38.

Es war kurz nach halb acht Uhr morgens, als er – mit einem Kaffeebecher in der einen Hand und einem Beutel schmutziger Wäsche in der anderen – »Mr. Yu’s Supreme Launderette« betrat. Er hatte mit vielen Morgenkunden gerechnet, und wenn dem so gewesen wäre, hätte er sich nach einem anderen Waschsalon umgesehen, doch er traf nur auf eine junge Frau, die auf der Holzbank in der Mitte des Salons saß und in einem Buch las, während vor ihr die Wäsche hinter einem der großen Bullaugen rotierte.

Die Frau sah auf, als er hereinkam. Sie mochte Ende zwanzig sein, aber sie war so dick, dass ihr Alter nur schwer zu schätzen war. Ihr Kopf ging halslos in einen massigen Leib über, und es sah aus, als würde sie mehrere Schwimmringe unter ihrem lila Sweater tragen. Ihr Gesicht war von Pickeln übersät und ihr Haar so dünn und schütter, dass man die weiße Kopfhaut glänzen sah.

Mit einem Wort, sie war hässlich. So wie er. Aber sie hatte hübsche Augen, klar und blau und wachsam, auch wenn sie den Blick sofort wieder von ihm abwandte. Das war er gewohnt.

Er stellte den Kaffeebecher ab, steckte seine Wäsche in den Automaten und füllte eine Spezialmischung aus Waschmittel und Bleiche sowie etwas Backpulver ein. Dabei ging er behutsam vor, um nichts zu verschütten, denn seine versengten Fingerkuppen behinderten ihn.

Auch mit dem Geldeinwurf hatte er Schwierigkeiten. Er konnte die Münzen nicht richtig fühlen, und eine davon fiel ihm zu Boden. Es würde noch eine Weile dauern, bis sein Tastsinn zurückgekehrt war.

Er setzte sich ebenfalls auf die Bank und war nicht weiter verwundert, als die Frau wie beiläufig in ihrer Handtasche zu wühlen begann und dabei ein Stück von ihm abrückte.

»Guten Morgen«, sagte er, als hätte er es nicht bemerkt, und prostete ihr mit seinem Kaffeebecher zu. »Ich bin Stephen. Den Kaffee von Henry’s gegenüber kann ich nur empfehlen. Schmeckt eindeutig besser als der von Starbucks. Trinken Sie Kaffee?«

Doch sie ging auf seinen Smalltalk-Versuch nicht ein. Stattdessen holte sie Ohrstöpsel aus ihrer Jackentasche und steckte sie sich in die Ohren – was bei ihrem feisten Gesicht aussah, als schöbe sie sich die Stöpsel direkt in den Kopf. Dann setzte sie einen MP3-Player in Gang und widmete sich wieder ihrem Buch.

Er sah den abgeschnittenen Finger auf dem Umschlag und las den Titel. Die Blutrache des Schlächters.

»Gutes Buch?«, fragte er mit lauter Stimme, aber er bekam keine Antwort. »Wahrscheinlich kein Buch für mich«, fuhr er fort. »Das wirkliche Leben ist schon grausam genug.«

Sie musterte ihn flüchtig aus den Augenwinkeln und runzelte dabei die Stirn, was sie wie einen Mops aussehen ließ. Wahrscheinlich irritierten sie seine zu kurzen Hosenbeine oder die Schuhe von Bugatti, die ihm offenkundig eine Nummer zu klein waren.

Dann rückte sie noch ein Stück weiter von ihm ab. Es fehlte nicht mehr viel, und sie würde von der Bank fallen.

Schade, dachte er. Ein wenig Konversation hätte ihm jetzt gefallen. Er hätte gern sein neues Ich an ihr ausprobiert, um zu sehen, ob er überzeugend wirkte. Dass sie ihn so vehement ignorierte, enttäuschte ihn.

Dabei müsstest du doch selbst wissen, wie es sich anfühlt, wenn man hässlich ist, wenn man von allen gemieden und nur heimlich angegafft wird, dachte er.

Aber offenbar wichen sich die hässlichen Menschen auch untereinander aus, weil sie sich für ihr Aussehen schämten oder vielleicht, weil sie sich selbst hassten. So wie er sich gehasst hatte für das, was er war – ehe er zu Stephen Bridgewater geworden war.

»Dann eben nicht.«

Er zuckte lapidar mit den Schultern und holte aus seiner Jackeninnentasche eine Zeitung hervor.

Er hatte sich vorhin am Kiosk für die Sun entschieden, denn wenn eine Zeitung ausführlich über den Vorfall berichten würde, dann war es das auflagenstärkste Boulevardblatt – natürlich vorausgesetzt, man hatte den Mann bereits gefunden.

Er überflog die Schlagzeilen, die verkündeten, dass Chelsea 2 : 1 gegen Arsenal gewonnen hatte, der Premierminister über einen Ausstieg aus der Europäischen Union nachdachte, Britney Spears neuerdings auf einen BH verzichtete und ein Student sich im Drogenrausch das Gesicht vom Kopf gekratzt hatte.

Schließlich fand er, wonach er gesucht hatte, und für einen Moment stockte ihm der Atem. Das klingt nicht gut!

Mysteriöse Entdeckung auf Parkplatz lautete die Schlagzeile. Darunter stand: Parkwächter findet Entführungsofper.

Okay, sie haben ihn also gefunden, dachte er, während er auf das Foto des Taxis starrte, das allein auf dem Parkplatz zu stehen schien, umringt von mehreren Polizisten.

Dann begann er mit pochendem Herzen zu lesen.

Den Schreck seines Lebens bekam Parkwächter Bernard Norris, 23, bei seinem gestrigen Kontrollgang auf dem Gelände der Northern Car Park Ltd. in Brixton. Im Kofferraum eines widerrechtlich abgestellten Taxis fand er einen Mann, der mit Klebeband gefesselt und geknebelt war. Offenbar wurde der Mann über mehrere Tage in dem Fahrzeug gefangen gehalten.

»Es hat gestunken wie in einer Kläranlage«, verriet der Parkwächter. »Aber ich wusste natürlich sofort, was zu tun war.«

Laut eines Polizeisprechers handelt es sich bei dem Opfer um einen sechsundvierzigjährigen Taxifahrer aus Sundridge. Der Mann sei bei seinem Auffinden stark dehydriert gewesen und werde jetzt intensivmedizinisch behandelt. Laut Aussage eines Arztes sei er jedoch außer Lebensgefahr. Im Blut des Taxifahrers habe man Spuren eines starken Betäubungsmittels gefunden. Außerdem gebe es Anzeichen, dass er mit einem Elektroschockgerät misshandelt wurde, erklärte der Arzt.

Über die Hintergründe der Tat ist bislang noch nichts bekannt.

Er ließ die Zeitung auf den Schoß sinken und atmete erleichtert auf.

Sie wussten nicht, wer es getan hatte.

Das war gut.

Und der Taxifahrer war am Leben und würde durchkommen.

Das war sogar noch viel besser.

Er hatte dem Mann nicht schaden wollen. Aber es war nicht zu vermeiden gewesen. Weil er das Taxi gebraucht hatte, um an Stephen heranzukommen. Dass der Mann eine Weile in seinen eigenen Hinterlassenschaften hatte zubringen müssen … nun, das war bedauerlich. Aber wenn der Mann gestorben wäre … ja, das hätte ihn betroffen gemacht.

So aber blieb ihm die gute Laune erhalten. Alles lief bestens, und bald konnte er Sarah einen weiteren Teil seines Geschenks zukommen lassen. Vielleicht entdeckte sie es sogar selbst?

Um sich die Zeit zu vertreiben, bis seine Wäsche fertig war, las er noch die anderen reißerisch aufgemachten Artikel mit Tagesaktualitäten: Es ging um Starlets und ihre Brustvergrößerungen, um Scheidungsdramen und Kinderwünsche diverser Prominenter, dramatische Lebensbeichten magersüchtiger Models und natürlich um Sport.

Ja, das ist es, was die Welt interessiert, dachte er. Damit füllen die Leute die Leere in ihrem Dasein. Mit den Lebensgeschichten anderer Leute. Irgendwann stellen sie dann fest, dass ihr eigenes Leben vorbei ist, ohne dass sie es gelebt haben. Sie würdigen ihr Leben nicht. Aber das kann ich jetzt ändern.

Irgendwann kehrte er aus seinen Gedanken zurück und stellte überrascht fest, dass die dicke junge Frau gegangen war. Er hatte es gar nicht bemerkt.

An ihrer Stelle saß da ein alter Mann mit zerzaustem Bart, der ebenfalls in die Sun vertieft war. Dabei grinste er über das ganze Gesicht. Das Titelgirl schien nicht nur seine Aufmerksamkeit erregt zu haben.

»Hey, Scarface«, sagte er und deutete auf das Bild, »das sind Titten, was? So was kriegen wir beide wohl nie ins Bett.«

Scarface.

Das hatte gesessen.

»Ich heiße Stephen«, entgegnete er scharf. »Stephen! Haben Sie mich verstanden?«

Schlagartig verschwand das Grinsen aus dem faltigen Gesicht seines Gegenübers.

»Klar doch, Mann«, sagte er kleinlaut und hob abwehrend die Hand. »Ich meine natürlich, es tut mir leid, Stephen.« Dann deutete er auf die Waschmaschinen. »Ist das da … ist das Ihre Wäsche? Die wäre jetzt fertig. Ich mein ja nur …«

Als er die Furcht in den Augen des Alten sah, musste er sich ein triumphierendes Lächeln verkneifen. Es gefiel ihm, dass er ihn hatte einschüchtern können. Dabei hatte er nur seinen neuen Namen genannt.

Das verlieh ihm Selbstbewusstsein.

»Ich bin verheiratet«, sagte er voller Stolz. »Glücklich verheiratet. Mit der besten Frau, die man sich wünschen kann. Und ich habe einen wundervollen Sohn, aus dem eines Tages etwas ganz Besonderes werden wird. Also verschon mich mit deinen Tittenbildern, alter Mann.«

Der Alte nickte nur und schluckte heftig. Es war ein wunderbares Gefühl.

Dann erhob er sich, nahm seine Wäsche aus der Maschine und hielt sie ins Licht.

Makellos rein, stellte er zufrieden fest. Der Tipp mit dem Backpulver und der Bleiche, den er auf einer Website für Junggesellen entdeckt hatte, war Gold wert gewesen. Zwar waren seine Hose und der Pullover nun etwas heller als zuvor, und aus Braun war Beige geworden, aber von den Blutflecken war keine Spur mehr zu sehen.

Sehr gut!

Er ging, ohne den Alten noch eines Blickes zu würdigen.

Den Beutel mit seiner Wäsche entsorgte er zwei Straßen weiter in einem Altkleidercontainer. Dann ging er pfeifend davon.

Was für ein Tag, dachte er.

Alles lief nach Plan.

39.

»Ich bin so froh, dass du gekommen bist!«

Noch in der Tür empfing ihn Sarah mit einer Umarmung. Sie wollte ihn gar nicht wieder loslassen, bis Mark spürte, dass sie weinte – leise, damit ihr Sohn nichts davon mitbekam. Mark hielt sie eine Weile fest, bis sie sich beruhigt hatte.

Sie sieht schlecht aus, dachte er, als sie sich wenig später in der offenen Küche ihrer Freundin, die sich als Gwen vorgestellt hatte, gegenübersaßen. Wie zur Bestätigung hing neben ihr ein Foto am Kühlschrank, das Sarah zusammen mit Gwen auf einer Party in ebendieser Küche zeigte: das blühende Leben, wie sie da dem Fotografen lachend ihr Cocktailglas entgegenhielt. Doch jetzt waren ihre Wangen eingefallen, und ihre Augen hatten dunkle Ringe. Eindeutige Zeichen, dass sie seit dem Vorfall in ihrem Haus nicht mehr richtig gegessen und geschlafen hatte.

»Ich habe heute eine Vermisstenanzeige aufgegeben«, sagte sie und schenkte ihm eine Tasse Tee ein.

»Und was hat die Polizei zu der Sache mit dem Unbekannten gesagt?«

Sie machte eine hilflose Geste. »Dasselbe wie vor zwei Tagen. Dass sie nach Stephens Auto fahnden werden. Und dass es außer meiner Aussage keinen Hinweis auf eine Entführung gibt. Dass es nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge allenfalls Hausfriedensbruch gewesen sei. Die wissen nicht, wie sie mir helfen können, Mark. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie mir wenigstens diesmal geglaubt haben. Ich kann ja nichts von alldem beweisen. Mir kam es eher so vor, als denken sie, er sei mir davongelaufen. Zigaretten holen

Sie stieß ein bitteres Lachen aus, legte ihren verletzten Arm auf die Tischplatte und kratzte nervös an einer Stelle knapp unterhalb der Schiene. »Mein einziger Trost ist, dass es Harvey wieder gut geht. Er weiß zwar, dass etwas nicht stimmt, aber er lacht wieder, spielt mit Diana.«

Mark schaute hinüber in den Wohnzimmerbereich, wo Harvey neben Gwen und ihrer Tochter auf dem Sofa saß. Die drei hatten Muffins gebacken, und in der Wohnung hing noch der süßlich schwere Geruch nach Teig, Blaubeeren und Schokolade. Sie sahen sich einen Zeichentrickfilm im Fernsehen an. Die Musik deutete auf eine wilde Verfolgung à la Tom und Jerry hin.

Mark musste an die Kinder denken, mit denen er früher gearbeitet hatte. Kinder, die ihre Eltern oder Geschwister unter dramatischen Umständen im Krieg oder bei Unfällen verloren hatten und die wenig später wieder mit anderen Kindern gespielt und gelacht hatten, als sei nichts geschehen. Die Macht der Verdrängung, dachte er. Anfangs war sie ein Segen. Sie half dem Unterbewusstsein, den Schrecken zu bewältigen, ehe man sich Schritt für Schritt an die Realität herantasten konnte.

Sarah riss ihn aus seinen Gedanken.

»Mark, ich habe mich an Polizei gewandt, wie du gesagt hast. Aber es muss doch noch mehr geben, was wir tun können. Hast du denn keine Idee?«

Mark sah sie lange an. Er hatte sich in der Tat auf dem Weg hierher so seine Gedanken gemacht.

