dass wahre Freundschaft keine Zeit kennt. Selbst nach Jahren kommt es einem so vor, als sei kein Tag seit dem letzten Wiedersehen vergangen.
Harvey holte sie aus ihren Gedanken zurück. »Mummy, glaubst du, Daddy würde sich über ein Bild von mir freuen?«
Sie sah ihm in die Augen, und sein Blick versetzte ihr einen Stich. Er freute sich auf die baldige Rückkehr seines Vaters und konnte es kaum erwarten, ihn wiederzusehen.
»Ja, ganz bestimmt, Schatz.«
»Au ja, ich hab auch schon eine Idee! Ich mal ihm ein großes Bild mit einer Eisenbahn. Das wird ihm bestimmt gefallen.«
Er rannte die Treppe zu seinem Zimmer hoch, während Sarah ihm mit Tränen in den Augen nachsah.
Als sie wieder in die Küche kam, fiel ihr Blick als Erstes auf das Paket auf der Ablage. Es war ein annähernd quadratischer Karton, auf dem nur ihr Name und ihre Adresse standen. Darüber prangte ein UPS-Aufkleber mit dem Vermerk Terminsendung und dem heutigen Datum.
Sie sah sich vergeblich nach einer Angabe des Absenders um und musste dabei an Gwens Bemerkung denken. Vielleicht war es ein vorzeitiges Weihnachtspaket. Oder hatte ihr Nora den Ausdruck eines neuen Manuskripts geschickt und in der für sie üblichen Eile vergessen, ihren Absender anzugeben?
Sie zog eines der Küchenmesser aus dem Block über der Ablage und entfernte vorsichtig die Klebestreifen. Dann schlug sie die Deckellaschen auf.
Der Karton war mit zerknüllten Zeitungsseiten gefüllt, und obenauf lag ein weißer Briefumschlag, auf dem Sarahs Name in Druckbuchstaben geschrieben war.
Diese gestochene Handschrift kam ihr bekannt vor, aber woher? Zu Nora gehörte sie jedenfalls nicht. Aber sie hatte diese Schrift erst kürzlich irgendwo gesehen … ebenfalls auf einem Briefumschlag.
GLÜCKWUNSCH!
Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag.
Es ist von ihm!
Sie warf den Brief auf die Arbeitsfläche, als habe sie sich die Finger daran verbrannt. Augenblicklich begann ihr Puls zu rasen, und sie starrte auf den Karton. Ihr fiel das seltsame Kullern wieder ein, das sie gespürt hatte, als sie den Karton hochgehoben und in die Küche getragen hatte.
Sie zögerte und betrachtete die zerknüllten Zeitungen.
Was mochte sich darunter verbergen?
Ihr war danach, den ganzen Karton, wie er war, in die Mülltonne zu werfen, doch die Neugier war größer. Sie rang noch eine Weile mit sich, dann begann sie, mit spitzen Fingern jedes einzelne Papierknäuel vorsichtig aus dem Karton zu entfernen. Schließlich hielt sie verblüfft inne.
Vom Boden des Kartons starrte ihr aus leeren Augenhöhlen ein Puppenkopf entgegen.
Was hatte das zu bedeuten?
Sie holte den Kopf aus der Schachtel und hielt ihn ins Licht. Es war ein unheimlicher Anblick, nicht nur wegen der fehlenden Augen.
Die rechte Hälfte des Puppengesichts war entstellt und rußgeschwärzt, als habe jemand eine Flamme zu nahe an den Kunststoff gehalten. Die intakte linke Seite zeigte das Gesicht eines pausbäckigen Mädchens mit aufgemalten Wimpern und roten Lippen, die zu einem Kussmund gespitzt waren. Das angedeutete blonde Haar, das aus demselben Kunststoff wie der Kopf selbst geformt war, bedeckte beide Ohren und war ordentlich gescheitelt. Der Kopf musste schon sehr alt sein, und hätte es noch einen Körper dazu gegeben, hätte die Puppe wahrscheinlich ein Kinderkleid im Modestil der späten Fünfzigerjahre getragen.
Sarah starrte eine Weile in die leeren Augenhöhlen der Puppe und versuchte zu verstehen. Warum schickst du mir das?, dachte sie, ehe sie den Kopf schließlich in den Karton zurückfallen ließ. Was willst du mir damit sagen?
Sie nahm den Umschlag, riss ihn mit zitternden Händen auf und holte den Brief heraus. Er war ebenfalls handschriftlich verfasst. Der Schreiber hatte einen Füllfederhalter benutzt und teures Büttenpapier mit dem Wasserzeichen der Crown-Mill-Manufaktur.
Sie ging mit dem Brief zum Küchentisch, setzte sich und begann zu lesen.
78.
Liebe Sarah …
Allein diese Worte genügten, um ihr Übelkeit zu verursachen. Diese vertrauliche Anrede … Als ob er wieder hier bei ihr in der Küche stünde. Durch dieses Paket war er erneut bei ihr eingedrungen, war erneut in ihren vier Wänden präsent. Selbst jetzt, wo er tot war.
Doch aus ebendiesem Grund hatte sie keine Angst. Diesmal konnte er ihr nichts anhaben. Also las sie weiter.
Dies sind die letzten Worte eines Sterbenden an Dich. Wenn Du sie liest, werde ich bereits tot sein.
Es scheint mir seltsam, mich auf diese Weise an Dich zu wenden. Nur zu gern hätte ich Dir all dies persönlich gesagt. Aber ich fürchte, Du hättest mir nicht zugehört. Du hast ja nicht einmal auf Deine eigenen Worte gehört, was die Situation zwischen Dir und Stephen betraf. Jedenfalls nicht, wenn ich die ausgestrichenen Passagen in Deinen Tagebüchern richtig gedeutet habe.
Für dieses unverschämte Eindringen in Deine Privatsphäre möchte mich von ganzem Herzen entschuldigen, aber es schien mir wichtig, Dich auf diese Weise wirklich kennenzulernen. Auch mit all Deinen Fehlern – ja, gerade mit Deinen Fehlern. Denn sind es nicht letztlich unsere Fehler, die uns menschlich machen?
Sarah schüttelte den Kopf. Nein, sie konnte diese Entschuldigung nicht akzeptieren. Dass er in ihr Leben eingedrungen war, konnte sie ihm nicht verzeihen – ebenso wenig wie alles andere. Er hatte kein Recht dazu gehabt. Hätte er sie wirklich kennenlernen wollen, hätte es andere Wege gegeben. Der einfachste wäre gewesen, sie anzusprechen, wenn er sich wirklich so sehr für sie und ihre Persönlichkeit interessiert hätte. Und dabei hätte es keine Rolle gespielt, ob sie sich selbst etwas vorlog oder nicht. Er hätte es ihr sagen können. Stattdessen aber hatte er es sie auf die schlimmstmögliche Weise spüren lassen – und dafür hasste sie ihn.
Es lag nie in meiner Absicht, Dir Vorwürfe zu machen oder Dich für Dein Verhalten zu verurteilen. Ich wollte Dich zum Nachdenken bewegen, und ich hoffe sehr, dass mein Vorhaben nun geglückt ist.
