54.
Mark hatte wieder im Studentenwohnheim übernachtet. Dank Somervilles Ausweis konnte er das Zimmer noch für eine Weile behalten, und das war gut so. Ein Hotelzimmer hätte er sich nicht lange leisten können.
Am nächsten Vormittag traf er sich wie verabredet mit Sarah am Eingang der U-Bahn-Station des Piccadilly Circus. Mark hatte sich neben einem Zeitungsstand postiert und trank heißen Kaffee aus einem Plastikbecher. Den Kragen seiner Jacke hatte er hochgeschlagen gegen den frostigen Wind.
Um ihn herum pulsierte das Stadtleben. Menschen eilten an ihm vorbei, beladen mit Einkaufstüten und Paketen. Der stahlgraue Himmel schickte erste Schneeflocken herab, und ein überdimensionaler Santa Claus verkündete von einem Plakat, dass es höchste Zeit sei, die Welt der unendlichen Geschenkideen bei Selfridges zu entdecken. Daneben blinkte ein neonfarbener Schriftzug auf einem Plastikweihnachtsbaum von der Größe eines Elefanten. Der Countdown läuft.
Wie treffend, dachte Mark in einem Anflug von Zynismus. Mit jedem Tag, den Stephen Bridgewater in den Händen seines Entführers verbrachte, würde seine Überlebenschance geringer werden. Denn da es diesem Unbekannten offensichtlich nur um Sarah ging, zweifelte Mark daran, dass er sich um das Wohl seines Gefangenen groß kümmerte.
Wenn er denn überhaupt gefangen und nicht längst umgebracht und irgendwo verscharrt war.
Er entdeckte Sarah, die durch die Menschenmenge auf ihn zukam. Sie sah bleich und erschöpft aus, auch wenn sie versucht hatte, ihre Augenringe mit Make-up zu kaschieren. Ihre Wangen wirkten eingefallen, und ihr heller Mantel flatterte im Wind, als sei er ihr zu groß geworden. Bestimmt hatte sie auch letzte Nacht kein Auge zugetan.
»Okay«, sagte sie, als sie bei ihm angekommen war. »Bringen wir es hinter uns.«
Ihr Plan war einfach. Da der Unbekannte nichts von Mark wusste – so hofften sie jedenfalls –, würde Mark ihr bis zum Café folgen und dort neben dem Eingang warten. Sarah würde mit dem Mann sprechen. Anschließend würde Mark ihm folgen, in der Hoffnung, dass er ihn zu dem Versteck führte, in dem er Stephen gefangen hielt. Dann konnten sie die Polizei verständigen.
Die letzte Station bis Charing Cross fuhren sie getrennt. Mark ließ Sarah einen knappen Vorsprung und folgte ihr dann durch den Ausgang an der Duncannon Street, die zur Rückseite der Kirche St. Martin-in-the-Fields führte.
Als Sarah vor dem unscheinbaren Eingang zur Krypta angekommen war, blieb sie kurz stehen. Sie musste sich sammeln und all ihren Mut zusammennehmen. Dann stieg sie die Treppe hinab, ohne sich noch einmal umzusehen.
Mark stellte sich in den Windschatten einer Telefonzelle unweit des Eingangs und wartete. So unauffällig wie möglich beobachtete er die Passanten und hielt nach einem Mann mit vernarbtem Gesicht Ausschau. Dabei umklammerte er das Handy in seiner Jackentasche und war im Geiste bei Sarah.
Warum hatte dieser Mann sie ausgerechnet hierher bestellt? Was führte er im Schilde?
Über ihm schlug die Kirchturmglocke zwölfmal.
55.
Auf der Treppe zur Krypta musste Sarah sich am Geländer festhalten. Ihr war vor Aufregung und Erschöpfung schwindlig. Sie hatte in der letzten Nacht schlechter geschlafen denn je. Am Morgen hatte sie sich gezwungen etwas zu essen, aber sie hatte fast nichts hinunterbekommen.
Vorsichtig ging sie weiter, Stufe um Stufe, während Menschen an ihr vorbeidrängten, schwatzend, lachend.
Sarah zitterte, und ihre Knie fühlten sich an, als wollten sie ihr jeden Augenblick den Dienst versagen. Sie war schweißgebadet und musste an jenen Moment zurückdenken, als sie vor ihrer Bürotür gestanden und die Türklinke angestarrt hatte. An die namenlose Angst, die es ihr unmöglich gemacht hatte, das Büro zu betreten. An ihre Phobie, ihre Versagensangst.
Wie damals befand sie sich auch jetzt auf dem Weg zu einem vertrauten Raum, der sich in eine Bedrohung verwandelt hatte. Doch dieses Mal gelang es ihr weiterzugehen. Dieses Mal hatte die Bedrohung ein konkretes Gesicht, und es ging um weit mehr als nur um sie selbst.