»Nun«, begann er, »ein erster Ansatzpunkt wäre, wenn wir herauszufinden versuchen, was dieser Unbekannte eigentlich von euch will.« Er zögerte, bevor er fortfuhr: »Also, wenn er keine Lösegeldforderung gestellt hat und auf die Fragen nach deinem Mann nicht eingegangen ist, muss er eine andere Motivation haben. Sehr wahrscheinlich liegst du richtig mit deiner Annahme, dass er auf irgendeine Weise psychisch gestört ist. Zumindest, wenn er sich tatsächlich für Stephen hält und es nicht nur vorgibt.«

»Nein, Mark, dieser Kerl hat das nicht gespielt. Er ist gestört. Du hättest ihn erleben müssen!« Sie schauderte bei der bloßen Erinnerung. »Gerade das ist es ja, was mich dabei so fertigmacht. Weil Verrückte unberechenbar sind. Oder nicht?«

Mark machte eine vage Geste. »Ja und nein. Meistens hat es einen bestimmten Hintergrund, wenn Menschen vorgeben, jemand anders zu sein. Immerhin behauptet er nicht, er sei Jesus oder George Clooney. Nein, er sagt, er sei dein Mann, und das macht die Situation zu einer besonderen. Warum wählt er ausgerechnet die Identität von Stephen Bridgewater?«

»Was denkst du? Warum tut er das?«

»Ich weiß es nicht, Sarah, aber es muss einen Grund geben. Natürlich ist nicht jede Wahnvorstellung logisch erklärbar, aber manchmal gibt es rationelle Zusammenhänge. Wenn wir herausfinden könnten, wie er auf euch gekommen ist, könnten wir vielleicht auch seine Motivation durchschauen.«

»Glaubst du, du könntest dann verstehen, was in diesem Kerl vor sich geht, und was er plant?«

Nachdenklich betrachtete Mark seine Teetasse. »Ich will dir nicht zu viel versprechen, aber denkbar wäre es. Wenn er sich schon einmal telefonisch bei dir gemeldet hat, stehen die Chancen gut, dass er auch weiterhin zu dir Kontakt halten wird. Erst recht, wenn er sich mit deinem Mann identifiziert. Dann wäre es gut, wenn wir darauf vorbereitet sind. Vielleicht bekomme ich ja Zugang zu ihm, wer weiß …«

»Also, was schlägst du vor? Was sollen wir tun?«

Mark trank einen Schluck Tee und überlegte. Es gab eine Möglichkeit, aber damit würde er Sarah sehr viel abverlangen.

Sie schaute ihn skeptisch an. »Rede mit mir, Mark. Du hast doch eine Idee, oder?«

»Nun ja, ich hätte eine Idee, aber …«

»Nun sag schon.«

»Du solltest mir noch einmal sehr genau erzählen, was in dieser Nacht geschehen ist. Am besten vor Ort, damit du dich an so viele Details wie möglich erinnerst. Das wird nicht leicht für dich sein. Glaubst du, du schaffst es trotzdem?«

Sie stand von ihrem Platz auf, und in ihren Augen funkelte ein Tatendrang, den Mark von sich selbst nur zu gut kannte. Es war das drängende Bedürfnis, etwas zu tun – irgendetwas, Hauptsache man war nicht zum Herumsitzen und Abwarten verdammt.

»Lass uns keine Zeit verlieren«, sagte sie. Dann wandte sie sich an ihre Freundin: »Gwen, kann ich mir deinen Wagen leihen?«

»Natürlich«, sagte Gwen und lächelte ihr aufmunternd zu.

Im Fernsehen jagte nun Wile E. Coyote den Roadrunner – leicht zu erkennen an dem frechen »Meep-meep«, mit dem der Roadrunner seinen Verfolger verspottete, der wie immer zu langsam war.

Die Kinder fanden das lustig, doch Mark hoffe inständig, dass es ihm und Sarah mit dem Unbekannten nicht ebenso ergehen würde.

40.

Als Mark das Haus der Bridgewaters betrat, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Es war ein Gefühl, für das er zunächst keine Erklärung fand, denn es stand völlig im Gegensatz zu dem ersten Eindruck, den das Haus auf ihn machte. Mark gefiel die eigenwillige Bauweise, und er staunte über die geschickt geschnittenen Räume, die das Innere größer wirken ließen, als man von außen erwartete. Auch mochte er die hohen, hell getünchten Zimmer und die geschmackvolle Einrichtung, die ein sicheres Gespür der Besitzer für Wohnlichkeit bewies.

Dennoch war da eine seltsame, undefinierbare Ahnung, die ihn beklommen machte. Es war, als hätte der unbekannte Eindringling nach seinem Verschwinden etwas zurückgelassen – eine Art von bedrohlicher Präsenz, die jeden Raum erfüllte wie ein geruchloses Gas. Irgendetwas war hier. Etwas, das nicht nur mit Sarah, sondern auch mit ihm zu tun hatte – auch wenn ihm dieser Gedanke zunächst absurd vorkam.

Und während Mark über diesen merkwürdigen Eindruck nachdachte, wurde ihm klar, dass nicht das Haus dafür verantwortlich war, sondern er selbst. Der Grund für seine Beklemmung war die Empathie, die er für Sarah empfand. Jemand war von einem Moment zum nächsten in Sarahs Leben eingedrungen und hatte ihr jegliches Sicherheitsgefühl geraubt. So, wie es auch ihm ergangen war. Und wie Sarah jetzt, hatte auch er anfangs obsessiv nach Anhaltspunkten gesucht, um den Täter zu überführen und somit wenigstens einen Teil seiner Sicherheit wieder zurückzuerlangen. Es hatte ihn aufgerieben, dass er nicht wusste, wer der Fahrer gewesen war. Mark hatte verstehen wollen, warum der Fahrer nicht gebremst hatte. Hatte er Tanja zu spät gesehen, oder war es ein heimtückischer Anschlag gewesen? Er wollte – er musste es einfach wissen, wenn er schon nichts mehr an Tanjas Tod ändern konnte.

Hätte er die Zusammenhänge verstanden, wäre es vielleicht einfacher für ihn gewesen, seine neue Situation zu bewältigen. Das hatte er zumindest gehofft. Denn die Ursache des Leids zu verstehen – ganz gleich, wie abwegig sie auch scheinen mag – ist der erste Schritt, um über das Leid hinwegzukommen.

So aber ließen ihm die vielen offenen Fragen keine Ruhe. Warum hatte ihn der Rufer Doktor genannt? Kannte er ihn, und wenn ja, woher? Gab es zwischen ihnen irgendeine Verbindung, von der Mark nichts wusste? Oder hatte der Mann Tanja damit gemeint? Hatte er sie gekannt, möglicherweise von früher?

Fragen über Fragen, aber keine Antwort.

Irgendwann hatte Mark angefangen, die Menschen in seinem Umfeld mit unverhohlenem Argwohn zu betrachten. Er hatte auf ihre Stimmen geachtet, auf alles, was ihm hätte verdächtig erscheinen können. Er hatte sich sogar in Garagen geschlichen, um nachzusehen, ob der Kleinwagen irgendeines Kollegen, mit dem er einmal eine Auseinandersetzung gehabt hatte, Spuren eines Unfalls aufwies. Doch es war aussichtslos. Er konnte sich ja nicht einmal an die Marke des Unfallwagens erinnern, geschweige denn an die Farbe – hell, vielleicht grau oder weiß.

Am Ende hatte er sich eingestehen müssen, dass ihn keine seiner Bemühungen, die Wahrheit herauszufinden, zu einem Ergebnis geführt hatte. Stattdessen hatte er höllische Qualen durchlitten und es schließlich aufgegeben – zuerst nur die Suche nach Antworten, aber irgendwann auch sich selbst.

Ähnlich musste es nun auch Sarah ergehen, als sie ihm die Räumlichkeiten zeigte, die bei ihrer Begegnung mit dem rätselhaften Eindringling eine Rolle gespielt hatten. Sie war aufgewühlt und geradezu besessen von der Vorstellung, dass sie gemeinsam eine Spur finden würden. Irgendetwas, das ihnen Aufschluss gab, um wen es sich bei dem Fremden in ihrer Küche handelte, und – noch viel wichtiger – was aus Stephen geworden war.

Denn im Gegensatz zu Mark durfte sie noch hoffen.

41.

Als sie ihren Rundgang beendet hatten, ließ Sarah sich in der Küche auf einen Stuhl sinken und rieb sich erschöpft übers Gesicht. Sie war bleich, hatte Schweißperlen auf der Stirn und zitterte am ganzen Leib. Es war, als habe es sie ihre letzte Kraft gekostet, Mark ihre unheimliche Begegnung bis ins Detail zu schildern.

»Immer wenn ich die Augen schließe, sehe ich Stephen vor mir«, flüsterte sie und starrte ins Leere. »Er ist verzweifelt und ruft irgendetwas. Aber ich kann seine Worte nicht hören. Ich sehe nur sein Gesicht. Es ist so voller Angst. Und dann ist er verschwunden, und ich weiß nicht wohin. Mein Gott, Mark, ich hoffe so sehr, dass er noch lebt!«

Mark entgegnete nichts. Er wusste genau, was in ihr vor sich ging.

Für eine kleine Ewigkeit herrschte Schweigen zwischen ihnen. Mark lehnte im Türrahmen und ließ im Geiste Revue passieren, was Sarah ihm gezeigt hatte.

Harveys Zimmer und sein Ausblick in den Garten.

Der Baum dicht am Haus, dessen Äste sich an der Scheibe wie knochige Finger angehört hatten.

Das Schlafzimmer und das Fenster, aus dem Sarah gesprungen war, um Hilfe zu holen.

Die Treppe und der Flur.

Die Stelle, an der Stephens Koffer mit dem Mantel gestanden hatte.

Der Garderobentisch, auf dem der Unbekannte Stephens Schlüsselbund abgelegt hatte, so wie Stephen selbst es immer tat.

Jetzt sah sich Mark in der Küche um. Hier war Sarah dem Narbenmann begegnet. Er hatte am Kühlschrank gestanden und war dabei gewesen, sich ein Sandwich zuzubereiten, an das er angeblich während seiner Autofahrt gedacht hatte.

Mark überlegte, warum der Mann das gesagt hatte. Warum hatte er vorgegeben, er hätte auf seinem Weg zu Sarah an die Mortadella im Kühlschrank denken müssen?

Es war wie eine Drohung. Ja, ich kenne dich, schien er damit zu sagen. Ich kenne dich, aber du kennst mich nicht. Und das gibt mir Macht.

Auf dem Küchentisch stand noch immer der Blumenstrauß in einer bauchigen Glasvase, und Mark fragte sich, ob diese Beobachtung wichtig war.

Der Strauß war geschmackvoll zusammengestellt – keine Billigblumen, wie man sie im Supermarkt oder an der Tankstelle bekam.

Nein, dachte Mark, dieser Strauß muss teuer gewesen sein.

Daneben lag der Karton mit der PlayStation für Harvey. Ebenfalls ein teures Geschenk.

Aber da war etwas, das Mark noch viel mehr irritierte. Es hatte mit dem Teller zu tun, der jetzt im Spülbecken stand. Mit dem Messer, das auf dem Teller lag.

Nachdenklich ging Mark zur Küchenzeile, holte ein Glas aus dem Hängeschrank und füllte es mit Leitungswasser. Dann reichte er es Sarah.

»Hier, du bist blass. Du musst trinken, um deinen Kreislauf wieder in Schwung zu bringen.«

Sarah griff nach dem Glas und sah ihn erwartungsvoll an.

»Also? Was denkst du?«

Mark fuhr sich durchs Haar und sah zu dem Messerblock über der Arbeitsfläche. Er war so hoch angebracht, dass er für Kinder unerreichbar war, und somit genau auf Augenhöhe eines Erwachsenen.

Die Messer darin waren vollzählig, und das verwirrte ihn.

Während seiner Facharztausbildung hatte einer der Dozenten einmal gesagt, das wichtigste Handwerkszeug eines guten Psychiaters sei nicht nur die umfassende Kenntnis der Seelenheilkunde, es sei vor allem die Gabe der genauen Beobachtung, wenn man eine zuverlässige Diagnose stellen wollte. Denn wir lassen uns zu gerne von einem ersten oberflächlichen Eindruck täuschen, hatte der Dozent erklärt. Entscheidend sind die vielen kleinen Details, aus denen sich diese Oberfläche zusammensetzt.

Dementsprechend hatte Mark über die Jahre seine Beobachtungsgabe geschult, und wenn man die vielen kleinen Details einzeln betrachtete, ergab sich ein ganz anderes Bild.

Da waren zum einen der Messerblock und zum anderen der Teller im Spülbecken, auf dem das Messer lag, das der Unbekannte benutzt hatte. Und da war die bauchige Glasvase mit dem Blumenstrauß.

Je mehr Mark darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, was ihm diese Beobachtungen sagen wollten. Und nun wuchs das ungute Gefühl in ihm so stark an, dass er glaubte, ein Heer winziger Spinnen kröche ihm über den Rücken.

»Sag mal«, begann er, »hast du irgendetwas aufgeräumt, seit dieser Mann hier gewesen ist?«

Sarah sah ihn verwundert an. »Nun ja, die Matratzen und das Bettzeug, das ich aus dem Fenster geworfen habe …«

»Nein, ich meine hier in der Küche.«

»In der Küche? Nein. Warum?«

»Und der Teller und das Messer?«

Sie sah zum Spülbecken, wandte den Blick aber schnell wieder ab. »Das … das ist er gewesen.«

»Du meinst, dieser Kerl hat hier am Tisch gegessen und danach aufgeräumt?«

Sie nickte.

»Und deine Blumenvasen, wo bewahrst du die normalerweise auf?«

»Meine Blumenvasen?« Sie schüttelte erschöpft den Kopf. »Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst. Sie sind im Einbauschrank im Flur.«

»Okay«, sagte Mark und glaubte allmählich zu verstehen. »Noch einmal zu dem Messer. Ist irgendetwas besonders daran?«

»An dem Messer? Mark, was sollen diese Fragen?«

»Das sage ich dir gleich, aber bitte antworte mir zuerst.«

»Na ja, Stephen und ich verwenden es häufig. Eigentlich fast immer. Es ist aus irgendeinem speziellen japanischen Stahl, der besonders gut schneidet. Stephen hatte es mitgebracht, zusammen mit einem Chukanabe.«

»Einem was?«

»Eine Art japanischer Wok oder so. Es war ein Geschenk von einem von Stephens Kunden. Ein Koch aus Osaka, der nach Cambridge gezogen ist. Sagst du mir jetzt endlich, worauf du hinauswillst?«

Mark ließ das Messer nicht aus den Augen. »Weißt du noch in etwa, wann das gewesen ist?«

»Du meinst, wann Stephen es geschenkt bekommen hat?«

»Ja.«

Verunsichert runzelte sie die Stirn. »Irgendwann letztes Jahr. Oder vorletztes. Ist schon eine Weile her.«

Nun sah Mark hinüber zu dem Messerblock. »Und wo bewahrt ihr dieses spezielle Messer normalerweise auf?«

Sarah zeigte auf eine Schublade unterhalb der Arbeitsfläche. »Da drin. Ganz hinten, damit Harvey nicht rankommt. Es ist wirklich sehr scharf.«

»Und an diesem Abend war es wie immer in der Schublade?«

»Ja, ganz sicher. Mark, jetzt sag mir endlich, was das zu bedeuten hat!«

Mark zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben sie.

»Also«, begann er und holte tief Luft. »Ich habe darüber nachgedacht, was du mir erzählt hast. Dass dieser Mann sich exakt an Stephens Rituale gehalten hat, als er in euer Haus kam. Dass er von eurem Lieblingsitaliener wusste, der vor einem Jahr geschlossen hat. Er kannte den Inhalt eures Kühlschranks, und er benutzte nicht irgendein Messer aus dem Block da oben, sondern das japanische Messer, das du und Stephen vorzugsweise benutzt. Er wusste, wo ihr es aufbewahrt. Ebenso wusste er, wo deine Blumenvasen stehen.«

Sarah sah ihn mit großen Augen an. Und dann verstand sie.

»Verdammt! Ich hätte selbst darauf kommen können!«

Mark schaute aus dem großen Küchenfenster hinaus in den Garten. Unweit daneben befand sich die Zufahrt zum Carport.