O ja, du Mistkerl, dachte sie. Ich habe noch nie über so vieles auf einmal nachgedacht wie in den letzten Tagen. Das ist dir hervorragend geglückt.
Sie ließ den Brief auf ihren Schoß sinken und überlegte, ob es wirklich klug war, ihn zu lesen. Sie sollte sich jetzt lieber um sich selbst kümmern und darum, wie es für ihre Familie weitergehen sollte, statt sich die Worte eines offensichtlich Geisteskranken zu Gemüte zu führen, die sie nur wieder aufwühlten.
Denn das Schlimme an seinen Worten war, dass sie auch ein Quäntchen Wahrheit enthielten. Eine Wahrheit, die ihr wehtat und die sie sich allenfalls aus dem Mund eines guten Freundes hätte gefallen lassen. Wenn Gwen oder Mark auf diese Weise mit ihr gesprochen hätten, wäre es etwas anderes gewesen. Aber dieser Unbekannte war nicht ihr Freund gewesen, auch wenn er sich offenbar selbst dafür gehalten hatte.
Sie sollte diesen Brief einfach zusammen mit dem Zeitungspapier, dem Karton und dem merkwürdigen Puppenkopf in den Müll werfen, dachte sie. Das wäre die vernünftigste Art, mit dieser Angelegenheit umzugehen.
Aber irgendetwas hielt sie davon ab. Vielleicht war es Neugier, vielleicht mehr … Was es war, konnte sie nicht genau sagen. Sie wusste nur, wenn sie den Brief wirklich bis zum Ende lesen wollte, musste sie sich wappnen, sie musste ihn objektiv und distanziert betrachten – wie ein abgeschlossenes Kapitel ihrer eigenen Lebensgeschichte, denn dazu war dieser Unbekannte nun einmal geworden, ob sie wollte oder nicht.
Sie nahm die Seiten wieder auf.
Du wirst jetzt wütend auf mich sein. Jetzt, nachdem ich Dich durch Deine persönliche Hölle geschickt habe. Wenn dem so ist, kann ich es Dir nicht verdenken. Die Wahrheit schmerzt, und demzufolge musste ich Dir eine Menge Schmerzen zufügen. Nur so konnte ich Dich aus dem dunklen Versteck in Dir selbst hervorholen. Du wärst darin zugrunde gegangen, glaub mir, denn kein Mensch kann lange ohne die Wahrheit leben.
Doch trotz all Deines Zorns auf mich, bitte ich Dich nicht zu vergessen, wo Du jetzt meinetwegen stehst. Du hast bereits viel erreicht und bist Deinem inneren Gefängnis entkommen.
Ich bin überzeugt, wenn Du heute die Klinke Deiner Bürotür berühren würdest, wärst Du ohne Angst. Du hast Dich der Situation gestellt, hast Deiner Angst ins Gesicht geblickt und weißt nun, wie Du ihr begegnen musst. Denn das Einzige, was es zu fürchten gibt, ist die Furcht selbst.
Aber es ist noch nicht vorbei, Sarah. Auch wenn ich jetzt tot bin, gibt es noch eine letzte Lektion, die ich Dir erteilen werde, um das, was zwischen uns gewesen ist, zu einem Abschluss zu bringen. Unser gemeinsamer Weg wird noch eine letzte Gabelung erreichen, ehe ich Dich wieder Dir selbst überlasse. Du wirst eine Entscheidung zu treffen haben, die Dein weiteres Leben bestimmen wird.
Wieder legte sie den Brief beiseite. Diesmal jedoch nicht aus Wut, sondern wegen eines unguten Gefühls, das jetzt zu ihr in den Raum geschlichen war.
Wovon sprach dieser Kerl?
Wollte er ihr drohen?
Aber womit?
Sie überflog noch einmal die letzten Sätze.
… eine letzte Lektion …
… eine letzte Gabelung …
Was meinte er damit?
Gab es etwa noch etwas, wovon sie nichts wusste? Hielt dieser Mann noch eine letzte schreckliche Überraschung für sie bereit? Eine finale Heimsuchung aus dem Reich der Toten, um sie vollends zu zerstören?
Nein, dachte sie. Nein, das werde ich nicht zulassen!
Denn in einem Punkt musste sie ihm recht geben, wenn sie es auch ungern tat: Sie war an dieser Situation gewachsen. Es gab keine Angst mehr für sie, keine Phobie, deren Ursprung sie nicht verstand oder nicht verstehen wollte. Beim nächsten Mal würde sie kämpfen und nicht eher ruhen, bis sie gesiegt hatte.
Es erscheint mir wichtig, Dir zunächst noch etwas über mich zu erzählen. Damit Du meine Beweggründe kennst.
Du wirst Dich sicherlich gefragt haben, wieso ich ausgerechnet auf Dich gekommen bin und weshalb es mir so viel bedeutet hat, zumindest während unserer kurzen persönlichen Begegnung für eine Weile in Stephens Rolle zu schlüpfen.
Wie Du Dir gewiss schon gedacht haben wirst, hat es mit der jungen Frau auf dem Foto zu tun, das ich Dir habe zukommen lassen (jedenfalls hoffe ich zu dem Zeitpunkt, da ich dies schreibe, dass Du den Blumenhändler ausmachen wirst – andernfalls bitte ich Dich, Shalimar Flowers aufzusuchen, wo Stephen für gewöhnlich seine Blumen für Dich kauft).
Der Name dieser jungen Frau, der du so ähnlich siehst, war Amy. Ich war unbeschreiblich in sie verliebt. Wir hatten uns kennengelernt, als wir beide neunzehn waren, und fortan gingen wir unseren Weg gemeinsam.
Wir hatten viele Pläne für die Zukunft. Pläne, wie Du sie selbst nur zu gut kennst. Ein gemeinsames Haus, nicht groß, aber gemütlich, und vielleicht einen Garten, in dem eines Tages unsere Kinder spielen würden. Wir hatten uns zwei Kinder gewünscht, einen Jungen und ein Mädchen.
Amy hatte von einer Hochzeit in Weiß geträumt, wie man sie aus diesen Filmen mit Hugh Grant kennt, mit vielen Brautjungfern, die uns mit Reis bewerfen würden, sobald wir aus der Kirche kamen.
Jedes Mal, wenn ich ihr sagte, wie kitschig ich diese Vorstellung fand, hatte sie gelacht. Sie fände es ja ebenfalls kitschig, sagte sie, aber das Bild würde ihr dennoch gefallen. Also hätte ich ihr diesen Wunsch nie abgeschlagen, ob kitschig oder nicht, da ich wirklich alles getan hätte, um sie glücklich zu machen.
Mit der Heirat und den Kindern hatten wir noch warten wollen, bis wir das nötige Startkapital dafür zusammengespart hatten. Kurz nach meinem sechsundzwanzigsten Geburtstag war es dann so weit, und wir begannen konkrete Pläne zu schmieden.
Im selben Jahr starb mein Vater an einem Herzinfarkt. Ihm hatte eine große Firma für Elektronikartikel gehört. Das Geschäft war zuletzt nicht mehr besonders gelaufen, aber er hatte die Firma noch für gutes Geld verkaufen können.
