1.
Die Zweizimmerwohnung war muffig, beengend und düster. Das graue Licht des ersten Dezembernachmittags fand nur mühsam den Weg durch das einzige Fenster der Wohnküche. Gegenüber versperrte eine schmutzige Fassade die Sicht. Das rußgeschwärzte Mauerwerk erweckte den Eindruck, als sei die Welt jenseits des Fensters nach nur wenigen Metern zu Ende.
Wäre nicht das gedämpfte Brummen des Brixtoner Feierabendverkehrs auf der nahen Coldharbour Lane zu hören gewesen, hätte er glauben können, in diesem Wohnblock bei lebendigem Leibe eingemauert zu sein.
Ein tristes Grab.
Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Endlich hatte das Scharren und Keuchen aufgehört. Es hatte nicht lange gedauert, nur ein oder zwei Minuten, dennoch war es ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen. Diese hektischen, panischen Bewegungen im Raum nebenan. Das verzweifelte Ringen um Atem.
Doch obwohl es nun wieder ruhig war, fühlte er keine Erleichterung. Angespannt lauschte er in die Stille, ob es wirklich zu Ende war.
Dann nickte er. Ja, das Scharren war vorbei, ebenso das Keuchen, aber ab jetzt würden ihn diese Laute in seinem Kopf verfolgen – noch für lange Zeit, dessen war er sich sicher. Sie würden ihn in seinen Träumen heimsuchen, wie all die anderen Dämonen seiner Vergangenheit.
Wie das Licht jenes Frühsommermorgens, das sich in den Schaufensterscheiben gespiegelt hat. Und Amys Lächeln. Gott, wie glücklich sie an diesem Morgen gewesen ist! Und dann die entsetzten Züge des Mannes, der …
»Hör auf damit«, befahl er sich. »Hör sofort auf damit! Hast du verstanden?«
Er ballte die Fäuste. Ihm war nach Davonlaufen zumute, aber dafür war es jetzt zu spät. Also kämpfte er gegen das bleierne Gefühl in seiner Brust an, das ihm das Atmen erschwerte, und holte tief Luft, wieder und wieder.
Dann wandte er sich vom Fenster ab, ging zu dem kleinen Tisch neben dem Waschbecken in jener Ecke des Raumes, die als provisorische Küche diente, und schaltete beide Platten des Elektrokochers ein.
Während er den Topf mit Wasser füllte, vermied er, in den Wandspiegel über dem Becken zu sehen. Er konnte seinen Anblick nicht ertragen. Ganz besonders heute nicht.
Wie nicht anders zu erwarten, fand er in dem kleinen Wandregal nur billigen Tee aus dem Discounter. Gut, dass er daran gedacht hatte, einen Beutel seiner Lieblingssorte einzustecken, einen erlesenen Earl Grey, der mit Bergamotte-Öl versetzt war.
Er tat den Beutel in eine Tasse und sah im Kühlschrank nach Milch. Dort befand sich eine angebrochene Flasche, aber der Inhalt roch sauer. Also griff er wieder in seine Jacke und holte ein Päckchen Milchpulver heraus, das er vorsorglich mitgebracht hatte. Dann sah er zur offenen Schlafzimmertür.
Es war an der Zeit, zu Jay zu gehen, ehe das Wasser kochte. Allzu lange durfte er sich hier nicht mehr aufhalten, das hätte nicht seiner Routine entsprochen, aber die Tasse Tee war wichtig, sehr wichtig.
Trotz aller inneren Widerstände ging er auf die Tür zu. Das Schlafzimmer war noch kleiner als die Wohnküche. Auch hier schienen die wenigen Einrichtungsgegenstände vom Sperrmüll zu stammen oder auf Flohmärkten zusammengetragen worden zu sein. Vielleicht in Camden Lock oder in der Portobello Road. Jays altes Revier. Er hatte eine Schwäche für Flohmärkte gehabt.
Guter, alter Jay. Was hatte er ihm nur angetan?
Den größten Teil des Schlafzimmers nahmen ein altmodisches Doppelbett und ein türenloser Wandschrank ein. Er erblickte die dürren Beine des Toten schon bevor er den Raum betrat.
Jay lehnte seltsam verkrümmt gegen den Bettrahmen. Er war von der Matratze auf den Boden gerutscht, und fast sah es aus, als sei er im Sitzen eingeschlafen. Gottlob hatte er nun die Augen geschlossen, und auf seine hageren, mit weißen Bartstoppeln übersäten Zügen war ein friedlicher Ausdruck getreten. Nur die verkrampfte Haltung seiner Hände, das bläulich verfärbte Gesicht und der weiße Schaum, der ihm vom Mundwinkel troff, straften diesen Eindruck Lügen.
»Ich hatte dir doch gesagt, du sollst dich hinlegen«, murmelte er ihm zu und nahm ihm die Kopfhörer ab.
Dann griff er nach der klobigen Fernbedienung für den uralten Sanyo-Fernseher, der über dem Fußende des Bettes an einer Wandhalterung angebracht war. Er musste mehrmals auf den abgenutzten Ausschalter drücken, ehe die Bildröhre mit einem leisen Plopp-Geräusch erlosch, und es bedurfte ebenfalls mehrerer Anläufe, bis der nicht minder betagte DVD-Spieler den Film, den er Jay mitgebracht hatte, schließlich wieder ausspie.
Er hatte Jay idyllische Aufnahmen von Sommerwiesen, Berglandschaften, Wäldern und Flüssen ausgesucht, untermalt von Edvard Griegs »Morgenstimmung« und Vivaldis »Frühling«. Und da er gewusst hatte, dass die Lautsprecher des Fernsehers längst nicht mehr richtig funktionierten, hatte er Jay eigens Kopfhörer dafür besorgt.