»Er muss euch beobachtet haben«, sagte er. »Offenbar über eine lange Zeit. Mindestens ein Jahr, aber ich schätze, eher länger. Immerhin wusste er von dem Restaurant.«

Sarah ballte die gesunde Hand zur Faust, dass die Knöchel weiß hervortraten. »O mein Gott, und wir haben nichts davon bemerkt!«

Mark sah sie prüfend an. »Vielleicht doch.«

»Nein, du kannst mir glauben …«

»Denk trotzdem noch einmal nach. Gab es vielleicht irgendwelche Vorfälle, die euch seltsam vorgekommen sind? Irgendetwas, das euch ungewöhnlich, aber gleichzeitig belanglos erschien?«

Sie überlegte eine Weile, dann schüttelte sie seufzend den Kopf. »Ich kann mich wirklich an nichts dergleichen erinnern. Wenn Stephen oder ich den Eindruck gehabt hätten, dass irgendjemand in unserem Garten herumlungert, hätten wir unverzüglich etwas unternommen. Nein, Mark, das erste Mal, dass ich mich hier beobachtet gefühlt habe, war in der Nacht, als der Kerl bei uns aufgetaucht ist. Und das auch nur, weil Harvey glaubte, er hätte jemanden im Garten gesehen.«

Mark sah auf den Flur hinaus und nickte geistesabwesend.

Vielleicht war es nicht das erste Mal, dass Harvey jemanden gesehen hat, schoss es ihm durch den Kopf. Denn die Vasen stehen im Flurschrank. Und dort gibt es keine Fenster!

Er stand abrupt auf und ging zur Tür. Dort ließ er sich auf die Knie nieder und sah sich erneut um.

Wenn es jetzt Nacht wäre, alles ist dunkel, und ich wäre ein kleiner Junge, der verschlafen zur Tür hereinkommt …

»Sarah, du hast doch von Harveys Albtraum erzählt. Von einem großen schwarzen Hund, den er hier in der Küche gesehen haben will. Und dann ist Harvey sofort zu euch ins Schlafzimmer hochgerannt?«

Sie nickte zögerlich. »Ja, warum?«

»Habt ihr hier nachgesehen?«

»Stephen ist nach unten gegangen.«

»Sofort?«

»Nein, wir haben zuerst mit Harvey geredet. Er war ja ganz außer sich. Na ja, und es war ja nur ein Traum.«

»Hat Harvey auch erzählt, wo genau er den Hund gesehen hat?«

Sie machte eine hilflose Geste. »Nein, aber wir haben ihn auch nicht danach gefragt. Er wollte eine Weile nicht mehr auf dem Stuhl sitzen, auf dem du gerade gesessen hast. Du glaubst doch nicht etwa …«

Schweigend betrachtete Mark die Stelle auf dem Boden. Er rieb sich das Kinn und richtete sich dann wieder auf.

»Jetzt sag schon, Mark! Glaubst du, das war womöglich gar kein Traum?«

Wieder fuhr Mark sich durchs Haar. »Na ja, es kann sein, dass ich damit falschliege, aber …«

Langsam sah sie zu der Stelle neben sich, als würde dort etwas Gefährliches lauern. »Du glaubst doch nicht … er ist das gewesen?«

»Ich versuche mir nur gerade vorzustellen, was Harvey dort gesehen haben könnte, wenn es kein Traum gewesen ist«, sagte Mark, ohne den Blick von dem Stuhl abzuwenden. »Sicherlich keinen Hund. Aber vielleicht einen Mann auf allen vieren? Harvey könnte diesen Kerl überrascht haben, und ihm blieb keine Zeit mehr, aus dem Haus zu verschwinden. Vielleicht wollte er sich unter dem Tisch verstecken? Hier in der Küche wäre das der einzig mögliche Ort dafür. Aber Harvey sah ihn. Der Junge war nicht darauf vorbereitet, und er war verschlafen. Im Dunkeln könnte der kniende Mann für ihn wie ein großer schwarzer Hund ausgesehen haben.« Er machte eine vage Geste. »Es muss nicht so gewesen sein, aber …«

»O Gott!« Sarah fuhr zusammen und sprang von ihrem Platz auf.

»Was ist?«

Sarah war aschfahl. Mit aufgerissenen Augen starrte sie den Tisch an. »Doch, Mark, du könntest recht haben. Gott, ja … Mein Hausschlüssel! Das könnte zeitlich hinkommen.«

»Was war damit?«

»Das war vor ein paar Wochen, etwa zur selben Zeit, als Harvey diesen Traum hatte. Ich hatte geglaubt, ich hätte meinen Schlüssel irgendwo beim Einkaufen verloren, aber ein paar Tage später fand ich ihn wieder. Er lag im Gras auf dem Weg zum Carport. Ich hatte mich zwar noch gewundert, warum Stephen oder ich ihn dort nicht schon früher entdeckt hatten, immerhin kamen wir ständig an dieser Stelle vorbei, und das Gras war kurz gemäht, aber dann war ich einfach nur froh, dass ich ihn wiederhatte. Also habe ich nicht weiter darüber nachgedacht. Und erst recht nicht daran, die Schlösser auswechseln zu lassen.«

Sie musste schlucken, ehe sie weitersprechen konnte. »Vielleicht hatte ich den Schlüssel ja gar nicht verloren? Der Kerl könnte ihn mir im Supermarkt aus der Tasche entwendet haben. Ich stell die Tasche mit meinen Sachen oft in den Einkaufswagen. Na ja, und immer hat man den Einkaufswagen ja nicht im Blick. Stephen hat mir das schon häufig genug vorgeworfen … Oder ich habe den Schlüssel wirklich irgendwo verloren, und dieser Verrückte … hat …«

Sie ging ein paar Schritte rückwärts, ohne den Tisch aus den Augen zu lassen.

»Ich darf gar nicht daran denken«, flüsterte sie. »Wir haben Harvey nicht geglaubt. Wir dachten, er habe nur einen bösen Traum gehabt. Wenn dieser Kerl schon damals im Haus war … und wir haben oben geschlafen … Er hätte auch Harvey …«

Sie schlug sich die Hand vor den Mund, und Tränen rannen ihr über die Wangen.

42.

Der eisige Wind ließ ihn frösteln, als er aus dem Bus stieg. Es war bitterkalt, und von der Haltestelle war es noch ein gutes Stück zu Fuß, sodass er lieber ein Taxi genommen hätte. Aber das wäre ein Fehler gewesen, falls die Polizei inzwischen nach einem Mann mit Narben im Gesicht suchte.

Zwar glaubte er nicht, dass es schon so weit war – andernfalls hätte die Presse sicherlich über den Fall Stephen Bridgewater berichtet –, aber er hielt es dennoch für ratsam, auf Nummer sicher zu gehen.

Deshalb hatte er für diesen Weg auch seine eigene Kleidung gewählt, um in dem heruntergekommenen Viertel nicht aufzufallen. Statt Mantel und Anzug trug er seine übliche Schildkappe mit dem Arsenal-Logo, eine graue Jeans, die an den Knien schon etwas abgerieben war, eine Steppjacke mit hohem Kragen und derbe Straßenschuhe.

Die ausgetretenen Schuhe waren deutlich bequemer als Stephens zu kleine Bugattis, aber er fühlte sich dennoch nicht wohl in diesen Sachen. Sie gehörten zu einem anderen Leben, das er eigentlich hinter sich gelassen hatte.

Geduld, mahnte er sich selbst, als er auf die Reihe grauer Wohnblocks der Sozialbausiedlung zuging. Geduld. Bald war es endgültig so weit!

Er kam an einer Gruppe Jugendlicher vorbei, die hinter einem Drahtzaun Basketball spielten. Einer der Jungen sah ihn, blieb wie angewurzelt stehen und zeigte auf ihn.

»Fucko! Das ist ja abgefahren! Schaut mal her, Leute! Da läuft ’n Zombie durch die Gegend!«

Unverzüglich kamen die anderen Jungs angelaufen und grölten ihm durch den Zaun hinterher.

»Hey, Zombie, der Friedhof ist in die andere Richtung! Hast wohl ’nen Ventilator geknutscht, Hackfresse? Scheiße, bist du hässlich!«

Er beachtete sie nicht weiter. Die Jungs sprachen nur aus, was andere dachten.

Als er endlich an dem Wohnblock angekommen war, spürte er vor Kälte seine Finger kaum noch. Der Aufzug war außer Betrieb, und er musste die Treppe zum sechsten Stock nehmen. Das Treppenhaus war mit jeder Menge Graffiti verunstaltet, die Stufen waren mit Kippen übersäht, und es stank nach schalem Bier, kaltem Rauch und Küchendunst.

Als er oben angekommen war, musste er eine kurze Pause einlegen. Seine Kopfschmerzen hatten sich zurückgemeldet, sie pulsierten im wilden Takt seines heftig pochenden Herzens, und das Atmen fiel ihm schwer.

Also wartete er, bis es besser wurde, und betrachtete den Gang. An einer der Türen hing ein Mistelkranz aus Plastik mit einem blinkenden Merry-x-mas-Schriftzug, der in dieser Umgebung bizarr und deplatziert wirkte.

In der Wohnung zu seiner Rechten konnte er einen Mann herumbrüllen hören, von einer anderen drang der Motorenlärm eines Autorennens zu ihm und irgendwo plärrte Rap-Musik.

Kein Ort, an dem er wohnen wollte.

Als er wieder genügend Luft bekam, ging er den Flur entlang und las die Namen auf den Türschildern. Am Ende des Ganges blieb er vor Apartment 69 stehen, suchte vergeblich nach einer Klingel und klopfte.

Hinter der Tür näherten sich schlurfende Schritte. Er hörte, wie eine Sicherheitskette vorgeschoben wurde, dann ging die Tür einen Spaltbreit auf, und eine hagere Frau musterte ihn argwöhnisch.

»Ja, was ist?«

Er wusste, dass sie nicht älter als Mitte zwanzig sein konnte, aber mit ihrer heiseren Raucherstimme und ihren herben Gesichtszügen wirkte sie wie eine alte Frau. Ihr Gesicht war knochig, die Haut faltig und unrein, was auch eine dicke Schicht aus Schminke nicht verbergen konnte, und ihre Augen blickten ihn trübe und gleichgültig an.

Er nickte ihr zu und lächelte, als würde er einen freundlichen Empfang erwidern. »Hallo, ich möchte zu Simon.«

Erneut musterte sie ihn von oben bis unten. »Is’ nich’ da.«

»O doch, das ist er.«

Sie nahm einen Zug von ihrer Selbstgedrehten und blies ihm den Rauch ins Gesicht. »So? Wer sagt das?«

Er lächelte noch breiter. »Ich. Simon hat heute dienstfrei. Dann ist er immer zu Hause. Bei Ihnen.«

»Na und?«

»Ich würde gern mit ihm sprechen.«

»Verpiss dich!«

Sie wollte die Tür wieder schließen, doch er stemmte sich mit der Hand dagegen und hielt sie offen. Viel Kraft brauchte er dazu nicht. Nach allem, was er von der Frau sah, wog sie höchstens hundert Pfund.

»Bitte, Bethany, es ist wichtig. Sagen Sie ihm …«

»Ich kenn dich nicht.« Sie schnippte ihre Kippe durch den Türspalt und verfehlte ihn nur knapp. »Und jetzt geh und fick dich selbst, kapiert?«

Nun waren hinter ihr Schritte zu hören, und eine Männerstimme fragte: »Hey, Beth, was ist denn los?«

Sie sah sich nach der Stimme um. »Da ist so ein Freak, der zu dir will.«

»Okay, Schatz, geh in dein Zimmer, ich mach das schon.«

Sie bedachte ihn noch einmal mit einem abfälligen Blick, dann verschwand sie, woraufhin der Kopf eines drahtigen jungen Mannes mit blonden Dreadlocks erschien. Er sah ihn erstaunt an. »Hey, John! Was machst du denn hier?«

»Hallo Simon, können wir reden?«

»Klar, Mann. Was gibt’s? Müsstest du nicht …«

»Kann ich reinkommen?«

»Na gut.«

Simon schob die Türkette zurück, sah sich auf dem Gang um und ließ ihn dann herein. Der lange, schmale Flur der Wohnung befand sich in einem ähnlichen Zustand wie das Treppenhaus. Auch hier waren Graffiti an den Wänden, nur dass Simon versucht hatte, die Schmierereien mit Postern von Bob Marley, Che Guevara, dem Turiner Grabtuch und Kurt Cobain zu kaschieren.

»Mann, John, jetzt bin ich echt überrascht. Wie hast du mich denn gefunden?«

»Ganz klassisch. Du stehst im Telefonbuch.«

»Echt? Muss ich mal ändern lassen. Also, was willst du von mir?«

»Dich um einen Gefallen bitten.«

»Gefallen? Was für einen Gefallen?«

»Ich brauche meine Krankenakte.«

»Was?« Simon kratzte sich an der Brust und sah ihn erstaunt an. »John, dafür bin ich die falsche Adresse. Darüber musst du mit Dr. Stone reden. Lass dir einfach einen Termin geben. Du bist ohnehin längst überfällig.«

»Nein, Simon, das geht nicht. Ich komme zu dir, weil ich alles brauche, was es in der Klinik über mich gibt.«

»Alles? Was soll das heißen?«

»Meine kompletten Unterlagen. Du kannst sie mir beschaffen.«

Simon schüttelte energisch den Kopf und strich sich dann die Dreadlocks aus dem Gesicht. »Nope, Mann! Unmöglich, ich …«

»Außerdem musst du meine Daten aus der Krankenhausdatei löschen«, unterbrach er ihn. »Ich weiß, dass du das kannst.«

Simon sah ihn entschlossen an und verschränkte die Arme. »John, noch mal zum Mitschreiben: Das kann ich nicht machen! Wenn die mich erwischen, kostet mich das meinen Job. Warum willst du das überhaupt?«

»Dieser Gefallen wäre mir einiges wert, Simon.« Er machte eine weit ausholende Geste. »Und wenn ich mich hier so umsehe, denke ich, du könntest das Geld gut gebrauchen.«

»Ja, könnte ich. Aber ich mach’s trotzdem nicht. Das Risiko ist mir zu groß. Wenn die mich rausschmeißen, kriege ich beruflich nie wieder ein Bein auf die Erde. Das ist dir doch klar, Mann?«

»Sicher.«

»Na also, was soll dann das Ganze? Warum kommst du mit diesem Scheiß zu mir?«

»Weil wir uns immer gut verstanden haben.«

»Ja, aber deswegen riskiere ich nicht meinen Kopf für dich.«

»Nun komm schon.« Er sah Simon schief an und lächelte. »Du hast sonst doch auch kein Problem damit, etwas zu riskieren.«

Die Augen des jungen Mannes wurden größer. »Was soll das heißen?«

»Das weißt du sehr genau. Und ich verspreche dir, es wird auch weiterhin unser kleines Geheimnis bleiben. Sozusagen unter Freunden.«

Simon funkelte ihn an. »Ich hab keine Ahnung, wovon du redest, Mann, aber es ist besser, wenn du jetzt gehst.«

»Okay, dann gehe ich eben wieder.« Er wandte sich zur Tür, öffnete sie aber nicht. Stattdessen sah er sich noch einmal zu Simon um. »Ach, sag mal, wie kommt Bethany eigentlich mit dem Methadon zurecht? Ist sie inzwischen clean, oder gibt es noch Rückfälle?«

Simon ging einen Schritt auf ihn zu, baute sich vor ihm auf. »Was, zum Teufel, willst du damit sagen, John?«

»Na ja, sagen wir es mal so: Als Krankenpfleger verdienst du nicht gerade viel, und ich denke, ich könnte dir mit dem Geld helfen. Wenn man seine Schwester so sehr liebt wie du, würde man bestimmt alles tun, damit sie sich ihren täglichen Schuss nicht auf dem Strich verdienen muss.«

Er hatte kaum ausgesprochen, als Simon ihn an den Schultern packte. »Raus, Mann, oder ich schlag dir die Fresse ein!« Er riss die Tür auf.