Da ich sein einziger Sohn und meine Mutter schon viele Jahre zuvor gestorben war, hinterließ er mir sein gesamtes Vermögen. Es war eine riesige Summe, verglichen mit dem, was Amy und ich in der Zwischenzeit gespart hatten.
Ich hatte mich mit meinem Vater nie sonderlich gut verstanden. Wir waren sehr unterschiedlich, und er war mir immer wie ein Fremder vorgekommen. Bei unseren letzten Unterhaltungen waren wir jedes Mal im Streit auseinandergegangen. Deshalb hatte mir sein Geld auch nichts bedeutet, und ich wollte das Erbe zunächst nicht einmal annehmen.
Aber ich musste auch an Amy denken. Durch dieses Vermögen standen uns nun ganz andere Möglichkeiten offen. Also nahmen wir uns vor, das Beste daraus zu machen.
Wir bestellten das Aufgebot und machten uns dann auf die Suche nach einem Haus, das unseren Vorstellungen entsprach. Wir wollten uns damit die nötige Zeit lassen, um auch wirklich einen Ort zu finden, an dem wir uns heimisch fühlten.
Bis dahin lebten wir in einem kleinen Apartment in Bloomsbury. Dort war es so eng, dass nur eine Person in die Küche passte. Unser Bett stand unter einer Dachschräge, an der man sich leicht den Kopf stieß (was mir während dieser Zeit bestimmt hundertmal passiert ist), und den Wäscheständer mussten wir zum Trocknen in die Badewanne stellen. Trotzdem fühlten wir uns dort wohl. Aber wahrscheinlich hätten wir uns auch in einer Streichholzschachtel wohlgefühlt. Die Hauptsache war doch, dass wir zusammen waren.
Und dann kam jener Frühsommermorgen, an dem Amy unser Leben perfekt machte. Tags zuvor hatten wir uns ein Haus in Herne Hill unweit des Brockwell-Parks angesehen. (Dort hatte ich übrigens einen Monat zuvor das Foto von Amy aufgenommen, das Du nun hoffentlich erhalten haben wirst.) Das Haus hatte uns sehr gut gefallen, und wir dachten ernsthaft über den Kauf nach.
Als wir an diesem Morgen gemeinsam zur Arbeit gingen und uns über Möbel und unsere Vorstellungen von der Inneneinrichtung unterhielten, lächelte Amy mich plötzlich an und fragte, welche Möbel ich mir denn im Kinderzimmer wünschen würde.
»Im Kinderzimmer?«, fragte ich, und sie sagte: »Ja, im Kinderzimmer«, und ihr Lächeln war noch breiter geworden.
Dann verriet sie mir, dass sie bereits im dritten Monat schwanger war.
Sarah, das Gefühl, das ich in jenem Moment empfand, ist nicht in Worte zu fassen.
Oder nein, ich muss mich korrigieren, vielleicht gibt es ja doch ein Wort dafür. Es scheint mir jetzt ganz einfach, wo ich Dir darüber schreibe.
Es war Glück.
Tiefes, reines Glück.
In diesem Moment hätte ich die ganze Welt umarmen können. Stellvertretend dafür umarmte ich die Urheberin meines Glücks, und wir tanzten gemeinsam die Straße entlang wie zwei verliebte Teenager.
Sarah lehnte den Kopf zurück und atmete tief durch. Was war nur los mit ihr? Auf einmal begann sie für diesen Mann Sympathie zu hegen.
Dies waren nicht die Worte eines Verrückten. Es waren die Worte eines Mannes, der sie an seinem Leben teilhaben ließ. Er legte seine Vergangenheit mit derselben Ehrlichkeit offen, wie sie ihre Vergangenheit in den Tagebüchern offengelegt hatte. Es war, als wollte er sein Eindringen in ihre persönlichsten Gedanken wiedergutmachen. Quid pro quo, oder wie sagte man? Ich gebe, damit du gibst …
Vielleicht hatte sie es sich bisher zu leicht gemacht, ihn einfach nur als verrückt abzustempeln. Es war immer bequemer, Menschen in Schubladen zu stecken, als nach den Gründen für ihr Handeln und ihre Wesensart zu fragen. Zwar entschuldigte dieser Brief nichts von dem, was er ihr und ihrer Familie angetan hatte, aber der Unbekannte wollte ihr helfen, damit sie ihn verstand. Denn Verstehen war der erste Schritt zur Bewältigung eines Erlebnisses.
Verrückt wäre eine zu einfache Erklärung, sagte dieser Brief. Die Wahrheit ging viel tiefer.
Wir waren so sehr mit uns selbst beschäftigt, dass uns die ältere Dame fast nicht aufgefallen wäre, die mit einem kleinen Mädchen an der Hand an uns vorbeihastete. (Im Nachhinein weiß ich jetzt, dass sie Großmutter und Enkelin gewesen sind.)
Es war Amy, die die beiden zuerst sah, und sie sah auch die Puppe, die das Mädchen in der Eile verloren hatte. Die Puppe hatte in ihrem pinkfarbenen Rucksack gesteckt und war ihr beim Laufen herausgerutscht.
Amy hob die Puppe vom Boden auf, und ich kann mich noch erinnern, wie ich beim Anblick des offensichtlich schon alten Spielzeugs dachte, dass es sich vielleicht um ein vorzeitiges Erbstück an das kleine Mädchen handelte. Die Lieblingspuppe der Großmutter oder vielleicht auch ihrer Mutter, die nun zur Lieblingspuppe des Mädchens geworden war, auch wenn die Farben ihres bunten Kleidchens längst ausgeblichen waren. Oder die Kleine hatte sich einfach nur auf irgendeinem Flohmarkt in sie verliebt, wer weiß?
Amy rief den beiden hinterher, doch die Frau hörte sie nicht. Sie schien ganz darauf konzentriert, noch den Bus zu erreichen, der bereits an der Haltestelle wartete. Also lief Amy ihnen mit der Puppe nach, und ich folgte ihr. Nun riefen wir beide, bis wir bei dem Bus angekommen waren, doch der übliche Morgenverkehr schien uns zu übertönen.
Die Frau und das Mädchen waren bereits eingestiegen, und Amy folgte ihnen in den Bus, die Puppe vor sich haltend.
Ich selbst blieb draußen stehen, und es war mir, als hielten mich unsichtbare Hände zurück, ebenfalls in den Bus zu steigen. Für einen Augenblick verstand ich nicht, was da in mir vor sich ging, ehe ich einen jungen Mann mit dunkelbraunen, ja, fast schwarzen Augen und dunklen kurzen Haaren bemerkte. Er stand inmitten des allmorgendlichen Gedränges, hielt sich an einer der Deckenschlaufen fest und murmelte etwas Unhörbares vor sich hin.
Ich sah die Sturzbäche von Schweiß, die ihm übers Gesicht rannen und funkelnde Perlen auf seinem säuberlich geschnittenen Vollbart bildeten.
Ihm musste aufgefallen sein, dass ich ihn anstarrte, denn er lächelte mich an und fasste nach seinem Rucksack. Abermals bewegte er dabei seine Lippen, und schließlich konnte ich seine Worte verstehen.