Jay hatte klassische Musik geliebt, und er hatte ihm etwas Schönes mit auf den Weg ins Jenseits geben wollen.
Auch wenn die Bilder auf dem alten Monitor einen Stich ins Violette gehabt hatten, schien Jay der Film gefallen zu haben. Zumindest hatte er anfangs gelächelt.
Doch dann war alles schiefgelaufen. Die Dosis der Injektion musste zu gering gewesen sein. Er musste sich verschätzt haben, immerhin hatte er so etwas noch nie zuvor getan.
Statt friedlich einzuschlafen, war Jay nach kurzer Zeit von heftigen Krämpfen geschüttelt worden. Das Lächeln war schlagartig von seinem Gesicht verschwunden, und er hatte zu zucken begonnen. Mit weit aufgerissenen Augen hatte er sich an die Kehle gegriffen und verzweifelt nach Luft geschnappt.
»Leg dich wieder hin«, hatte er ihm zugerufen. »Leg dich einfach hin!«
Doch Jay hatte ihn wegen der Kopfhörer nicht hören können. Zwar hatte er versucht, sie sich vom Kopf zu reißen, doch es war ihm nicht gelungen, weil er viel zu sehr damit beschäftigt gewesen war, Luft zu bekommen. Immer wieder hatte er am Kragen seines Flanellhemdes gezerrt und dann wie wild zu strampeln begonnen. Seine zerschlissenen Pantoffeln waren durch die Luft geflogen, und seine Wollsocken hatten auf dem Veloursteppich gerieben, als habe er vor, in aller Eile ein Loch in den Boden zu scharren.
Er war vor Jay zurückgewichen, hatte ihm hilflos zugesehen, und schließlich hatte er den Anblick nicht mehr ausgehalten. Dieses Scharren war unerträglich gewesen. Dieses Keuchen, das fast wie ein Wimmern geklungen hatte. Dieser Ausdruck in Jays Augen, diese Panik, diese Angst …
Wie sehr wir uns doch davor fürchten, loszulassen.
Er hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und war aus dem Schlafzimmer gelaufen.
Dann hatte er in dem kleinen Wohnzimmer gewartet, den Blick starr aus dem Fenster auf die Mauer gerichtet, und hatte um seinen einzigen Freund geweint, der nebenan qualvoll starb.
Aber nun war es endlich vorbei, und der erste Schritt war getan.
Er steckte die DVD und die Kopfhörer in eine Plastiktüte, die er ein paar Straßen weiter in einer Mülltonne entsorgen würde. Das Etui mit dem Injektionsbesteck schob er in die Innentasche seiner Jacke zurück. Er würde es mindestens noch einmal brauchen.
Dann bückte er sich und hob Jay auf das Bett zurück. Auch wenn der schlaffe Körper des Alten kaum mehr als hundertzwanzig Pfund wog, fühlte er sich unendlich schwer an.
»Es tut mir leid, alter Junge«, flüsterte er. »So war es nicht geplant. Aber jetzt hast du’s ja hinter dir. Das hast du dir doch gewünscht.«
Seufzend ging er nach nebenan, wo unterdessen das Wasser kochte. Er goss die Tasse auf, schüttete den Rest des Wassers ins Waschbecken und reinigte den Topf gründlich von seinen Fingerabdrücken, ehe er ihn mit dem Spüllappen umfasste und in die Ablage unter dem Tisch zurückstellte.
Dann starrte er wieder aus dem Fenster auf die Mauer und nippte an dem Tee. Auch wenn er auf richtige Milch verzichten musste, hatte er das Gefühl, noch nie einen köstlicheren Tee getrunken zu haben.
Liegt wohl daran, dass es mein letzter ist, dachte er.
Zukünftig würde er Tee nicht mehr mögen. Stattdessen würde er ab sofort Kaffee trinken – vorzugsweise kolumbianischen Arabica, schwarz mit ein wenig Zucker. Und das war nur eines von sehr vielen Details seiner Metamorphose.
Nachdem er ausgetrunken hatte, wusch er auch die Tasse ab, rieb sie übergründlich mit Jays einzigem Geschirrtuch trocken und stellte sie zu dem Kochtopf.
Ich habe den ersten Schritt getan, dachte er wieder. Nun war es an der Zeit für den nächsten.
Für einen kurzen Augenblick schloss er die Augen und bereitete sich auf das vor, was nun folgen würde. Er machte sich noch einmal deutlich, dass sein Plan richtig war.
Er würde nichts Falsches tun, ganz im Gegenteil. Was er vorhatte, würde eine Welt verändern. Nicht die ganze Welt, eher einen Mikrokosmos. Aber hieß es nicht, dass man im Kleinen beginnen musste, wenn man Großes erreichen wollte?
Er rollte das Geschirrtuch zusammen und schob es sich zwischen die Zähne. Dann konzentrierte er sich mit aller Kraft auf den feuchten modrigen Geschmack des Stoffes.
Sein Herz schlug wild, und etwas tief in ihm schien sich wehren zu wollen. Er hatte Angst, aber das war auch gut so. Diese Angst würde ihn weiter antreiben. Sie war seine Motivation, nicht aufzugeben und die Verwandlung zu vollziehen. Wenn er sein Ziel erreichen wollte, musste er sich selbst aufgeben, ganz gleich, wie sehr er sich davor fürchtete.
Mit diesem Bewusstsein biss er fester auf den Stoff. Dann presste er die Fingerkuppen auf die rot glühenden Platten des Kochers.