»Schon gut, schon gut! Wie du willst. Ich werde gehen, aber denk lieber noch einmal nach, bevor du ablehnst. Ich biete dir eine faire Chance, damit du dich für lange Zeit nicht mehr am Medikamentendepot vergreifen musst. Vielleicht sogar nie mehr, wenn Beth es endlich in den Griff bekommt. Und ich würde meinen, das Zeug zu klauen und deine Spuren zu verwischen, ist um einiges riskanter als der kleine Gefallen, um den ich dich bitte.«

Der Griff des jungen Mannes erschlaffte. Er schloss die Tür und lehnte sich dagegen.

»Na schön, John. Wie viel?«

Er griff in seine Jackentasche und reichte Simon einen Umschlag. »Das ist die Hälfte. Die andere bekommst du, sobald ich die Unterlagen habe.«

Simon blätterte durch die Geldscheine und stieß einen erstaunten Pfiff aus. Er sah auf.

»Hey, weißt du, wie viel das ist?«

»Klar.«

»Und die Scheine sind echt?«

»So echt wie die Queen.«

Simon starrte erneut das Geld an. »Willst du mich auch nicht verscheißern?«

»Natürlich nicht. Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich mag. Du hast mich immer mit Respekt behandelt. Außerdem solltest du doch wissen, dass Geld für mich keine Bedeutung hat.«

Für einen Moment schien Simon noch zu überlegen, dann stopfte er sich den Umschlag in den Hosenbund. »Okay, Mann. Du kriegst deine verdammte Akte, und ich lösche die Datei.«

»Danke, mein Freund. Wusste ich doch, dass du vernünftig bist.« Er legte die Hand auf den Türgriff. »Ach, und noch was, Simon. Es muss schnell gehen. Wenn ich recht informiert bin, hast du heute Nachtschicht. Da sollte es dir gut möglich sein, einen ungestörten Augenblick zu finden.«

Simon schluckte. »Aber verdammt, ich kapier’s nicht. Warum gehst du nicht mehr in die Klinik? Und warum willst du jetzt aus der Patientendatei verschwinden? Hast du Scheiße gebaut? Ich meine …«

»Nein, Simon.« Er winkte ab und öffnete die Tür. »Glaub mir, die Antwort willst du eigentlich nicht wissen. Besorg mir einfach die Unterlagen. Ich komme morgen wieder. Danach siehst du mich nie mehr, versprochen.«

Während er zurück zur Bushaltestelle ging – und dabei einen weiten Bogen um die spielenden Jugendlichen machte –, konnte er es kaum erwarten, sich wieder umziehen zu können.

Wie Simon ihn angesehen hatte … Genau wie all die anderen in der Klinik. Es war unerträglich gewesen.

Er musste so schnell wie möglich wieder zu Stephen Bridgewater werden, andernfalls würde er durchdrehen.

43.

Mark trat ins Freie und zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch. Der nasskalte Wind heulte um das Haus der Bridgewaters und biss ihm ins Gesicht, während er vorbei am Carport zum hinteren Teil des Gartens ging. Dort blieb er stehen und sah sich um.

Die hohe Hecke, die das Grundstück umgab, war ein perfekter Sichtschutz vor den Blicken von Passanten und Nachbarn. Wer sich hier aufhielt, würde von außerhalb nicht bemerkt werden.

Mark ging ein Stück weiter zu drei Büschen, die auf den Frühjahrsschnitt warteten, und sah zu der Eibe am Haus, die bis zum Fenster des Kinderzimmers hochragte.

Ihr Stamm war dick genug, dass sich dahinter ein schlanker Mann verbergen konnte. Der Baum und die Büsche waren ideale Verstecke, ebenso wie das mit einem dichten Netz umspannte Trampolin des Jungen, das neben dem abgedeckten Sandkasten stand. Nachts würde man niemanden hinter dem schwarzen Netz erkennen können.

Mark versuchte sich in den Fremden hineinzuversetzen. Vermutlich war er sich nicht als Eindringling vorgekommen. Alle Voyeure rechtfertigten ihren Beobachtungszwang damit, dass ihr Verhalten ja niemandem schadete.

Du musst dich hier sicher gefühlt haben, wenn du wieder und wieder hierhergekommen bist, dachte Mark. Keiner hat etwas davon mitbekommen. Und wenn einmal jemand aus dem Fenster gesehen hat, musstest du dich einfach nur in einen der vielen Schatten stellen. Dann wurdest du ein Teil der Nacht. Dann warst du unsichtbar.

Er schüttelte den Kopf. Was war das nur? Im Gegensatz zu seinen Bemühungen, sich in den unbekannten Autofahrer hineinzudenken, fiel es ihm mit Sarahs unbekanntem Eindringling sehr viel leichter. Wie er hier stand und über diesen Mann nachdachte, kam es ihm vor, als könne er in dessen Kopf sehen.

Das muss daran liegen, dass wir etwas gemeinsam haben, dachte er. Denn auch Mark hatte sich einmal wie ein Voyeur verhalten – damals, vor vier Jahren. Zwar hatte es zunächst einen berechtigten Grund für seine Nachstellungen gegeben, aber dann war er dem zwanghaften Reiz erlegen, der mit dem heimlichen Beobachten einherging. Und er hatte feststellen müssen, wie schwer es fiel, wieder damit aufzuhören.

Also griff er nun auf diese Erfahrung zurück und sah mit den Augen eines Voyeurs zu dem Haus der Bridgewaters. Es gab keine Gardinen, keine Vorhänge oder Rollos – nichts, was die Familie vor heimlichen Blicken geschützt hätte. Wegen der hohen Hecke mussten sie sich sicher gefühlt haben – und das war es, was diesen unwiderstehlichen Reiz auf Voyeure ausübte: das vermeintliche Sicherheitsgefühl ihrer Opfer. Es gab ihnen Macht. Im Fall der Bridgewaters musste der Unbekannte süchtig danach geworden sein. Deshalb war es ihm wichtig gewesen, sich unauffällig zu verhalten und keine Risiken einzugehen. Nur so hatte er sich über die lange Zeit hinweg in ihrer Nähe aufhalten können.

Aber irgendwann hatte dieser Mann dann doch das Risiko gesucht. Er hatte sich Sarahs Schlüssel beschafft und war ins Haus eingedrungen, und dabei war er von Harvey entdeckt worden.

Mark fragte sich, warum. Warum hatte es der Mann darauf ankommen lassen?

Weil er es nicht mehr ausgehalten hat, einfach nur zuzusehen. Er wollte dazugehören. Denn Beobachten weckt Begehren. Und von dem Begehren werden Besitzansprüche abgeleitet.

So musste es gewesen sein.

Er hörte Schritte. Sarah kam auf ihn zu. Sie war blass, und ihre Augen waren gerötet, aber ihr Gang wirkte entschlossen. Mit den Händen hielt sie eine dampfende Teetasse umschlossen, und der kalte Wind trug Mark einen Hauch von Kamille entgegen.

»Und?«, fragte sie, als sie bei ihm stand. Ihre Stimme klang rau und heiser. »Was glaubst du, was das für ein Kerl ist? Warum tut er so was?«

»Ich denke, dass er euch beobachtet hat, weil er sich dadurch wie ein Teil eures Lebens fühlte.«

»Ein Teil unseres Lebens«, wiederholte Sarah und betrachtete die Tasse in ihren Händen. »Und warum sucht er sich dazu uns aus? Warum will er ausgerechnet Stephens Platz einnehmen?«

Mark legte die Stirn in Falten und betrachtete nachdenklich das Haus. »Das ist die große Frage.«

Sarah umklammerte ihre Tasse, als gäbe sie ihr Halt. »Glaubst du … glaubst du, er hat Stephen etwas angetan? Ich meine …«

»Nein, ich glaube nicht.«

Sie sah zu ihm auf. »Und wieso?«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte er und hielt ihrem eindringlichen Blick stand, »aber Voyeure sind in der Regel keine gewalttätigen Menschen. Im Gegenteil, sie sind zumeist schüchtern und unsicher in sozialen Kontakten. Sie wollen nicht auffallen und tendieren eher zur Flucht, als dass sie jemanden angreifen.«

»Aber wo ist Stephen dann?«

Mark zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, Sarah, ich habe keine Ahnung.«

Sie wandte den Kopf ab, presste die Lippen aufeinander und rang sichtlich mit ihrer Selbstbeherrschung. »Dieser Kerl … ist also ein Perverser? Er geilt sich daran auf, uns hinterherzuspionieren?«

»Nein, nicht direkt. Er will an eurem Alltag teilhaben. Ihn interessiert, was du einkaufst, wohin ihr ausgeht und was ihr tut, wenn ihr zu Hause seid. Das ist nicht sexuell motiviert. Solche Leute findest du eher im Schwimmbad und in der Sauna, oder sie beobachten Schlafzimmerfenster. Nein, ich denke, bei diesem Mann handelt es sich um jemanden mit einem schweren Komplex. Er ist entstellt, wie du sagst. Er hat wahrscheinlich schlimme Erfahrungen mit den Menschen machen müssen. Vielleicht ist er verspottet worden, oder er denkt, dass er keine Chancen bei Frauen hat.«

»Oh, schlimme Erfahrungen!« Sarah stieß ein verächtliches Lachen aus. »Soll ich etwa Mitleid mit ihm haben?«

Mark sah kalten Zorn in ihrem Blick, und er verstand nur zu gut, wie sie empfinden musste.

»Nein, das entschuldigt natürlich nichts von dem, was er euch antut. Aber was wir bis jetzt von ihm wissen, kann uns unter Umständen helfen, ihn aufzuspüren.«

»Und wie?«

»Nun ja, wenn er wirklich ein Voyeur ist, dann habt ihr etwas, was er nicht hat. Ihr seid eine glückliche, intakte Familie. Könnte sein, dass ihn das auf euch aufmerksam gemacht hat.«

»Aber warum wir, Mark?« Sarah sah ihn verständnislos an und strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. »Ich meine, wir führen ein ganz normales Leben. Familien wie uns gibt es Tausende. Was sollte uns für ihn so einzigartig machen?«

»Vielleicht erinnert ihr ihn an jemanden? An seine eigene Familie in der Kindheit. Oder an die Familie, die er selbst gern gehabt hätte. Voyeure fühlen sich zu dem hingezogen, was sie selbst nicht haben oder nicht mehr haben, oder von dem sie glauben, dass sie es niemals haben werden. Keine Ahnung, was davon auf ihn zutrifft. Aber mit einem bin ich mir sicher.«

»Und das ist?«

Mark deutete mit dem Kinn Richtung Straße. »Es ist gut denkbar, dass er hier aus der Gegend stammt. Er hat euch über ein Jahr beobachtet. Wenn er weiter außerhalb leben würde, hätte das einen ziemlichen Aufwand für ihn bedeutet.«

Sarah nickte. Offenbar schien sie selbst schon über diese Möglichkeit nachgedacht zu haben.

»Ja, er könnte hier irgendwo in der Nähe wohnen. Nur … wieso habe ich ihn dann nie vorher gesehen? Dieses vernarbte Gesicht … Er wäre mir doch aufgefallen.«

»Möglich, dass er erst in eure Nähe gezogen ist, nachdem er sich euch ausgesucht hat«, gab Mark zu bedenken. »Dann hätte er sich gewiss bedeckt gehalten.«

Sarah sah ihn stirnrunzelnd an. »Denkst du, er würde das alles auf sich nehmen, nur um uns zu beobachten?«

»Ich weiß, es klingt verrückt«, sagte Mark, »aber ich würde es in diesem Fall nicht ausschließen. Nicht, nachdem er sich dir gegenüber für Stephen ausgegeben hat. Er scheint von euch regelrecht besessen zu sein. Mit dem Eindringen in euer Haus hat er eine erste Grenze überschritten. Und jetzt hat er dich direkt angesprochen. Mit dem Beobachten allein gibt er sich also nicht mehr zufrieden. Er braucht mehr.«

Sarah verzog das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse. »Mein Gott, wie krank.«

»Ja, der Mann ist krank«, entgegnete Mark. »Und ich fürchte, sein Zustand verschlimmert sich rapide.«

»Aber was sollen wir tun?«, sagte Sarah und schüttete den restlichen Tee ins Gras. »Du glaubst, dass er hier in der Gegen wohnt … sollen wir etwa von Haustür zu Haustür gehen und uns nach einem Mann mit Narben erkundigen?«

»Nein, wir dürfen ihn nicht aufschrecken. Aber wir haben ja noch seine Geschenke.« Mark zeigte zum Küchenfenster.

»Die PlayStation?« Sarah sah ihn überrascht an.

»Nein, die bringt uns sicherlich nicht weiter. Er wird sie aus irgendeinem Kaufhaus haben. Ich meine die Blumen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie von einem Floristen stammen. Der Strauß sieht teuer aus. Er wollte dich damit beeindrucken.«

Sarah schnaubte verächtlich. »Ja, das hat er wirklich.«

Mark hob beschwichtigend die Hände. »Ich versetze mich nur in seine Lage. Blumen kauft man nicht einfach irgendwo. Jedenfalls nicht, wenn einem die Person wichtig ist, für die sie bestimmt sind. Ich an seiner Stelle würde den Strauß in einem Blumenladen kaufen, den ich kenne. Einem Laden, bei dem ich mir sicher wäre, dass ich etwas für mein Geld bekomme.«

»Folglich einem Laden, an dem ich häufig vorbeikomme«, vollendete Sarah seinen Gedankengang.

Mark nickte. »Wie du gesagt hast: Dieses Gesicht vergisst man nicht. Und mit etwas Glück kennt man ihn dort auch mit Namen. Ich weiß, das klingt alles etwas vage, aber …«

»Es ist mir egal, wie das klingt«, unterbrach ihn Sarah. Sie wirkte wie neu belebt. »Wir müssen es wenigstens versuchen. Alles ist besser als diese Warterei. Wenn Stephen in Gefahr ist, zählt jede Minute.«

44.

Was für ein Tag.

Es war einer dieser ruhigen Nachmittage, die Stanley Moreland nicht ausstehen konnte. Bereits zum fünften Mal machte er die Runde durch sein Reich, die Farben- und Dekorationsabteilung des Screwfix-Heimwerkermarkts, ohne auf einen Kunden gestoßen zu sein.

Um diese Jahreszeit dachte wohl niemand an neue Tapeten oder einen frischen Anstrich, sondern sparte sein Geld für den Geschenkeberg an Heiligabend.

Missmutig prüfte er die Regale. Alle Fächer waren aufgefüllt, und die Artikel standen in Reih und Glied, mit den Etiketten nach vorn ausgerichtet, wie es sich gehörte. Auch die Weihnachtsdekoration war perfekt angebracht, die Angebotsschilder hingen, wo sie hängen sollten.

Kurzum, es gab nichts zu tun, und das war Morelands übelster Albtraum. An einem Tag wie diesem kam er sich schrecklich unnütz vor. Schließlich wurde er nicht dafür regelmäßig zum Mitarbeiter des Monats gewählt, dass er die Hände in die Hosentaschen steckte und auf den Feierabend wartete.