Allahu akbar.
Gott ist groß.
Dann verwandelte sich die Welt in ein Inferno.
Der Name dieses jungen Mannes war Hasib Mir Hussain, und dies alles geschah am Donnerstag, den 7. Juli 2005, morgens um 9 Uhr 47 im Bus Nummer 30 nach Hackney am Tavistock Square.
Es geschah an derselben Bushaltestelle, an der Amy und ich Tag für Tag vorbei zur Arbeit gegangen waren. Sie hatte nur wenige Hundert Meter davon entfernt in einer Buchhandlung gearbeitet und ich in einem Fachgeschäft für Elektrozubehör, zwei Straßen weiter.
Danach war nichts mehr wie zuvor.
Die Zeilen begannen vor Sarahs Augen zu verschwimmen. Sie schluckte und musste sich mehrmals mit dem Handrücken übers Gesicht fahren, ehe sie weiterlesen konnte.
Ich erinnere mich noch, wie ich wieder zu mir kam – die Ohren taub von der Explosion, und mein Körper ein einziges Meer des Schmerzes. Um mich herum waren Trümmerstücke auf dem Boden verteilt, als hätte ein Riese einen Schrotthaufen über mir ausgeschüttet. Ich sah nicht nur Schrottteile, ich sah auch andere Teile, Teile von Menschen. Es war schrecklich.
Und aus einem Grund, den ich mir bis heute nicht erklären kann, fand sich da auch der halb verbrannte Kopf der Puppe nicht weit von mir entfernt auf dem Asphalt. Ich streckte den Arm aus, griff danach und ließ diesen Kopf nicht mehr los.
Dann lag ich da, bis die Rettungskräfte eintrafen, und starrte auf das zerfetzte rote Dach des Busses.
Amy ist tot, dachte ich und las immer wieder die Worte auf einer Werbetafel, die noch halb an der Außenseite des Busses hing. Es war die Werbung für einen Kinofilm namens Der Abgrund, und auf der zerrissenen Tafel stand: »Der absolute Horror – gewagt und brillant«.
Ich glaube, zynischer hätte man diesen Augenblick wohl nicht kommentieren können.
Was danach folgte, war tatsächlich der absolute Horror für mich. Ich verbrachte Wochen im Krankenhaus, musste mehrere Transplantationen über mich ergehen lassen und konnte mich kaum bewegen, ohne zuvor etliche Schmerzmittel zu schlucken.
Doch gegen meinen eigentlichen Schmerz halfen weder Tabletten noch Injektionen. Ich hatte die beiden wichtigsten Menschen in meinem Leben verloren, Amy und unser ungeborenes Kind. Von einem Moment zum nächsten ausgelöscht, zusammen mit vielen weiteren Unschuldigen, durch einen wahnsinnigen Fanatiker.
An diesem Tag habe ich den Glauben an meinen Gott verloren. Aber falls es den Gott wirklich gibt, zu dem diese Menschen beten, werde ich ihm nie verzeihen, dass er dies zugelassen hat.
Als ich aus dem Krankenhaus kam, zog ich mich zunächst für mehrere Monate in unsere kleine Wohnung in Bloomsbury zurück und ging kaum noch vor die Tür. Ich war entstellt, wurde von allen angegafft wie eine Jahrmarktsattraktion, und die Kinder auf der Straße verspotteten mich. Das tat noch mehr weh als alle körperlichen Schmerzen. Ich konnte und wollte keinen Menschen mehr sehen. Geld hatte ich ja genug, und es schien niemandem aufzufallen, dass ich mich nirgendwo mehr blicken ließ.
Amy und ich hatten nie viele Freunde gehabt, wir waren uns immer selbst genug gewesen. Rückblickend denke ich, dass dies ein Fehler gewesen war, dass sich manche Dinge in meinem weiteren Leben vielleicht anders entwickelt hätten, wenn wir mehr Freunde gehabt hätten. Menschen, mit denen ich hätte reden können – so, wie ich jetzt durch diese Zeilen mit Dir rede. Aber wie heißt es doch: Hinterher ist man immer klüger.
Ich habe Dir eingangs geschrieben, dass dies die Worte eines Sterbenden sind, und das bezog sich nicht nur auf den Krebs, der nun in mir wuchert und mich demnächst töten wird.
Mein Sterben hat schon lange vorher begonnen. An dem Tag, an dem mir Amy und das Kind genommen wurden.
Ich empfand nur noch eine abgrundtiefe Leere. Ich suchte mir gelegentlich Jobs, wenn ich es gar nicht mehr alleine aushielt. Wegen des Geldes hätte ich es nicht tun müssen, aber hin und wieder hungerte ich nach Ansprache, nach menschlichem Umgang und sei es der belanglosesten Art. Ja, sogar der Spott über mein Aussehen war mir manchmal recht, solange ich überhaupt nur wahrgenommen wurde.
Und dann kam jener Tag, an dem ich wusste, dass es an der Zeit war, zu einem Arzt zu gehen. Er stellte fest, dass meine Narben zu wuchern begonnen hatten und der Krebs mich innerhalb einer kurzen Zeitspanne töten würde.
Etwa einen Monat später schlenderte ich dann wie fast jeden Tag durch den Brockwell-Park, vorbei an Amys Lieblingsplatz in der Nähe der öffentlichen Gewächshäuser, und da sah ich Euch beim Picknick. Dich und Harvey und Stephen, auf dieser rot karierten Decke.
Sarah zuckte unwillkürlich zusammen. So hatte er sie also entdeckt.
Sie konnte sich an diesen Tag sogar erinnern. Es war ein Sonntagnachmittag gewesen. Stephens Geburtstag. Sie hatten Hähnchenschenkel, Sandwiches und Kartoffelsalat für ein Picknick eingepackt. Den Kartoffelsalat mit Mayonnaise, den Stephen so gerne mochte. Zum Nachtisch hatte es Schokoladenkuchen gegeben, und Harvey hatte einen großen braunen Fleck auf der Decke hinterlassen, als er mit seinem Kuchenstück in der Hand gestolpert war.
Sie hatten so viel gelacht an diesem Tag, so viel Spaß gehabt. Vor allem, als sie später noch ein Stück mit der Miniatureisenbahn gefahren waren. Harvey hatte gar nicht mehr aussteigen wollen. Wenn er einmal groß sei, werde er eine richtige Dampflokomotive fahren, hatte er voller Begeisterung beteuert, und einer der Parkangestellten hatte die glücklichen Eltern mit ihrem zukünftigen Lokomotivführer fotografiert.
Das alles war nun wieder so präsent, als sei es erst gestern gewesen. Und sie hatten nichts von diesem Mann mitbekommen. Wie hatte er doch oben geschrieben: Wir waren uns selbst genug gewesen.
Ebenso war es ihnen an jenem Tag im Park ergangen.
Du kannst Dir nicht vorstellen, wie verblüfft ich im ersten Moment war. Eine Weile habe ich Euch angestarrt, als wäret Ihr Trugbilder meiner Fantasie.
Du siehst Amy zum Verwechseln ähnlich. Selbst in Deinen Gesten könntest Du ihre Schwester sein, und ich dachte mir, Harvey könnte ebenso mein Sohn sein und ich an Stephens Stelle bei Euch auf der Picknickdecke sitzen und mit Euch lachen.
Ja, ich sah die Familie, die Amy und ich nie haben würden.
Ihr habt mich nicht wahrgenommen, und das war mir sehr recht. So konnte ich Euch in aller Ruhe beobachten. Ich wollte Euch einfach nur zusehen und von meinem eigenen Leben träumen, wie es hätte sein können.
Als Ihr dann aufgebrochen seid, bin ich Euch gefolgt. Ich konnte einfach nicht anders. Ich musste sehen, wo und wie Ihr wohnt.
Von da an wurde ich süchtig. Ja, es lässt sich nicht anders beschreiben. Ich wurde süchtig danach, Euch zuzusehen. Mehr hatte ich nie vorgehabt.
Aber dann, eines Tages, folgte ich Stephen, und ich sah, was er Harvey und Dir mit dieser Frau antat.
Mein Zorn auf ihn war nicht zu beschreiben. Ich konnte es nicht fassen. Es tat mir weh, das sehen zu müssen. Dein Mann hatte alles Glück der Welt auf seiner Seite, aber er trat es mit Füßen.
Da beschloss ich, ihm eine Lehre zu erteilen. Ihm und dieser Katherine. Und da ich merkte, dass Du es zwar geahnt, aber dann die Augen davor verschlossen hattest, wusste ich, dass ich auch Dich in diesen Plan mit einbeziehen musste, wenn alles einen Sinn ergeben sollte.
Ich beschloss, dass dies mein Vermächtnis an Euch sein sollte.
Leider lief nicht alles nach Plan. Katherine Parish sollte nicht sterben. Aber es ist nun einmal geschehen, und es lässt sich nicht mehr ändern. Ich hoffe natürlich, dass Stephen seine Lektion überlebt. Denn sonst hätte ich versagt, und das wäre unverzeihlich, vor allem Euch gegenüber, Harvey und Dir.
Glaub mir, wenn Stephen jetzt, wo Du dies liest, noch lebt, wird er ein anderer Mensch geworden sein. Vielleicht sogar ein besserer Mensch.
Auf jeden Fall wird er verstanden haben, da bin ich mir sicher.
Ob Du Dich nun für oder gegen ihn entscheiden wirst, liegt allein bei Dir.
Ich bitte Dich nur noch um eines: Gib ihm den zweiten Brief, den Du in diesem Karton finden wirst. Es ist mein Abschiedsgeschenk an Stephen.
Wenn Du Deinen Mann und Deinen Sohn liebst, wirst Du ihm den Brief geben. Es hängt viel davon ab.
Für Dein restliches Leben wünsche ich Dir nur das Beste.
Ein Freund
79.
Eine Weile später kam Harvey fröhlich hüpfend die Treppe herab und eilte in die Küche.
»Sieh mal, Mummy!« Voller Stolz hielt er einen großen weißen Papierbogen vor sich in die Höhe. »Mein Bild für Daddy ist fertig. Gefällt es dir?«
Sarah stand mit dem Rücken zu ihm am Fenster. Ein paar vereinzelte Schneeflocken tänzelten vom Himmel. Sie wischte sich mit der Hand übers Gesicht, ehe sie sich zu ihrem Sohn umsah.
»Oh, das ist aber schön«, sagte sie und betrachtete lächelnd Harveys Kunstwerk. Es zeigte eine schwarze Dampflok, die an einer grünen Wiese mit Häusern und lachenden Strichmännchen vorüberfuhr und die der Miniaturbahn im Park sehr ähnlich sah. Darüber schien eine lachende grellgelbe Sonne.
Harvey ließ das Bild sinken und schaute sie besorgt an. »Hast du geweint, Mummy?«
»Ja, Schatz, ein bisschen.«
»Wegen mir?«
»Aber nein, mein Lieber, doch nicht wegen dir.«
»Wegen Daddy?«
Sie beugte sich zu ihm und nahm ihn in die Arme.
»Ich liebe dich«, flüsterte sie, und weitere Tränen rannen über ihr Gesicht. »Ich liebe dich so sehr.«
In einer Hand hielt sie noch den Brief des Unbekannten an Stephen. Der weiße Umschlag hatte zuunterst in dem Karton gelegen.
Wenn Du Deinen Mann und Deinen Sohn liebst, wirst Du ihm den Brief geben.
Diesmal war es, als würde sie die Worte des Unbekannten tatsächlich hören. Als stünde er wieder neben ihr.
Unser gemeinsamer Weg wird noch eine letzte Gabelung erreichen, ehe ich Dich wieder Dir selbst überlasse. Du wirst eine Entscheidung zu treffen haben, die Dein weiteres Leben bestimmen wird.
Zitternd drückte sie ihren Sohn fester an sich.
80.
Eine Woche später stand Sarah vor dem Haupteingang des King’s Hospital. Sie stampfte auf der Fußmatte den Schnee von den Stiefeln, während Harvey vor- und zurückhüpfte, sodass sich die Glasschiebetüren immer wieder öffneten und schlossen. Sein Bild mit der Eisenbahn hatte er aufgerollt und mit einer breiten roten Geschenkschleife zusammengebunden. Nun fuchtelte er damit aufgeregt herum.
»Komm schon, Mummy, komm schon!«
Er konnte es nicht mehr erwarten, seinen Vater wiederzusehen. Im Gegensatz zu Sarah, die diesen Augenblick so lange wie möglich hinausgezögert hatte. Bisher hatte sie nur mit den behandelnden Ärzten gesprochen und mit dem Stationspersonal, um sich nach dem Befinden ihres Mannes zu erkundigen. Zu mehr hatte sie sich nicht in der Lage gefühlt.
Als sie jetzt Stephen in der Sitzgruppe nahe des Informationsschalters entdeckte, spürte sie einen Stich in der Brust. Sie hätte ihn fast nicht wiedererkannt. Der Mann, der dort zusammengesunken saß und geistesabwesend in einer Broschüre blätterte, war nur noch der Schatten seiner selbst. Er war dünn geworden, geradezu ausgemergelt.
Und doch war es Stephen. Daran gab es keinen Zweifel.
Es war ihr Mann.
Und er hatte sich verändert.
Nun hatte auch Harvey seinen Vater inmitten der vielen Menschen ausgemacht, und er stieß ein freudiges »Daddy!« aus.
Stephen hob den Kopf und legte die Broschüre beiseite, dann stand er von seinem Platz auf und schloss Harvey in die Arme.
Sarah ging zögernd auf die beiden zu. Stephens Kleider, die Jeans und der warme Norwegerpullover, den sie ihm vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte, hingen an ihm herab wie an einem Kleiderbügel. Als Stephen Harvey anlächelte, war sein Gesicht faltig, seine Züge waren eingesunken, und die helle Deckenbeleuchtung warf Schatten in seinen hohlen Wangen.
Doch es waren die Augen, in denen die größte Veränderung vor sich gegangen war. Als Stephen sie schließlich ansah, dachte Sarah: Dieser Blick, er wirkt so …
Sie musste einen Moment nach dem richtigen Wort suchen, und als es ihr einfiel, fuhr sie innerlich zusammen.