Dann endlich erspähte er einen potenziellen Kunden zwischen den Regalreihen. Moreland aktivierte sein Bei-uns-ist-der-Kunde-noch-König-Lächeln und ging zielstrebig auf ihn zu.

Der Mann stand mit dem Rücken zu ihm, und als Moreland sich ihm näherte, stutzte er. Er trug einen Trenchcoat, der ihm zu kurz war, ebenso wie die Anzughose, die darunter hervorschaute.

Moreland behielt sein routiniertes Lächeln bei, aber innerlich stieß er einen Seufzer aus. Wahrscheinlich hatte der Mann die Sachen aus der Kleidersammlung gezogen, und wenn es sich nicht zufällig um die Reinkarnation von Howard Hughes handelte, die sich zu Screwfix verirrt hatte, würde er bestimmt kein großes Geschäft mit ihm machen.

Als er nur noch wenige Schritte entfernt war, blieb Moreland abrupt stehen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Mann sich nach vorn krümmte. Dabei hielt er beide Hände auf den Bauch gepresst, als habe er Schmerzen.

»Kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?«

Noch immer lächelte Moreland zuvorkommend, während er sich insgeheim schon auf die Frage vorbereitete, wo sich die nächste Toilette befand.

Der Mann reagierte nicht gleich. Er richtete sich auf und betastete seine Nase. Dann betrachtete er kurz den Finger und zog ein Papiertaschentuch aus der Manteltasche. Er hielt es sich vors Gesicht und sah sich zu Moreland um.

Schlagartig gefror dem mehrfachen Mitarbeiter des Monats das Lächeln auf den Lippen. Behandle alle Kunden gleich, war stets seine Devise gewesen, aber nun hatte Moreland ernsthafte Zweifel, ob ihm das diesmal glücken würde.

Es fiel ihm schwer, die freundliche Miene beizubehalten und den Mann nicht anzustarren. Moreland musste an einen Mitschüler aus seiner Kindheit denken, der sich einmal einen Topf mit kochender Milch über die Brust geschüttet hatte. Beim gemeinsamen Duschen nach dem Sportunterricht hatte Moreland die verwucherten Brandnarben stets mit einer Mischung aus Faszination und Ekel betrachtet. Die Haut auf der Brust des Jungen hatte ausgesehen wie dieses Gesicht, auch wenn Moreland es nicht vollständig erkennen konnte, weil es zum großen Teil unter dem Schirm der Arsenal-Kappe und hinter dem Taschentuch verborgen war. Aber was dazwischen hervorlugte, genügte völlig.

Am meisten jedoch erschreckten ihn die wimpernlosen, graublauen Augen des Mannes, die ihn inmitten all dieser Narben ansahen, als würden sie durch eine Maske schauen.

Da war so viel Traurigkeit und Zorn in diesem Blick.

»Ich suche Klebeband«, sagte der Mann durch das Taschentuch hindurch, und Moreland glaubte Blutstropfen daran zu erkennen.

»Ist Ihnen nicht wohl, Sir?«, fragte er und bemühte sich um einen ungezwungen Ton.

»Ich suche Klebeband«, wiederholte der Mann, ohne auf ihn einzugehen. »Letzte Woche stand es noch hier.«

»Klebeband. Natürlich, Sir. Wir haben ein wenig umgeräumt. Wenn Sie mir bitte folgen würden.«

Hastiger als beabsichtigt wandte Moreland sich um und ging voran. Auf ihrem Weg durch die Regalreihen glaubte er den Blick des Mannes auf seinem Rücken zu spüren. Es war ein unangenehmes Gefühl. Umso größer war seine Erleichterung, als sie ihr Ziel erreicht hatten.

»Hier, Sir. Das ist unser umfangreiches Sortiment. Beste Qualität zum kleinen Preis. Suchen Sie vielleicht etwas Bestimmtes?«

»Es muss breit sein«, sagte der Mann und betupfte sich mit dem Taschentuch die Nase. »Außerdem reißfest und luftdicht.«

Moreland musste dem Drang widerstehen, nicht auf das rote Rinnsal zu starren, das seinem Kunden aus der Nase troff. Er griff in das Regal und reichte ihm eine Rolle doppelt beschichtetes Gewebeisolierband.

Der Mann betrachtete die Rolle eingehend, schien zufrieden und nahm dann auch alle übrigen Rollen aus dem Fach. Dazu musste er das Taschentuch einstecken. Moreland versuchte ihm nicht direkt ins Gesicht zu sehen.

Dann nickte der Mann ihm zu, drehte sich um und ging zur Kasse.

Moreland sah ihm nach und verzichtete auf sein übliches »Vielen Dank für Ihren Einkauf«. Stattdessen atmete er erleichtert auf, als der Mann durch die Glasschiebetür verschwunden war.

Plötzlich war er froh, allein in seiner Abteilung zu sein.

Was für ein Tag, dachte er wieder.

45.

Während Mark sich in »Laurels Floristikshop« erkundigte, wartete Sarah im Wagen und scrollte auf ihrem Smartphone durch die Gelben Seiten.

Es war frustrierend. Laut yell.com gab es allein in der Umgebung von Forest Hill weit mehr als siebzig Blumenläden, und im gesamten Londoner South East waren es sogar mehr als doppelt so viele.

Aber sie durfte sich nicht unterkriegen lassen. Irgendetwas musste sie schließlich tun, und bis jetzt hatten sie erst in vier Geschäften nachgefragt. Ein paar Anläufe sollten sie auf jeden Fall noch unternehmen.

Geistesabwesend kratzte Sarah an ihrer Armschiene, konzentrierte sich auf die Straßennamen und überlegte aufs Neue, welches die nächstgelegene Adresse war, als das Handy plötzlich in ihrer Hand zu vibrieren begann.

Sie starrte auf das Display. Eine Handynummer, die sich nicht in ihrem Adressverzeichnis befand.

Was, wenn es der Unbekannte war?

Was sollte sie sagen?

Sie hatte sich für diesen Fall zwar ein paar Sätze überlegt, aber nun war ihr Kopf wie leer gefegt. Wenn sie etwas Falsches sagte, konnte das Folgen haben.

Schlimme Folgen.

Aber noch schlimmer wäre es, wenn sie nicht ranginge.

Rede einfach mit ihm, forderte ihre innere Stimme sie auf. Schließlich will er mit dir reden. Verwickle ihn in ein Gespräch und versuch ihn so weit zu bringen, dass er dir verrät, wo Stephen ist.

Plötzlich war ihr Mund staubtrocken. Wie gelähmt hielt sie das vibrierende Handy. Sie sah zu Mark hinüber, der sich hinter der Schaufensterscheibe mit einer Verkäuferin unterhielt. Er wüsste vielleicht, auf welche Weise man mit diesem Verrückten reden musste, aber auf ihn konnte sie jetzt nicht warten.

Sie atmete tief durch, dann strich sie über den Annehmen-Button.

»Ja?«

»Mummy?«

Es war Harvey. Seine Stimme klang unbeschwert, als sei er mitten im Spiel.

»Hallo, mein Schatz. Was ist das für ein Handy, mit dem du telefonierst?«

»Das ist das Handy von Diana. Sie hat schon ein eigenes. Wusstest du das?«

»Nein, Liebling, das ist ja toll.«

Im Hintergrund hörte sie Diana kichern und Gwen, die den Kindern etwas zurief, dann meldete sich Harvey wieder. »Du, wir haben mit der PlayStation Angry Birds gespielt. Das war richtig cool, Mummy. Ich hab Diana viermal abgehängt. Gleich viermal

»Das freut mich, mein Schatz.«

Wieder hörte sie Gwens Stimme.

»Hast du gehört, was Gwen gesagt hat?«, fragte Harvey und lachte. »Ich bin der Champion.«

»Ja, das bist du.«

»Ich muss gleich wieder Schluss machen. Wir backen Pizza mit Gwen. Ich soll dich fragen, ob du auch bald kommst.«

»Ja, Schatz, bald. Mummy muss nur noch etwas nachsehen, dann komme ich zu euch.«

»Du, Mummy?«

»Ja, Schatz.«

»Kommt Daddy bald nach Hause?«

Die Frage versetzte ihr einen Stich. Sarah musste schlucken, ehe sie antworten konnte. »Natürlich, Liebling.«

»Mummy, wenn Daddy wieder da ist, fragst du ihn dann noch mal? Ich möchte so gern eine PlayStation. Diana hat doch auch eine. Dann können wir zusammen Angry Birds spielen.«

Sie fröstelte, als sie an das Geschenk des Unbekannten dachte. Er musste sie und Stephen belauscht haben, als sie am Küchentisch gesessen und wieder einmal über Harveys Wunsch diskutiert hatten. Solche Dinge besprachen sie meistens in der Küche, und das Fenster war fast immer gekippt. Nun würde sie es nie wieder öffnen können, ohne dabei ein Gefühl der Bedrohung zu empfinden.

Wieder fiel sie die hilflose Wut an, der so schwer beizukommen war. Wusste dieser Kerl eigentlich, was er ihnen antat?

»Okay, Schatz«, sagte sie, und ihre Stimme klang belegt. »Ich rede mit deinem Vater, sobald er wieder da ist.«

Falls wir ihn jemals lebend wiedersehen werden.

»Versprichst du’s mir, Mummy?«

»Ja, Liebling, ich verspreche es dir.«

»Cool! Du bist die beste Mummy der Welt. Ich habe dich lieb.«

»Ich dich auch, mein Schatz.«

Doch Harvey hatte bereits aufgelegt.

Mark kam aus dem Blumenladen und stieg zu ihr ins Auto.

»Alles in Ordnung?« Er sah sie besorgt an. »Du zitterst ja. Hast du Schmerzen im Arm? Soll lieber ich fahren?«

Sie hob das Handy hoch. »Das war Harvey. Er hat mich nach seinem Vater gefragt.«

»Was hast du ihm gesagt?«

Sie wich seinem Blick aus und sah aus dem Fenster. »Ich habe gesagt, dass er bald nach Hause kommt.«

Mark berührte sie sanft an der Schulter. Sie wandte sich ihm wieder zu. »Und? Was haben sie da drin gesagt?«

»Leider wieder Fehlanzeige.«

»Mist! Es ist ja auch unfassbar, wie viele Blumenläden es hier gibt.«

»Du willst doch nicht etwa aufgeben?«

»Aufgeben? Ich? Mark, ich dachte, du kennst mich.«

Er lächelte. »Okay, also wer ist der Nächste auf der Liste?«

»Mal sehen … Hier, Marple Street, das ist nur zwei Straßen weiter. Stanford Flowers and more.« Plötzlich stutzte sie. »Obwohl … warte mal!«

»Was ist?«

»Ach, nichts.«

»Nichts?« Mark sah sie stirnrunzelnd an. »Also, ich bin bestimmt nicht der große Frauenversteher vor dem Herrn, aber wenn eine Frau nichts sagt, ist immer irgendwas im Busch. Also, was ist es?«

Stirnrunzelnd betrachtete Sarah das Display. »Es hat vielleicht gar nichts zu bedeuten.«

»Sag es mir trotzdem.«

»Dieser Laden hier – Shalimar Flowers. Irgendwo bin ich über diesen Namen schon einmal gestolpert. Erst kürzlich. Aber mir fällt nicht mehr ein, wo.«

»Hatte es mit Stephen zu tun?«

Sie wiegte den Kopf. »Kann sein. Ich weiß es wirklich nicht mehr.«

»Dann lass es uns einfach dort versuchen«, schlug Mark vor. »Ist es weit?«

»Ellerslie Lane. Nein, das sind nur ein paar Minuten von hier … Aber vielleicht habe ich den Namen auch nur in einer Annonce gelesen.«

»Versuchen sollten wir es trotzdem.«

Sarah nickte und ließ den Motor an. »Wir haben ja nichts zu verlieren.«

Außer wertvoller Zeit, fügte sie in Gedanken hinzu und fuhr aus der Parklücke.

46.

Als die Türglocke über ihnen anschlug, war es, als würden sie eine andere Welt betreten. Sarah war noch nie zuvor hier gewesen, dennoch empfand sie eine merkwürdige Vertrautheit. Sie schauderte wie bei einem Déjà-vu und konnte es sich zunächst nicht erklären.

Draußen herrschte das kalte, graue Dezemberwetter, doch im Inneren des Ladens empfing sie feuchtwarme Luft, gemischt mit den süßlich schweren Düften unzähliger Pflanzen, deren Farbenpracht im Licht der Halogenstrahler fast irreal wirkte. In der Mitte des Raums thronte eine von Orchideen umgebene Ganesha-Statue, die jeden Besucher mit erhobenen Händen und goldverziertem Rüsselgesicht begrüßte, und aus einem Wandlautsprecher drangen leise Sitarklänge, die den exotischen Eindruck zusätzlich verstärkten.

Sarah blieb vor der Statue stehen und betrachtete sie nachdenklich. Hier war ihr Déjà-vu-Gefühl am stärksten.

»Indien …«, flüsterte sie und wirkte für einen Moment wie entrückt.

Mark sah sie fragend an. »Ist irgendwas?«

Ohne den Blick von der Statue abzuwenden, schüttelte sie den Kopf. »Nur eine Erinnerung. Ist lange her.«

»Hat es mit deinem Mann zu tun?«

»Ja, es war unsere erste gemeinsame Reise, gleich nach der Graduierung. Stephens Jugendtraum, mit dem Rucksack durch Indien. Den Flug hatten uns seine Eltern bezahlt.« Sarah blickte ihn an. »Ich weiß, warum du fragst. Aber das alles kann er nicht wissen. Dafür liegt es viel zu lange zurück.«

Sie gingen an der Statue vorbei auf die Ladentheke zu, hinter der ein kleiner kahlköpfiger Mann mit rundlichem Gesicht an einem Tisch stand und ein Gebinde zusammenstellte. Als sie bei ihm angekommen waren, legte er die Blumen beiseite, rieb sich die Hände an seiner grünen Floristenschürze ab und kam ihnen lächelnd entgegen.

»Herzlich willkommen, die Herrschaften«, sagte er, und es klang, als würde er die Worte singen. »Ich bin Farhan Ramesh. Was kann ich für Sie tun?«

Wie schon in den anderen Blumenläden schilderte ihm Mark, weswegen sie gekommen waren. Dass sie auf der Suche nach einem Mann seien, der hier womöglich vor drei Tagen ein Gebinde gekauft hatte. Dass dieser Mann ein auffällig vernarbtes Gesicht habe …

Bei Erwähnung der Narben sah Farhan Ramesh sie überrascht über den Rand seiner Brille an.

»Aha, Sie sind das also«, sagte er bedächtig und nickte ihnen zu.

Sarah und Mark wechselten erstaunte Blicke.

»Soll das etwa heißen, Sie haben uns erwartet?«, fragte Sarah.

»Gewissermaßen.« Der Florist lächelte, sodass seine weißen Zähne in dem dunkelhäutigen Gesicht funkelten. »Ja, der Mann, den Sie mir beschreiben, war vor ein paar Tagen hier. Ein sehr netter Herr und äußerst großzügig. Er hatte mir angekündigt, dass mich womöglich jemand nach ihm fragen würde. Eine Frau.« Ramesh sah Sarah aus seinen großen dunklen Augen an, die ihn jünger wirken ließen, als er in Wahrheit sein mochte. »Dann müssen Sie Sarah Bridgewater sein, richtig?«

»Ja«, sagte Sarah, und Mark schien ebenso fassungslos wie sie. »Was hat dieser Mann zu Ihnen gesagt? Kennen Sie ihn?«

»Bedaure, er war mir bis dahin nicht bekannt«, erwiderte Ramesh und lächelte weiter, als würde ihn diese Unterhaltung amüsieren.