Gebrochen.
»Hallo«, sagte er leise, und seine Stimme klang rau und unsicher.
Sie brachte nur ein ebenso scheues »Hallo« heraus.
Harvey drückte sich aus der Umarmung seines Vaters und hielt ihm sein Geschenk entgegen.
»Daddy, Daddy, schau, was ich für dich gemalt habe!«
Stephen nahm die Papierrolle, streifte behutsam die Schleife ab und entrollte die Zeichnung.
»Wow, nun sieh sich das einer an! Das ist ja ein richtiges Kunstwerk. Hast du das wirklich ganz allein gemalt?«
Für einen Augenblick klang er wie früher, dachte Sarah. Wie zu jener Zeit, als sie noch eine richtige Familie gewesen waren.
Wie an jenem Tag im Brockwell-Park.
Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Stephen? Können wir uns unterhalten?«
Er nickte und beugte sich zu Harvey hinab. Dabei sah Sarah, wie zittrig er war.
»Sag mal, Kumpel, siehst du den Zeitschriftenstand da drüben?«
»Na klar, ich bin doch nicht blind.«
»Was hältst du davon, wenn du mal rüberläufst und dir einen Comic aussuchst. Mummy und ich würden uns gern ein bisschen unterhalten. Ich komme dann rüber und kauf dir einen, okay?«
»Au ja, okay«, sagte Harvey und machte sich hüpfend auf den Weg zu den Comics, von denen er nie genug bekommen konnte, auch wenn Sarah es lieber sah, wenn er in richtigen Büchern blätterte, wie sie es nannte.
»Stephen … ich … ich weiß nicht, was ich tun soll …«, sagte sie und sah ihn ernst an.
»Das kann ich verstehen. Wenn du möchtest, hole ich von zu Hause ein paar Sachen und gehe für die nächsten Tage in ein Hotel. Bis … bis wir uns im Klaren sind, wie es weitergehen soll ….«
»Das … ist es nicht allein.«
»Nicht?«
»Nein.«
Sarah schlug die Augen nieder und fasste in ihre Handtasche. Es kostete sie große Überwindung, den Brief herauszuholen. Doch was blieb ihr auch für eine andere Wahl?
Dies war der Moment, von dem der Unbekannte gesprochen hatte. Die Weggabelung, an der sie sich entscheiden musste.
»Hier«, sagte sie und hielt Stephen den Brief entgegen. »Der ist für dich. Ich soll ihn dir geben.«
Zögernd griff Stephen nach dem Umschlag, auf dem nichts weiter als sein Name stand.
»Er ist … von ihm«, sagte Sarah und fügte nach einer kurzen Atempause hinzu: »Ich habe ihn gelesen. Der Umschlag war nicht zugeklebt.«
Ihre Blicke trafen sich, und für einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen. Dann zog Stephen das Blatt aus dem Umschlag und entfaltete es.
Es stand nur ein einziger Satz darauf, und als er ihn las, wurde er kreidebleich.
Sarah sah zu Harvey, der in einem Comic blätterte und sich dabei angeregt mit einem etwa gleichaltrigen Jungen unterhielt. Fachsimpelei unter Superheldenexperten.
Dann wandte sie sich wieder Stephen zu, der mit leeren Augen vor sich auf den Boden starrte.
»Ich will die Wahrheit wissen«, sagte sie entschlossen. »Die ganze Wahrheit. Hier und jetzt. Was hat dieser Satz zu bedeuten?«
Stephen schluckte trocken, dann nickte er langsam. »Ja, ihr beiden habt ein Recht darauf, es zu erfahren.«
81.
Sie gingen zu der Sitzgruppe zurück und ließen sich in der Ecke hinter dem Broschürenständer nieder, wo sie einigermaßen ungestört waren.
Als Stephen leise zu sprechen begann, hatte er den Kopf gesenkt, um Sarah nicht ansehen zu müssen. Sein Gesicht war noch bleicher geworden, sodass es aussah, als trüge er weiße Theaterschminke oder eine Papiermaske, hinter der er sich vor Sarahs Blicken verstecken konnte – aus Scham, weil er sich schuldig fühlte.
Zu Recht, dachte sie und ertappte sich bei einem Anflug von Genugtuung, doch gleichzeitig hatte sie auch Mitleid mit ihm. Es war alles so verwirrend.
Er stützte sich mit den Ellenbogen auf den Oberschenkeln ab und nestelte mit seinen Händen, als würden sie einen Kampf miteinander ausfechten. Doch der wahre Kampf fand in Stephen selbst statt, dachte Sarah.
»Ich habe Katherine auf einer Kunstausstellung kennengelernt«, begann er. »Es war damals im Victoria and Albert Museum, an dem Abend, als du mich nicht begleiten wolltest. Du hattest gesagt, du hättest Kopfschmerzen, erinnerst du dich?«
Sie nickte. Ja, sie erinnerte sich an jenen Abend. Sie hatte tatsächlich Kopfschmerzen gehabt, aber das war nur einer der Gründe gewesen, weshalb sie Stephen nicht hatte begleiten wollen. Der eigentliche Grund waren seine Geschäftspartner und Kollegen gewesen. Sarah hatte keine Lust auf Small Talk gehabt, auf oberflächliche Nettigkeiten und pseudointellektuelle Unterhaltungen, die einzig nur dem Zweck dienten, Kontakte zu pflegen, um an neue Aufträge zu kommen.
Bei solchen Gelegenheiten war sie ohnehin meist nur das freundlich lächelnde Accessoire an der Seite des aufstrebenden Architekten gewesen, und an jenem Abend hatte sie einer heißen Badewanne und einem neuen Manuskript den Vorzug gegeben.
Nun, da sie Stephens Beichte hörte, wünschte sie sich, sie hätte sich damals anders entschieden. Aber, um die Worte des Unbekannten zu zitieren: Hinterher ist man immer klüger.
»Zuerst war es nur eine ganz harmlose Angelegenheit zwischen uns«, sagte Stephen, und das kleine Wörtchen uns versetzte Sarah einen Stich. Er sagte nicht zwischen Katherine und mir, er sagte zwischen uns. Es klang so vertraut, und das verletzte sie.
»Wir unterhielten uns, verstanden uns, und sie fragte mich, ob ich die Planung für die Renovierung ihres Hauses übernehmen würde. Natürlich sagte ich zu. Es war zwar kein Großauftrag, aber das Geld konnten wir schließlich brauchen, dachte ich. Na ja, und …« Er räusperte sich. »Ich wollte sie auch wiedersehen.«
»Das alles will ich nicht wissen«, unterbrach ihn Sarah. »Das ist etwas zwischen euch beiden gewesen. Es verletzt mich, aber wenn du … dich zu ihr hingezogen gefühlt hast, muss ich das akzeptieren.«
»Ich habe sie nicht geliebt, falls du das meinst. Es war eher etwas …«
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Sag es nicht. Bitte!«
»Ja, du hast recht. Das wäre nicht fair. Denn für sie war es mehr, ich hatte es nur nicht gemerkt.«
Er starrte noch immer vor sich auf den Boden und kaute nervös auf seiner Unterlippe.
Sarah wartete, aber als Stephen nicht fortfuhr, hielt sie es nicht mehr aus. Sie wollte es endlich hinter sich bringen.
»Was ist geschehen, Stephen? Was meint dieser Mann in dem Brief? Ist es das, was ich denke?«
Er seufzte, als müsste er eine schwere Last aufheben. »Ich hatte Katherine zu ihrem Geburtstag einen Wochenendausflug versprochen. Wir wollten zu einem WellnessHotel fahren, von dem sie in einer Zeitschrift gelesen hatte. Also bin ich an diesem Freitag nicht zu einem Kunden gefahren, sondern zu ihr. Aber das weißt du ja schon. Wie immer habe ich den Mercedes in einem Parkhaus abgestellt, das sich in sicherer Entfernung von ihrem Haus befand. Ich weiß, London hat über acht Millionen Einwohner, und es hätte mit dem Teufel zugehen müssen, wenn jemand von unseren Bekannten oder gar du selbst den Wagen vor ihrem Haus gesehen hättet, aber ich wollte auf Nummer sicher gehen. Also fuhr ich den Rest der Strecke mit einem Taxi, wie jedes Mal.«
Er rieb sich übers Gesicht und machte dann eine hilflose Geste. »Nur war es diesmal anders. Ich musste kein Taxi rufen. Als ich aus dem Parkhaus kam, stand bereits ein Taxi auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Fast, als hätte es dort auf mich gewartet, dachte ich. Jetzt im Nachhinein weiß ich, dass es so gewesen ist. Der Taxifahrer schien eine Teepause an einem Imbissstand gemacht zu haben, und ich hielt das für einen Glücksfall. Normalerweise dauert es immer eine Weile, und ich war bereits spät dran. Wir beide hatten uns zuvor noch unterhalten, weißt du noch?«
Wieder nickte sie nur. Dabei war unterhalten der falsche Begriff für das gewesen, was zwischen ihnen stattgefunden hatte. Stephen hatte zwar mit ihr gesprochen, aber sie war ihm ausgewichen und hatte sich mehr um die Einkaufsliste gekümmert als um das, was er ihr gesagt hatte.
Rückblickend sah sie ein, dass sie gemerkt haben musste, dass er sie belog, und dass sie es einfach verdrängt hatte. So, wie so vieles in der vergangenen Zeit.
»Ich dachte mir nichts weiter dabei, als ich in das Taxi stieg«, sagte er. »Selbst dann noch nicht, als der Fahrer mein Gepäck neben mich auf die Rückbank stellte, statt es in den Kofferraum zu laden.«
»Es war der Mann mit dem Narbengesicht, nicht wahr?«
»Ja, und ich denke, ich weiß, wo sich der wirkliche Taxifahrer befunden hat. Ich hoffe, er hat ihn am Leben gelassen.«
Er sah kurz zu ihr auf, und sie musste schlucken, als sie die Betroffenheit in seinen Augen sah. Harvey hatte sie einmal so angesehen. Damals, als sie eine Amsel mit gebrochenem Flügel im Garten entdeckt und auf sein Drängen hin zu einem Tierarzt gebracht hatte. Danach hatte Harvey sie immer wieder gelöchert, ob der Vogel überleben werde, bis Sarah schließlich den Tierarzt angerufen und ihrem Sohn die gute Nachricht mitgeteilt hatte.
»Wir fuhren also zu Katherine, und ich sagte zu dem Mann, er solle kurz warten, ich würde nur schnell jemanden abholen, damit er uns dann zum Bahnhof fahren kann. Dann ging ich ins Haus. Dort saß Katherine im Wohnzimmer und weinte. Sie hatte noch nicht gepackt, und ich fragte sie, was mit ihr los sei. Sie sah mich aus ihren verweinten Augen an, und ihr Blick war ein einziger Vorwurf. Du … Du bist mit mir los, sagte sie. Und dann erklärte sie mir, dass sie dieses Versteckspiel nicht länger ertragen könne. Sie verlangte, dass ich mich von dir trennen solle, andernfalls würde sie dich besuchen und es dir selbst sagen. Ich war wie vor den Kopf gestoßen und konnte mir zunächst nicht erklären, warum sie sich auf einmal so verhielt. Bis dahin war es doch immer klar zwischen uns gewesen, dass es nur eine Art Freundschaft war, und dass ich Harvey und dich niemals aufgeben würde.«
Sarah legte verwundert den Kopf schief. »Eine Art von Freundschaft? So nennst du eine Affäre?«
Wieder fochten seine Hände einen Zweikampf aus, ehe er sie schließlich auf seine dünnen Schenkel presste und zur Ruhe zwang.
»Ja und nein«, sagte er. »Ich finde diesen Begriff so abgedroschen. Er hätte das, was zwischen Katherine und mir war, nicht passend beschrieben. Verstehst du, das war es, was ich vorhin meinte, als ich gesagt habe, dass ich sie nicht geliebt habe. Wir waren enge Freunde, es gab vieles, was wir gemeinsam hatten, und ja, wir hatten Sex, aber ich habe nie für sie empfunden, wie ich für dich empfunden habe, Sarah.«
Wieder sah er zu ihr auf, suchte etwas in ihrem Blick. Vielleicht Verständnis, vielleicht auch Vergebung.
»Das ist die Wahrheit, Sarah, ob du es mir glaubst oder nicht.«
Sie ging nicht darauf ein. Da war viel zu viel Enttäuschung. Und Wut. Und Verwirrung.
»Und dann?«, fragte sie. »Was war dann?«
Er senkte den Kopf, als habe er die Suche vorübergehend eingestellt. »Nun ja, ich hab ihr gesagt, dass ich mich nicht von dir trennen werde, und dass sie dich und Harvey aus dem Spiel lassen solle. Sie habe kein Recht dazu, Forderungen zu stellen … Da sprang sie auf und kam auf mich zu. O doch, hat sie gesagt. Sie habe sehr wohl ein Recht dazu. Sie habe jetzt sogar alles Recht der Welt.«
Sarah wich vor ihm zurück. »Nein, Stephen, sag, dass das nicht wahr ist!«
Seine Schultern begannen zu zucken, und Tränen rannen über sein bleiches Gesicht. »Es tut mir so leid, Sarah. Glaub mir bitte. Sie hatte es erst an diesem Vormittag erfahren, und nun sah ich die Furcht in ihren Augen, wie ich darauf reagieren würde. Sie muss gehofft haben, dass ich mich freuen würde, weil auch sie sich auf das Kind freute. Aber ich konnte ihr doch nichts vorspielen. Wenigstens in diesem Punkt musste ich doch ehrlich sein.«
Sarah ließ sich auf der Bank zurücksinken und sah zu Harvey hinüber, der noch immer in den Comics blätterte. Für einen Moment wünschte sie sich an seine Stelle.
Wieder ein Kind sein, dachte sie, die Welt wieder mit naiven Kinderaugen sehen. Was gäbe ich dafür …
Dann nahm sie allen Mut zusammen. Sie wusste, dass es wehtun würde, aber sie hatte keine Angst mehr.