Er sieht aus wie jemand, der sich über eine gelungene Überraschung freut, dachte Sarah. Ein indischer Dom Joly, der sich für die Versteckte Kamera verkleidet hat.

»Und er hat Ihnen gesagt, dass wir Sie nach ihm fragen würden?«, wollte Mark wissen.

»Nein, Sir«, sagte Ramesh, »nicht Sie beide. Nur eine Mrs. Sarah Bridgewater. Aber auch da war er sich nicht sicher.« Wieder wandte er sich Sarah zu. »Er zog lediglich die Möglichkeit in Betracht, dass Sie mich aufsuchen könnten. Und für diesen Fall hat er mich gebeten, etwas für Sie aufzubewahren.«

»Wie bitte?« Sarah sah ihn ungläubig an. »Er hat etwas für mich hinterlassen

Ramesh nickte. »Ja, ja. Eine kleine Überraschung, so hat er es genannt. Einen Moment bitte, dann hole ich es für Sie.«

Damit wandte er sich um und verschwand durch einen Perlenvorhang in ein Hinterzimmer.

Sarah schaute sich unruhig im Laden um. Ihr war, als würden sie beobachtet werden, und auf einmal kam ihr der Gedanke mit der versteckten Kamera gar nicht mehr so abwegig vor.

Mark sah sie stirnrunzelnd an. »Das ist doch absurd«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Der Kerl konnte doch unmöglich wissen, dass wir …«

»O doch, Mark! Sieh mal hier.«

Sarah zeigte auf einen Quittungsblock, der auf dem Ladentisch lag. Schlagartig war ihr klar, wieso ihr der Name des Blumenladens bekannt vorkam und was es mit dem seltsamen Gefühl von Vertrautheit auf sich hatte.

Die leuchtend violette Darstellung der Ganesha-Statue nahm die gesamte rechte Hälfte des auffälligen Adresskopfes ein. Sie stach ebenso ins Auge wie der verschnörkelte Schriftzug Shalimar Flowers.

»Jetzt weiß ich wieder, woher ich den Namen kenne. Als ich Stephens Unterlagen wegen der neuen Kundenadressen durchgesehen habe, lag eine dieser Quittungen bei seinen Steuerbelegen. Unverkennbar.«

Der Perlenvorhang raschelte wieder, und Farhan Ramesh kehrte zu ihnen zurück. Er hielt einen Briefumschlag hoch und reichte ihn Sarah.

»Hier, bitte schön.«

Sarah nahm ihn mit spitzen Fingern entgegen. Auf dem Umschlag stand ihr Name in ordentlichen Druckbuchstaben.

SARAH BRIDGEWATER

Und etwas kleiner darunter:

Glückwunsch! Ich habe es mir gedacht.

Sarah erstarrte. Diese kurze, zynische Nachricht gab ihr das Gefühl, als sei sie von einer Sekunde zur nächsten von einem Eisblock umschlossen.

»Dieser Mann«, Mark wandte sich wieder an Ramesh, »hat er Ihnen seinen Namen genannt?«

»Ich muss wieder bedauern«, sagte der Florist und hob entschuldigend die Hände. »Leider ist mein Namensgedächtnis nicht das beste. Gesichter kann ich mir merken, ja, aber Namen … Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er sich mir überhaupt vorgestellt hat.«

»Aha, und ist es üblich, dass Sie hier für Fremde als Postbote tätig sind?«

»Habe ich etwas Unrechtmäßiges getan?«

»Nein, Mr. Ramesh, ich frage mich nur, ob Ihnen die Bitte dieses Mannes nicht ungewöhnlich vorgekommen ist?«

»Ich will Ihnen etwas sagen, Sir.« Jetzt war Rameshs Lächeln nicht mehr so breit wie vorhin, es war allenfalls noch ein Ausdruck von höflichem Respekt. »Die Zeiten sind nicht einfach. Die Leute bestellen heute lieber einen Blumenstrauß online, als den Floristen aufzusuchen. Für die meisten Menschen zählt nicht mehr die Qualität, sondern die Bequemlichkeit. Und wenn dann jemand in meinem Laden auftaucht, einen teuren Strauß kauft und mir zusätzlich fünfzig Pfund für die Übergabe eines kleinen Briefes anbietet, dann bin ich gern der Postbote.«

»Fünfzig Pfund?«, wiederholte Mark. »Für einen Brief?«

»Ja, Sir, fünfzig Pfund für einen Brief. Es war ihm wohl viel wert, Sie zu überraschen. Und wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, hatte ich darüber hinaus den Eindruck, dass dieser Herr recht vermögend ist. Seine Kleidung mochte täuschen, aber seine Brieftasche war gut gefüllt.«

»Und hat Sie dieser hohe Betrag nicht misstrauisch gemacht? Ich meine, fünfzig Pfund ist eine ordentliche Stange Geld.«

»Genau deshalb habe ich keine Fragen gestellt«, entgegnete Ramesh. »Denken Sie über mich, was Sie wollen, aber diesen Luxus kann ich mir nicht leisten.«

Sarah steckte den Brief ein und zog ihr Portemonnaie aus der Jackentasche.

»Mr. Ramesh, wenn Sie sich Gesichter so gut merken können, wie ist es dann mit diesem hier?«

Sie nahm Stephens Foto heraus und reichte es ihm. Ramesh rückte seine Brille zurecht und betrachtete es eingehend.

»O ja, diesen Herrn kenne ich ebenfalls.« Als er ihr das Foto zurückgab, lächelte er wieder fröhlicher. »Ein treuer Kunde mit einer Vorliebe für meine langstieligen Rosen. Eine spezielle Züchtung aus Gloucestershire, die sich deutlich länger hält als die importierte Massenware, die Sie sonst in der Stadt bekommen. Gelegentlich kauft er auch Gebinde wie dieses.« Er deutete zu seiner Arbeit auf dem Tisch. »Allerdings muss ich gestehen, dass ich ihn in letzter Zeit nur noch selten gesehen habe. Er scheint wohl sehr beschäftigt.«

Sarah schlug die Augen nieder. »Ich weiß.«

»Ihr Mann ist ebenfalls sehr nett«, fügte Ramesh hinzu. »Seine Leidenschaft für meine Heimat bereitet mir bei jeder unserer Unterhaltungen viel Freude.«

Sarah fuhr zusammen. »Woher wissen Sie, dass er mein Mann ist?«

»Nun ja, das war nicht schwer zu erraten, Mrs. Bridgewater.« Ramesh deutete auf ihre Hand. »Sie tragen einen Ehering und haben ein Foto von ihm bei sich.«

»Also gut«, sagte sie, zog eine Zwanzig-Pfund-Note aus ihrer Geldbörse und legte sie auf den Ladentisch. »Ich habe ebenfalls einen Auftrag für Sie.«

Ramesh sah ihr interessiert zu, während sie ihre Handynummer auf den Quittungsblock schrieb. »Rufen Sie mich an, falls der Mann noch einmal zu Ihnen kommen sollte. Abgemacht?«

Der Blumenhändler wiegte lächelnd den Kopf. »Sehr gern, Mrs. Bridgewater. Ich kann Ihnen zwar nichts versprechen, da dieser Mann bisher nur ein Mal bei mir gewesen ist, aber man weiß ja nie. Nicht wahr?«

47.

Sie gingen zu Fuß zu einem Coffeeshop, der sich nur drei Straßen von Shalimar Flowers entfernt befand. Sarah setzte sich an einen Tisch in einer abgelegenen Nische, und Mark ging zur Theke, um ihre Bestellung aufzugeben.

Während er wartete, dachte er über ihr Erlebnis in dem Blumenladen nach. Sie hatten sich auf die Suche nach einem Mann gemacht, der ihnen offenbar mehrere Schritte voraus war. Statt ihn zu überraschen, indem sie ihm auf die Spur kamen, hatte er sie überrascht, und Mark war sich nicht mehr sicher, ob sie diesem Mann auch nur annähernd gewachsen waren – vor allem, ob er selbst diesem Mann gewachsen war. Sein Mund fühlte sich entsetzlich trocken an, und er betrachtete nervös die Flaschen, die verheißungsvoll in den beleuchteten Glasregalen funkelten.

Sein Sucht-Gen meldete sich wieder einmal zu Wort. Nur einen Drink, flüsterte es ihm zu. Komm schon, nur einen einzigen Drink gegen die Anspannung.

Doch gleich darauf vernahm er eine weitere Stimme. Sie klang wie Tanja. Jene Tanja, die ihn letzte Nacht in seinem Zimmer aufgesucht hatte.

Hilf ihr, dann hilfst du dir selbst.

Ich hoffe, ich kann es, dachte er und sah zu Sarah hinüber, die zusammengesunken und mit bleichem Gesicht in der Nische saß. Sie wirkte erschöpft, hatte den leeren Blick aus dem Fenster gerichtet und drehte nervös den Briefumschlag des Unbekannten in ihren Händen.

»Möchten Sie noch etwas dazu? Wir hätten frische Scones mit hausgemachter Marmelade.«

Er wandte sich wieder zur Theke um, wo ihn eine rothaarige junge Frau mit Sommersprossengesicht über die beiden Teebecher hinweg anlächelte.

»Haben Sie auch Pfefferminzdragees?«

»Leider nein.«

Er legte einen Zwanziger auf die Theke, und während sie ihm das Wechselgeld abzählte, musste er an die fünfzig Pfund des Unbekannten denken. An das Portemonnaie voller Banknoten, von dem Ramesh gesprochen hatte.

Dieser Mann musste gewusst haben, dass er den Blumenhändler damit beeindrucken konnte, und dass er Sarah davon erzählen würde, wenn sie nach Einzelheiten fragte. Wollte er damit betonen, dass es ihm bei Stephen Bridgewaters Entführung keinesfalls um Geld ging?

Wenn Mark mit dieser Annahme richtiglag, dann verhieß das nichts Gutes.

»Haben Sie auch aufgehört?«, fragte die Bedienung.

»Aufgehört?«

»Na, das Rauchen. Willkommen im Club.«

Das Rauchen aufzugeben war kein Problem für mich, dachte Mark, als er mit dem Tee zu Sarah ging. Nach Tanjas Tod hatte er nie wieder das Verlangen nach einer Zigarette gehabt. Davon hatte ihn sein Schuldgefühl kuriert.

Wäre ich damals nicht mit meiner Kippe beschäftigt gewesen, könnte Tanja vielleicht noch am Leben sein.

Als er die Tassen auf dem Tisch abstellte, blickte Sarah zu ihm auf, und er sah die hilflose Wut in ihren Augen. Sie nahm einen der Löffel und schob den Stiel unter die Lasche des Briefumschlags.

»Dieses Schwein macht sich über mich lustig«, sagte sie und riss mit einem einzigen zornigen Ruck den Umschlag auf.

Sie schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. Dann sah sie hinein.

»Ein Foto«, sagte sie überrascht und zog es heraus. Sie starrte es ungläubig an und schüttelte den Kopf.

»Was, zum Teufel, soll das?«, flüsterte sie, dann reichte sie es Mark.

Nach Sarahs erster Reaktion wusste er nicht, was er auf dem Bild zu sehen erwartete, aber am allerwenigsten hätte er mit diesem Schnappschuss gerechnet. Er zeigte eine junge Blondine mit unbeschwertem Lachen. Dem Hintergrund nach zu urteilen, war die Aufnahme in einem großen Garten oder in einem Park entstanden. Die Frau mochte etwa Anfang zwanzig sein und war außerordentlich hübsch. Offenbar hatte sie sich schnell zu dem Fotografen gedreht, sodass ihr langes Haar durch die Luft wirbelte und der gelbe Schriftzug Happily Ever After auf ihrem grünen T-Shirt ein wenig verwischt aussah. Fast wirkte es, als ob sie dort in der Grünanlage tanzte.

»Kennst du sie?«, fragte Mark.

»Nein, ich …«, Sarah schluckte, »ich habe sie noch nie gesehen. Er ist doch nur ein kranker Scherz, oder?«

»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Mark, ohne von dem Bild aufzusehen. »Es muss eine Bedeutung haben, immerhin war es ihm fünfzig Pfund wert. Dieser Unbekannte konnte nicht sicher sein, dass du den Blumenladen finden wirst, aber er wusste, dass du nach ihm suchen wirst. Auf dem Umschlag gratuliert er dir zu deinem Fund. Also kann es sein, dass dieses Bild eine Art Belohnung für dich sein soll.«

»Wie bitte? Eine Belohnung? Wofür?«

»Dafür, dass du dich bemühst herauszufinden, wer er ist. Das scheint ihm immens wichtig zu sein.«

»Ach ja?« Wieder funkelte Zorn in ihren Augen. »Es ist mir scheißegal, wer er ist, Mark! Ich will nur wissen, wo mein Mann ist. Wenn mir dieser Mistkerl doch wenigstens sagen würde, was er von mir will! Warum spielt er mir das Bild dieser Frau zu? Was hat sie mit mir zu tun?«

»Vielleicht ist sie ein Schlüssel zu seinem Motiv. Sie sieht dir ein wenig ähnlich, findest du nicht?«

Sarah wiegte den Kopf. »Vielleicht, mit viel Fantasie.«

»Na ja, so viel Fantasie benötigt man dafür gar nicht.« Mark ließ den Blick zwischen dem Foto und ihr hin und her huschen. »Sie ist groß und schlank, sieht gut aus, hat lange blonde Haare, und dann die Augenpartie …«

»Glaubst du, sie hat ihn abblitzen lassen, und deswegen ist er hinter mir her? Falle ich in sein Beuteschema?«

»Nein, das ist es nicht …« Mark starrte eine Weile auf das Foto, drehte es hin und her und dachte über seine Bedeutung nach. »Es wäre möglich, dass sie tot ist. Ja, das könnte es sein.«

»Tot? Wie kommst du denn darauf?«

»Wenn er es tatsächlich auf sie abgesehen hätte und sie wäre noch am Leben, würde er sicher nicht bei euch auftauchen und behaupten, er sei dein Mann. Außerdem ist es eine ältere Aufnahme.« Er drehte das Bild um und zeigte ihr das Datum, das vom Fotolabor auf die Rückseite gedruckt worden war. »Das Bild wurde im Mai 2005 entwickelt. Wäre sie noch am Leben, hätte er dir wahrscheinlich ein aktuelleres Bild geschickt.«

»Denkst du, dieser Kerl hat sie umgebracht?«

»Nein, dann würde er dir bestimmt nicht ihr Bild zukommen lassen. Das wäre wie ein Schuldgeständnis. Ich denke eher, er hat sie verloren. Vielleicht war sie seine Lebensgefährtin, oder seine Frau?«

»Also gut, nehmen wir an, du hast recht.« Sarah stieß ein genervtes Seufzen aus. Sie drehte nervös den leeren Briefumschlag in den Händen. »Vielleicht erinnere ich ihn ja wirklich an seine Ex-Freundin – oder wer immer sie ist –, und er stellt mir deswegen nach. Aber was bringt uns dieses Wissen?«

»Jedenfalls ist damit klar, dass dieser Mann nicht völlig wahnhaft ist. Zumindest hält er sich nicht wirklich für Stephen. Er wäre nur gern an seiner Stelle. Und mit dem Bild dieser Frau will er dir zu verstehen geben, warum er sich ausgerechnet euch ausgesucht hat.«

»Gut, selbst wenn er nicht völlig verrückt ist – was bezweckt er damit? Wenn er wirklich will, dass ich ihn suche, ist mir dieses Bild keine große Hilfe. Oder soll ich jetzt etwa auch nach ihr …«

Sie stutzte und sah vor sich auf die Tischplatte. Ohne es zu bemerken, hatte sie weiter den Umschlag in Händen gedreht. Nun war ein kleiner Zettel herausgefallen, den sie vorher übersehen hatte.

Überrascht hob sie ihn auf. Als sie sah, was darauf stand, begann ihre Hand zu zittern.

Sie legte den Zettel vor Mark auf den Tisch.

»Sieht so aus, als will er, dass ich ihn das selbst frage.«

Auf dem Zettel stand eine elfstellige Handynummer.

48.

Er öffnete die Stahltür und trat in den verlassenen Hof hinaus. Das diffuse Tageslicht blendete ihn, und beinahe wäre er auf den gesprungenen und schiefen Betonplatten gestolpert.

Seine Kopfschmerzen hatten erneut eingesetzt, und er kniff die Augen zusammen. Es war, als würde sich das Nachmittagsgrau in sein Gehirn ätzen. Aber er widerstand dem Impuls, gleich wieder umzukehren. Das Bedürfnis nach frischer Luft war stärker. Er musste endlich den übelkeiterregenden Gestank aus der Nase bekommen.

In seinen Gliedmaßen spürte er wieder das unheilvolle Brennen – kein gutes Zeichen –, und ihm war schlecht. Trotzdem wollte er noch eine Weile auf die Medikamente verzichten. Sie dämpften seine Wahrnehmung, und das konnte er im Augenblick nicht zulassen. Es gab noch zu viel zu erledigen.

Er atmete mehrmals tief ein und aus, und allmählich fühlte er sich besser. Die vergangenen zwei Stunden waren verdammt anstrengend gewesen. Er fühlte sich erschöpft und ausgelaugt, und er wusste, dass auch das kein gutes Zeichen war. Es würde nun immer schneller mit ihm bergab gehen, ganz gleich, wie viele Tabletten er auch einnahm.

Dennoch war er zufrieden. Er hatte beinahe das gesamte Klebeband aufgebraucht, um den Gestank einzudämmen, aber es würde helfen. Zumindest vorerst.

Er nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche und presste sie sich gegen die pochende Schläfe. Die Kühle tat ihm gut.

So stand er eine Weile da, als er plötzlich das Vibrieren des Handys in seiner Jackentasche spürte. Er nahm es heraus, las die Nummer des Anrufers und lächelte.

Tatsächlich. Sie war es.

»Respekt. Und ich wollte schon die Hoffnung aufgeben«, sagte er und nahm den Anruf entgegen.

49.

»Hallo, Sarah.«

Die dunkle, raue Stimme ließ sie zusammenfahren. Sie sah wieder das vernarbte Gesicht vor sich, das ihr bei der nächtlichen Begegnung in der Küche wie die Fratze einer Albtraumgestalt zugelächelt hatte. Und selbst wenn der Mann sich jetzt nicht mit ihr in einem Raum befand und sie sich in der Sicherheit des Coffeeshops wähnte, so lief ihr doch eine Gänsehaut über die Arme.

»Wie Sie merken, habe ich Ihre Nachricht bekommen«, sagte Sarah und gab sich alle Mühe, gefasst und selbstsicher zu klingen. »Sagen Sie mir jetzt endlich, wo mein Mann ist? Was wollen Sie von uns? Wer sind Sie?«

»Um die richtigen Antworten zu erhalten, muss man die richtigen Fragen stellen, Sarah. Leider stellst du noch immer die falschen Fragen.«

Sie wechselte einen unsicheren Blick mit Mark, der sich dicht neben sie gesetzt hatte, um mithören zu können. Er nickte ihr ermutigend zu.

Bleib an ihm dran, geh auf ihn ein, sagte sein Blick.

»Gut, dann helfen Sie mir. Was wären Ihrer Ansicht nach die richtigen Fragen?«

»Die wichtigste von allen ist jedenfalls nicht, wo Stephen ist, sondern wo du bist, Sarah. Und damit meine ich nicht nur heute. Wo bist du in den vergangenen Monaten gewesen? Du hast dich versteckt. Vor allem und jedem. Das ist nicht gut, Sarah. Das ist gar nicht gut.«

Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Einerseits aus Scham, da dieser Kerl etwas Wahres aussprach, aber vor allem aus Wut. Am liebsten hätte sie ihn angebrüllt, dass ihn das einen Scheißdreck angehe. Aber sie nahm sich zusammen. Sie durfte ihn nicht reizen.

»So, und Sie denken also, Sie könnten das beurteilen?«, sagte sie daher, so ruhig sie konnte. »Glauben Sie, weil Sie meine Familie und mich heimlich beobachtet haben, würden Sie uns kennen? Warum mischen Sie sich überhaupt in unser Leben ein? Wer gibt Ihnen das Recht dazu?«

»Ich hatte gehofft, meine kleine Botschaft würde dir helfen, es zu verstehen.«

»Sie meinen das Foto? Wer ist diese Frau? Was hat sie mit mir zu tun?«

Für einen Moment herrschte Stille, und Sarah befürchtete schon, er werde das Telefonat beenden.

»Mehr, als du glaubst«, sagte er schließlich. »Sie war eine fröhliche junge Frau und hätte viel in ihrem Leben erreichen können. Und sie hat sich alle Mühe gegeben, o ja! Sie war ehrgeizig, so wie du es gewesen bist, bis du dich selbst aufgegeben hast. Aber sie hat keine zweite Chance bekommen, im Gegensatz zu dir.«

»Was ist mit ihr geschehen?«

»Du bekommst immer wieder eine Chance«, sagte er, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Tag für Tag, aber du nutzt sie nicht. Du lässt wertvolle Lebenszeit verstreichen und verkriechst dich.«

Seine Worte waren für Sarah fast unerträglich. Dieser Unbekannte hatte nur zu genau erkannt, wo sie ihren wunden Punkt hatte, und nun streute er Salz hinein. Es tat weh, aber ihre Wut überwog und half ihr, das Gespräch fortzuführen.

»Nun hören Sie mir mal gut zu, Mister. Wer auch immer Sie sind, mein Leben geht Sie nichts an. Es ist mein Leben. Ich mache damit, was ich will. Ihre Ratschläge und Weisheiten sind mir scheißegal. Alles, was ich von Ihnen wissen will, ist, wo mein Mann ist.«

Er atmete tief durch, ehe er darauf antwortete. »Du sträubst dich, aber ich kann das verstehen. Es ist nicht einfach, wenn man mit einer schmerzhaften Wahrheit konfrontiert wird.«

»Wo ist mein Mann?«

»Ich möchte, dass du mir eine Frage beantwortest, Sarah. Du warst damals so glücklich, als du die Stelle in dem Verlag bekommen hast. Warum hast du sie aufgegeben? Und sag jetzt bitte nicht, es ginge mich nichts an. Dann lege ich auf. Und diese Nummer ist nur für einen einzigen Anruf vorgesehen. Hast du das verstanden?«

Wieder sah sie zu Mark, der kurz zu überlegen schien und ihr dann mit einer Geste zu verstehen gab, dass sie darauf eingehen solle.

Sie biss sich auf die Unterlippe und griff nach seiner Hand. Es fiel ihr so unglaublich schwer, über dieses Thema zu reden, erst recht unter diesen Umständen, aber ihr blieb nichts anderes übrig. Marks Nähe half ihr – wie damals, als sie Kinder gewesen waren.

»Ich … ich war überfordert«, begann sie. »Ist es das, was Sie hören wollen?«

»Ich will die Wahrheit hören, Sarah, mehr nicht. Also – ist es die Wahrheit? Denk noch einmal genau nach. Hätten sie dich wirklich befördert, wenn du deiner Stelle nicht gewachsen gewesen wärst?«

»Also gut, die Wahrheit ist, dass ich Angst hatte zu versagen.«

»Ja, das sehe ich auch so. Es war deine Angst, die dich gehemmt hat. Ich frage mich nur, warum du mit niemandem darüber gesprochen hast? Nicht einmal mit deinem Mann. Warst du wieder die Einzelkämpferin, die gedacht hat, sie müsse allen beweisen, wie stark sie ist, bis du am Ende deiner Kräfte angelangt warst? War es das? Oder lag es vielleicht an Stephen, weil er sich mehr um sich selbst als um dich und Harvey gekümmert hat? War es vielleicht eher die Angst, in deiner Ehe zu versagen?«

Plötzlich schien der Coffeeshop vor ihren Augen zu verschwimmen. Sie blinzelte, und gleich darauf rannen Tränen über ihr Gesicht.

»Warum erzählen Sie mir all das? Wenn Sie glauben, dass Sie mich besser kennen als ich mich selbst, dann liegen Sie falsch.«

»Das ist gut, Sarah, das ist sehr gut! Das heißt, dass du dir bereits Gedanken gemacht hast. Wir sind also auf dem richtigen Weg. Wer weiß, vielleicht wird deine Angst ja sogar noch ein guter Lehrer für dich? Jedenfalls denke ich, es ist an der Zeit für eine wichtige Unterhaltung.«

»Was meinen Sie damit? Wir unterhalten uns doch.«

Wieder wechselte sie einen fragenden Blick mit Mark.

»Er will dich treffen«, flüsterte er ihr zu, deutete auf ihr Handy und reckte dann den Daumen nach oben.

»Sarah?«, fragte der Unbekannte. »Ist da jemand bei dir?«

»Nein.«

»Wirklich nicht? Ich habe doch gerade ein Flüstern gehört.«

»Das war ein Kellner, ich sitze in einem Café.«

»Lüg mich nicht an.«

»Ich lüge nicht. Sie wollen sich mit mir treffen? Also gut, wann und wo?«

»Erinnerst du dich noch, wo du deinen neuen Job gefeiert hast? An diesen ganz besonderen, glücklichen Abend in der Krypta?«

Sie starrte das Handy an und konnte es nicht fassen. Woher wusste dieser Mann davon?

»Komm morgen pünktlich um zwölf Uhr mittags dorthin«, sagte der Unbekannte. »Und komm allein, hörst du?«

»Ja, in Ordnung. Aber eine Sache will ich Sie doch noch fragen.«

»Ich höre.«

»Warum … warum haben Sie sich für meinen Mann ausgegeben?«

»Das ist eine gute Frage, Sarah.«

»Dann beantworten Sie sie mir.«

»Es fühlt sich gut an, wie er zu sein. Stephen selbst hatte das leider vergessen, aber ich denke, inzwischen hat er seine Lektion gelernt.«

Bei diesen Worten schauderte sie. »Was haben Sie mit ihm gemacht? Wo ist er …?«

»Morgen um zwölf«, sagte er. »Enttäusch mich nicht, Sarah. Vergiss nicht, es geht dabei um dich. Wenn du die Wahrheit über Stephen herausfinden willst, musst du die Wahrheit über dich selbst herausfinden.«

Dann wurde die Verbindung unterbrochen.

50.

Nachdem er aufgelegt hatte, starrte er noch eine Weile auf das Handy in seiner zitternden Hand. Er hatte den Köder ausgelegt, und Sarah hatte angebissen. Ihre Angst um Stephen trieb sie an, und sie würde nicht mehr lockerlassen. Alles lief so, wie er es geplant hatte. Das war gut, denn die Zeit zerrann ihm zwischen den Fingern wie feiner Sand.

Er atmete erleichtert auf, öffnete die Abdeckung des Handys und holte die SIM-Karte heraus. Sein Zittern war wieder schlimmer geworden, und die tauben Fingerkuppen machten die Sache nicht einfacher, aber schließlich gelang es ihm. Er ließ die Karte in einen Gullyschacht fallen, dann legte er Stephens Karte wieder ein und schaltete das Handy ab. Vielleicht würde er es später noch einmal brauchen.

Ihm war nicht wohl, als er zurück zu der Stahltür ging, und bevor er sie erreichte, wurde er von einem plötzlichen Krampf befallen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht presste er sich beide Hände auf den Bauch und sackte auf die Knie. Ein wildes Stechen durchfuhr seinen Körper, als würden Tausende winzige Messer in seinen Eingeweiden toben.

Schließlich würgte er und erbrach sich in konvulsivischen Stößen. Als die Krämpfe endlich nachließen und er sich mühsam erhob, starrte er auf die Lache zu seinen Füßen.

Vor ihm dampfte eine widerliche braune Brühe auf dem kalten Beton, und diesmal war das Erbrochene mit Blut vermischt.

Ein heftiges Zittern schüttelte ihn, und Tränen rannen ihm über die Wangen.

»Noch nicht«, schluchzte er. »Es ist noch zu früh.«

51.

»Er will sich also morgen mit dir in einer Krypta treffen?«, fragte Mark, während Sarah noch immer das stumme Telefon anstarrte. »In welcher Krypta?«

»St. Martin-in-the-Fields.«

»Am Trafalgar Square?«

»Ja, es gibt da in der Krypta ein Café. Stephen und ich sind oft dort gewesen. Bevor er sich selbstständig gemacht hat, haben wir uns häufig Konzerte in der Kirche angehört. Später hatte er dann keine Zeit mehr dafür. Wir …« Sie sprach nicht weiter, nahm eine Papierserviette und tupfte sich die feuchten Augen ab. Dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus. »Mark, ich verstehe das nicht! Woher weiß er von alldem? Das ist schon Jahre her. So lange kann er uns unmöglich ausspioniert haben.«

»Ich denke, es gibt nur eine Antwort darauf.«

Sarah sah ihn für einen Moment verständnislos an, dann begriff sie. »Du meinst, er weiß es von Stephen?«

Mark entgegnete nichts, die Antwort war zu offensichtlich.

»Du meine Güte«, sagte sie leise. »Und Stephen wird es ihm bestimmt nicht freiwillig erzählt haben.«

»Wenigstens könnte es ein Zeichen sein, dass dein Mann noch lebt. Der Unbekannte braucht intime Informationen über dich, um dir sein überlegenes Wissen demonstrieren zu können. Und niemand weiß mehr über dich als Stephen. Also wird er ihm lebendig von größerem Nutzen sein.«

»Was meinst du, sollen wir mit diesen Informationen zur Polizei gehen?«

»Ich weiß nicht, ob das momentan eine gute Idee wäre. Noch haben wir zu wenig Beweise in der Hand. Aber selbst wenn man dir jetzt glauben würde, wäre das Risiko zu groß, dass der Unbekannte morgen Mittag kalte Füße bekommt, sobald er die Polizei in der Nähe wittert. Wir sollten kein Risiko eingehen, solange wir nicht wissen, wo er deinen Mann gefangen hält.«

»Ich frage mich, warum er sich mit mir mitten in der Stadt treffen will.«

»Weil er weiß, dass du dorthin am ehesten alleine kommen wirst. Das Café ist ein öffentlicher Ort, du wirst dich dort in Sicherheit fühlen.«

»Okay, und was wollen wir jetzt tun? Wir können doch nicht bis morgen Mittag Däumchen drehen.«

»Lass uns noch einmal überlegen, was wir über diesen Mann wissen. Vielleicht haben wir ja etwas übersehen, was uns mehr über ihn verraten könnte.«

»Das tue ich schon die ganze Zeit, Mark, aber mir fällt nichts ein. Es ist alles so verworren. Ich habe nur verstanden, dass es ihm um mich geht und dass es gleichzeitig etwas mit dieser Frau auf dem Foto zu tun hat. Sie …« Plötzlich hielt sie inne. »Ich glaube, da fällt mir doch noch etwas ein. Dieser Kerl hat Stephens Sachen getragen, und er war mit unserem Auto unterwegs. Und hat uns dieser Blumenhändler nicht erzählt, dass er viel Geld bei sich gehabt hat?«

»Ja, darüber habe ich auch schon nachgedacht. Ich vermute, er will dir damit zeigen, dass es ihm bei dieser ganzen Sache nicht um Geld geht.«

»Ja, aber woher hat er das Geld?«

»Du meinst, es stammt von Stephen?«

»Jedenfalls hat Stephen nie viel Bargeld mit sich herumgetragen. Das würde nur Diebe anlocken, hat er gesagt. Es wäre doch möglich, dass dieser Kerl seine Kreditkarte benutzt hat. Die Geheimzahl könnte er aus Stephen herausgepresst haben – wie all die anderen Informationen über mich.«

»Wenn es so wäre, gäbe es irgendwo eine Videoaufnahme des Geldautomaten von ihm. Das wäre allerdings ein schlagkräftiger Beweis, der auch die Polizei überzeugen könnte.«

Sarah sprang von ihrem Platz auf. »Wir müssen das herausfinden. Ich weiß auch schon, wer uns dabei helfen wird.«

52.