»Was ist dann passiert, Stephen?«
»Ich, also … sie ist völlig ausgerastet, schlug auf mich ein«, sagte er und wischte sich die Tränen ab. »Ich sei ein Schwein, rief sie. Ich hätte sie nur benutzt, sie wie eine Nutte behandelt … In gewisser Hinsicht konnte ich es ihr nicht verdenken, aber in diesem Moment machte es mich wütend. Ich meine, sie war doch daran ebenso schuldig. Wir hatten doch beide … Jedenfalls schlug sie mich und schrie wie eine Verrückte. Ich wich vor ihr zurück, aber sie hörte nicht auf und schlug weiter auf mich ein. Und … dann … Ich wollte es nicht. Wirklich nicht. Ich habe sie nur von mir weggestoßen …«
Nun war es ausgesprochen. Und ja, es tat weh. Unsagbar weh. Es fühlte sich in Sarahs Brust an, als würde etwas darin zerbrechen.
»Sie stolperte über einen Vorleger und fiel rückwärts«, flüsterte er. »Ich wollte sie auffangen. Ehrlich, ich schwöre es dir bei allem, was mir heilig ist! Aber … Sie schlug mit dem Hinterkopf auf die Tischplatte. Und … gleich darauf war alles voller Blut. Die Glasplatte … der Boden … alles voller Blut. Sie hatte die Augen offen, aber sie reagierte nicht mehr. Ich packte sie, schrie sie an. Aber es war schon zu spät. Ich konnte keinen Puls bei ihr fühlen.«
Er schüttelte den Kopf, fuhr sich durch die Haare, und sein Blick irrte rastlos umher. »Es war alles so schnell gegangen. Ich kniete bei ihr und war wie von Sinnen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Und dann stand da plötzlich dieser Taxifahrer. Ich hatte wohl die Haustür offen gelassen, weil ich Katherine ja nur schnell abholen wollte. Er schien ebenso entsetzt wie ich. Ich versicherte ihm, es sei ein Unfall gewesen, und dass ich das nicht gewollt hätte, aber er sagte nichts. Er starrte uns beide nur an. Dann sagte er, er werde seinen Plan jetzt nicht mehr ändern können, aber das nun alles nur noch schmerzlicher werden würde, und ich verstand kein Wort von alldem. Er zog etwas aus seiner Jacke. Zuerst dachte ich, es sei ein altmodisches Handy, aber dann berührte er mich damit. Ganz plötzlich. Es war ein Elektroschocker. Ich versuchte mich zu wehren, aber meine Muskeln gehorchten mir nicht. Und dann stach er mir eine Spritze in den Hals. Ich verlor die Besinnung und kam irgendwann in dieser Halle zu mir. Dort saß ich dann, gefesselt. Vor mir stand der Bildschirm. Später holte er auch Katherine und schleppte sie in einen Nebenraum irgendwo hinter mir. Er schrie mich an, dass ich mir das alles selbst zuzuschreiben hätte, aber dass er alle Spuren beseitigt habe. Dann schaltete er den Bildschirm ein, und … o Gott!«
Er schluchzte und vergrub das Gesicht in den Händen. Es war ein Anblick, der Sarah das Herz zerriss. Sie hatte ihren Mann noch nie zuvor weinen sehen. Aber sie war nicht in der Lage, ihn zu trösten. Der Schock saß noch viel zu tief.
Sie stand auf, ließ Stephen zurück und ging zur Mitte der Halle. Um sie herum liefen Menschen an ihr vorbei. Ärzte, Krankenhauspersonal, Besucher. Jeder von ihnen wirkte geschäftig, ging seinem Leben nach. Und auch für sie musste das Leben wieder weitergehen, dachte sie, auch wenn sie noch keine Ahnung hatte, wie dieses neue Leben aussehen würde.
Nach einer Weile trat Stephen zu ihr. Seine Augen waren gerötet, und er sah aus wie ein bleiches Gespenst.
»Sarah«, sagte er. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich das alles bereue. Wie leid es mir tut. Ich weiß, es ist nicht zu entschuldigen, deshalb werde ich dich auch nicht um Verzeihung bitten. Aber eines sollst du wissen. Wer immer dieser Mann auch gewesen ist, in einem hat er recht gehabt. Ich hatte seine Strafe verdient.«
Harvey kam auf sie zugelaufen.
»Mummy, Daddy«, rief er. »Seid ihr bald fertig? Ihr habt mir doch einen Comic versprochen. Nun kommt schon, der Zeitschriftenstand schließt gleich.«
Stephen wandte sich ihm zu und lächelte. Es war ein schwaches, zerbrechliches Lächeln.
Nein, dachte Sarah, ohne es laut auszusprechen. Nein, Stephen, du irrst. Dieser Mann hat dir Unrecht angetan. Er hat uns beiden Unrecht angetan. Er hat mir seine Gründe zu erklären versucht, und ich konnte sie nachvollziehen. Aber billigen … Nein, billigen kann ich sie nicht.
Dass ihr Mann nun vor ihr stand, mit rot geweinten Augen und so dürr, dass sie ihn fast nicht wiedererkannte, war schon schlimm genug. Aber dass er auch noch dachte, er habe diese grausame Strafe verdient, das ging zu weit.
Wir alle machen Fehler, dachte sie, doch für Reue ist es nie zu spät. Ob man uns vergeben wird, steht auf einem anderen Blatt, das liegt nicht in unserer Macht. Aber keine Bestrafung kann begangenes Unrecht rückgängig machen.
Angst mochte vielleicht ein guter Lehrer sein, wie es der Unbekannte behauptet hatte, aber der beste Lehrer war immer noch die ehrliche Einsicht.
»Stephen?«
Er hielt Harvey im Arm und sah sie an, das zerbrechliche Lächeln für ihren Sohn noch auf den Lippen.
»Was wirst du jetzt tun?«, fragte sie. »Was sollen wir jetzt tun?«
Sein Blick wurde wieder ernst. Er schien zu überlegen und schaute dabei auf Harvey herab. Dann zog er den Brief des Unbekannten aus seiner Tasche, entfaltete ihn und las die Worte erneut.
Die akkuraten Druckbuchstaben auf dem blütenweißen Papier. Letzte Worte eines Toten.
NIEMAND MUSS ES JE ERFAHREN.
82.
Aus der Times vom 27. Dezember:
AUSSERGEWÖHNLICHES WEIHNACHTSGESCHENK
In den Weihnachtsmärchen heißt es, dass zu dieser Zeit Wunder geschehen können. Über ebensolch ein Wunder darf sich nun die Royal-Marsden-Krebsklinik freuen.
Wie der Chefarzt, Dr. Andrew Stone, unserer Redaktion mitteilte, erhielt er an Heiligabend ein als Terminlieferung deklariertes Paket, in dem sich 65 000 Pfund Bargeld befanden. In einem beiliegenden Brief bat der Absender, der sich namentlich nicht zu erkennen gab, dieses Geld der Abteilung für Krebsforschung zukommen zu lassen.
Im Namen der Klinik möchte Dr. Stone dem anonymen Spender auf diesem Wege herzlich danken.