Sie fuhren zur Hausbank der Bridgewaters, einer Barclays-Filiale im Südosten von Forest Hill. Sarah erkundigte sich nach dem Filialleiter, und eine freundliche junge Angestellte führte sie und Mark zu seinem Büro.

Harold Bowker war ein kleiner rundlicher Mann mit dunklen wachsamen Augen. Als Sarah das Büro betrat, sprang er hinter seinem Schreibtisch auf und kam mit freudigem Lächeln auf sie zu.

»Sarah, wie schön, Sie wiederzusehen. Sie waren schon lange nicht mehr hier. Wie geht es Ihnen?«

Um sich komplizierte Erklärungen zu ersparen, erfand Sarah – mit Blick auf ihren geschienten linken Arm – eine Geschichte von einem Unfall im Haushalt, und ihr Begleiter, Mr. Behrendt, ein Freund aus Studientagen, sei so freundlich gewesen, sie zu fahren.

Harold Bowker schüttelte Mark die Hand, bedauerte Sarahs Missgeschick und verlor dann ein paar kurze Worte über den nahenden Winter. Dann bat er die beiden, Platz zu nehmen.

Sarah trug ihm ihr Anliegen vor. Sie gab vor, ihr Mann sei geschäftlich unterwegs, und man habe ihm seine Kreditkarte gestohlen.

»Oh, wie ärgerlich«, sagte Bowker und rief Stephen Bridgewaters Kundendaten auf seinem Computer auf. »Welche Karte ist es denn? Die private oder die geschäftliche?«

»Beide«, entgegnete Sarah geistesgegenwärtig. »Man hat ihm die Brieftasche gestohlen. Und auch sein Handy. Deswegen hatte er auch Ihre Nummer nicht und mich gebeten, gleich persönlich bei Ihnen vorbeizusehen.«

»Herrje, das ist der Albtraum jedes Reisenden«, sagte Bowker mitfühlend, und Sarah dachte, wie erschreckend einfach es doch war zu lügen.

»Leider kommt das inzwischen immer häufiger vor«, fuhr Bowker fort. »Ehrlich gesagt haben wir beinahe täglich mit solchen Fällen zu tun. Man kann wirklich nicht vorsichtig genug sein. Aber keine Sorge, selbstverständlich sind Sie und Ihr Mann gegen einen etwaigen Kartenmissbrauch versichert. Wir lassen die aktuellen Karten sofort sperren, und wir werden ihm umgehend neue ausstellen.«

»Könnten Sie bitte nachsehen, ob es inzwischen schon Abhebungen von seinen Konten gab?«

»Bin schon dabei«, erwiderte Bowker und überprüfte Stephens Konto. »Ja, tatsächlich. Mit seiner Visa-Karte wurden sechshundert Pfund von seinem Privatkonto abgehoben. Von dem Geldautomaten hier an unserer Filiale.«

Sarah wechselte einen vielsagenden Blick mit Mark, ehe sie sich wieder an Bowker wandte. »Diese Automaten sind doch videoüberwacht, nicht wahr?«

»Selbstverständlich«, sagte der Filialleiter. »Ich werde die Aufzeichnung umgehend auswerten lassen und sie dann der Polizei zuleiten. Aber …« Er machte eine vage Geste, als wollte er Sarahs Hoffnung damit ein wenig dämpfen. »Ich will ehrlich mit Ihnen sein, Sarah. Wie gesagt, haben wir fast täglich mit solchen Fällen zu tun, aber nur in sehr wenigen Fällen können die Täter wirklich überführt werden. Da draußen ist inzwischen eine regelrechte Kreditkartenmafia im Gange. Das braucht Sie aber nicht zu kümmern, da Ihnen der entstandene Schaden so schnell wie möglich ersetzt wird. Wegen der nötigen Formalitäten werden sich die Polizei und die Kreditkartengesellschaft dann mit Ihnen in Verbindung setzen.«

»Und Sie sind sich sicher, dass er das Geld hier an diesem Automaten geholt hat?«, fragte Sarah.

»Absolut. Jeder Automat hat seine eigene Kennung, und das hier ist die unsere.«

Erneut wechselte Sarah einen Blick mit Mark.

»Mr. Bowker, wann genau ist diese Abhebung erfolgt?«

Bowker sah noch einmal auf seinen Bildschirm. »Am Donnerstag, abends um … neunzehn Uhr dreiundzwanzig.«

Sarah fuhr erschrocken zusammen. »Harold, sind Sie sich da wirklich sicher?«

»Hundertprozentig«, sagte Bowker und sah sie stirnrunzelnd an. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«

»Ich fürchte, wir haben Sie umsonst belästigt«, sagte sie und erhob sich. Ihre Knie fühlten sich weich und zittrig an. »Bitte sperren Sie die Karten, aber die Auswertung der Videoaufzeichnungen können Sie sich sparen.«

Sie verabschiedete sich, ignorierte dabei Harold Bowkers verwunderten Blick und eilte aus dem Büro.

Nachdem sie die Bank verlassen hatten, trat Sarah an den Straßenrand und starrte auf den Nachmittagsverkehr auf der London Road. Da war es wieder, dieses unwirkliche Albtraumgefühl, dachte sie. Als ob sie in sich selbst gefangen wäre und durch ein Fenster in eine erfundene Welt hinaussah, in der virtuelle Menschen ihrem virtuellen Alltag nachgingen.

Mark trat neben sie. »Was hatte das da drin zu bedeuten?«

»Das Geld wurde am Donnerstag abgehoben«, sagte sie. »Stephen ist erst am Freitagnachmittag weggefahren, und ich war am Vormittag noch mit seiner Visa-Karte beim Einkaufen. Er muss das Geld also selbst abgehoben haben.«

»Aber hast du nicht gesagt, dass dein Mann nie viel Bargeld mit sich herumgetragen hat?«

»Eben das ist es ja. Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Was wollte Stephen mit den sechshundert Pfund?«

53.

Wieder einmal war Phoebe Grey betrunken, und wieder einmal verließ sie einen Pub allein.

Eigentlich war es ein vielversprechender Abend gewesen. Die Stimmung im Prince Albert war noch immer großartig und ausgelassen, das konnte man bis auf die Straße hören. Aber selbst im betrunkenen Zustand hatte sich keiner von den Kerlen da drinnen für sie interessiert. Gut, die meisten waren Kollegen, und einige hatten ihre Partnerinnen mit zur Adventsfeier gebracht, aber auch von den anderen männlichen Gästen hatte sie keiner auch nur wahrgenommen. Sie war sich wie eine Unsichtbare vorgekommen – eine Unsichtbare, die wegen ihrer zweihundertzwanzig Pfund schweren Statur zwar ständig angerempelt, aber dennoch ignoriert wurde.

Es war immer das Gleiche. Selbst so kurz vor Weihnachten, wenn sich Singles am einsamsten fühlten, war keiner von den Kerlen so verzweifelt gewesen, Phoebe anzubaggern.

Sie wandte sich noch einmal zum Pub um und reckte den Finger.

»Fickt euch doch selbst, ihr Spießer!«, lallte sie, dann strich sie sich ihr Kleid glatt, das sich unter ihrem Mantel verschoben hatte. Es war teuer gewesen, aber die Verkäuferin hatte ihr versichert, dass sie darin umwerfend aussähe. Nun wünschte sie diesem Hungerhaken die Pest an den Hals und betrachtete ärgerlich den Rotweinfleck auf ihrer ausladenden Brust. Sie hatte sich bekleckert, als sie den peinlichen Versuch unternommen hatte, den schüchternen, aber nicht unattraktiven Steward Porter aus der Buchhaltung in ein Gespräch zu verwickeln, ehe sie bemerkt hatte, dass seine Verlobte direkt hinter ihr stand.

Seufzend wankte sie die Warwick Avenue entlang, auf die U-Bahn-Station zu, und musste dabei an den Song von Duffy denken – über einen Kerl, den sie in die Wüste geschickt hatte, weil er ihr das Herz gebrochen hatte. Bei ihr selbst war es umgekehrt, dachte sie und seufzte noch einmal, sie wäre jedem Typen bereitwillig in die Wüste gefolgt.

Sie ging eine Reihe schmucker weiß getünchter Einfamilienhäuser entlang. In einem davon wohnte ihre beste Freundin Katherine. Leider war sie heute Abend nicht zu Hause, das wusste Phoebe, andernfalls hätte sie jetzt bei ihr geklingelt, um noch einen gemeinsamen Absacker zu trinken und über die Männer zu lästern.

Aber wahrscheinlich hätte heute nur ich gelästert, dachte sie, als sie sich Katherines Haus näherte. Sie schwebt ja schon seit einer Weile wieder auf Wolke sieben.

Nicht, dass sie ihrer Freundin dieses Glück nicht gegönnt hätte, aber ein wenig neidisch war sie doch. Katherine war das genaue Gegenteil von ihr. Schlank, hochgewachsen, mit einer atemberaubenden roten Lockenmähne – die Art von Frau, die alle Blicke auf sich zog, sobald sie einen Raum betrat. Sie war intelligent und charmant und hätte an jedem Finger zehn Kerle haben können – keine Bierleichen aus irgendwelchen Pubs, sondern wirklich nette, sympathische Männer. So musste bestimmt auch ihr Neuer sein, auch wenn Phoebe ihn bisher noch nicht getroffen hatte. Wahrscheinlich würden die beiden jetzt eng umschlungen in irgendeinem Nobelhotel von der gemeinsamen Zukunft träumen, stellte Phoebe sich vor und hoffte, dass es in dieser Zukunft auch ein wenig Platz für sie gab.

Durch den Lärm des Nachtverkehrs hörte sie plötzlich ein klägliches Miauen. Sie sah sich um. Überrascht blieb sie stehen. Die Katze saß vor Katherines Haustür.

Phoebe sah genauer hin und runzelte die Stirn.

»Pierre? Bist du das, Pierre?«

Wie zur Antwort sah der Kater sich zu ihr um und miaute erneut.

Verwundert ging Phoebe auf ihn zu. Ja, das war Katherines Kater mit dem weißen Fell und dem schwarzen Fleck auf dem Kopf, der an eine Baskenmütze erinnerte und ihm seinen Namen eingebracht hatte: Pierre le Français.

»Was machst du denn hier draußen?«

Sie sah zu den dunklen Fenstern und überlegte – was ihr nach fünf Gläsern Rotwein und einem Whiskey nicht so leichtfiel. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Pierre war doch ein Hauskater, und Katherine hätte ihn nie vor die Tür gelassen. Ich habe keine Lust, ihn irgendwann von der Straße kratzen zu müssen, hatte sie oft gesagt. Bei dem Verkehr hier wäre das nur eine Frage der Zeit.

Aber wie war er aus dem Haus gekommen? Katherine war unterwegs, und wie immer würde sie für Pierre vorgesorgt haben. Sein Trockenfutterspender reichte für mehr als eine Woche. Es war unwahrscheinlich, dass er einer Nachbarin oder Freundin entwischt war, die ihn versorgen sollte. Außerdem hätte Katherine in diesem Fall sicherlich sie gefragt, dachte Phoebe. Das tat sie immer. Sie wusste doch, wie sehr Phoebe den pummeligen Fellball mochte.

Doch beim genaueren Hinsehen schien ihr Pierre nun alles andere als pummelig. Er wirkte eher ausgehungert, und sein sonst so gepflegtes weißes Fell war struppig und grau, als hätte er bereits eine längere Zeit im Freien zugebracht.

Je mehr Phoebe nachdachte, desto seltsamer kam ihr die ganze Sache vor. Und wäre sie nicht so betrunken gewesen, wäre ihr der nächstliegende Gedanke wahrscheinlich schon viel früher in den Sinn gekommen.

Einbrecher!

Sie ging durch die Gartentür zum Haus und sah sich genauer um. Nein, da waren keine Spuren eines Einbruchs zu erkennen. Die Tür war verschlossen, und keines der Fenster war hochgeschoben oder eingeschlagen worden.

Merkwürdig.

Sie kramte ihren Schlüsselbund aus der Handtasche – wofür sie in ihrem Zustand mehr Zeit als üblich benötigte – und suchte den Zweitschlüssel zu Katherines Wohnung heraus. Dann schloss sie auf, und noch bevor sie eintreten konnte, flitzte Pierre bereits an ihr vorbei ins Innere.

Phoebe folgte ihm ins Dunkel, nur um gleich darauf erstaunt innezuhalten. Aus dem Wohnzimmer hörte sie leise Musik. R.E.M.s »Losing my Religion«, vermutlich aus dem Radio.

Ob Katherine doch schon wieder zu Hause war? Vielleicht war ihr Freund bei ihr, und die beiden hatten im Eifer des leidenschaftlichen Gefechts nicht mitbekommen, wie ihnen Pierre auf die Straße entwischt war?

Bei dieser Vorstellung entwich ihr ein nervöses Kichern, und sie sah sich suchend um, ob irgendwo auf dem Boden hastig abgestreifte Kleidungsstücke herumlagen. Katherine hatte ihr erzählt, dass ihr Neuer auf solche Quickies abfuhr, und dass sie es schon häufiger getan hatten, kaum dass sie die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatten.

»Katherine?«, rief sie in Richtung des dunklen Wohnzimmers. »Ich bin’s, Phoebe. Pierre war draußen, und ich wollte nur mal nach dem Rechten schauen. Ich werde jetzt das Licht einschalten. Sagt mir Bescheid, falls ihr da drin seid. Dann lasse ich es aus und gehe wieder.«

Wieder kicherte sie und wartete auf eine Antwort, doch außer dem Radio hörte sie nichts. Keine Stimmen. Keine hektischen Bewegungen. Niemand, der eilig nach seinen Kleidern suchte. Nichts.

Sie tastete nach dem Lichtschalter und wurde sogleich von der Wohnzimmerlampe geblendet. Phoebe blinzelte kurz, dann klappte ihr die Kinnlade nach unten, und sie stand wie versteinert da.

Entgeistert starrte sie auf den umgekippten Sessel zu ihren Füßen und auf Pierre, der auf dem Couchtisch saß und an der geronnenen Blutlache auf der Glasplatte leckte.