Dieses Mal blieb ihr keine Wahl, als sich ihrer Phobie zu stellen.
Noch bevor sie den Fuß der Treppe erreicht hatte, schlug ihr der vertraute kühle Hauch von Stein entgegen, vermischt mit den Gerüchen nach Küche, Kaffee und Backwaren. Sie würgte, hielt den Atem an und versuchte, den säuerlichen Geschmack in ihrem Mund zu ignorieren. Sie schloss für einen Moment die Augen, atmete tief durch und ging dann weiter.
Das Café in der Krypta war ein beliebter Anlaufpunkt für Londoner und Touristen gleichermaßen, und wie schon während Sarahs Studentenzeit, wenn sie sich hier mit ihren Freundinnen getroffen hatte oder später mit Stephen, waren die Tische zur Mittagszeit voll besetzt. Lautes Stimmengewirr hallte unter der Bogendecke des großen Gewölbes wider. Die etlichen breiten Pfeiler machten es unmöglich, alle Tische zu überblicken, sodass Sarah keine Wahl blieb, als durch die Reihen zu gehen und nach dem Mann mit dem Narbengesicht Ausschau zu halten.
Es war ein idealer Ort, um in der Menschenmenge unterzutauchen, dachte sie. Hier würde er niemandem auffallen und konnte jederzeit schnell wieder verschwinden.
Sie zog ihr Handy aus der Manteltasche und überprüfte den Empfang. Drei Striche auf einer Skala von fünf, das genügte. Sie verspürte einen Anflug von Erleichterung. Selbst wenn der Unbekannte sich plötzlich wieder aus dem Café entfernte, konnte sie Mark erreichen und ihn vorwarnen.
Sarah ging weiter an den Tischen entlang. Sie versuchte sich zu konzentrieren. Gleich würde sie dem Unbekannten begegnen. Sie durfte keinesfalls den Kopf verlieren. Alles hing davon ab, dass sie endlich den Plan des Narbenmannes durchschaute.
Warum bestellte er sie ausgerechnet hierher?
Woher wusste er, dass sie hierhergegangen war, um mit Stephen ihren neuen Job im Verlag bei einem Jazzkonzert zu feiern?
Was musste er Stephen angetan haben, damit er ihm davon erzählt hatte?
Oder täuschte sie sich darin ebenso wie mit dem vermeintlichen Missbrauch von Stephens Kreditkarte?
Wieder einmal fuhren die Gedanken in ihrem Kopf Karussell, ohne zu einem Ergebnis zu führen, während sie von Tisch zu Tisch ging und in fremde Gesichter starrte.
Dann plötzlich tippte ihr jemand auf die Schulter, und sie fuhr erschrocken herum.
»Hallo, Sarah, wie schön, dich zu sehen!«
Nora Scanlon, ihre ehemalige Chefin, lächelte sie an, öffnete die Arme und drückte sie an sich.
Für einen Moment war Sarah viel zu perplex, um irgendetwas zu erwidern. Sie löste sich aus der Umarmung und starrte die Verlegerin an, als sei sie ein Wesen aus einer anderen Welt.
»Oh, Nora! Es tut mir leid, aber …«
»Es tut dir leid?« Nora hob eine Braue.
»Nein, ich meine, schön, dich zu sehen, Nora, es ist nur …«, stammelte Sara, während sie sich weiter umsah. Der Unbekannte war nirgends zu sehen.
»Komm schon, Liebes«, sagte Nora und zeigte zu einem kleinen Tisch neben einem der Pfeiler. »Ich sitze dort drüben, es ist sogar noch ein zweiter Stuhl frei.«
»Ich … Es tut mir wirklich leid, Nora«, brachte Sarah hervor und sah auf die Wanduhr. Es war bereits zehn Minuten nach zwölf. »Ich bin verabredet.«
»Ja, ich weiß«, entgegnete Nora und legte besorgt die Stirn in Falten. »Geht es dir nicht gut, Liebes? Du bist ja ganz durcheinander. Ist etwas nicht in Ordnung?«
Sarah stutzte. »Was soll das heißen? Du weißt, dass ich hier verabredet bin?«
»Na, Howard hat es mir erzählt.«
»Howard?«
»Ja, ich soll dich herzlich von ihm grüßen. Er ist leider verhindert, sonst wäre er gern mitgekommen. Oder sollte dieses Treffen etwa ein Geheimnis zwischen euch beiden sein?« Nora stieß ein Lachen aus, das halb verwundert, halb amüsiert klang. »In letzterem Fall sollte ich dich vorwarnen. Die Zeiten meines Gatten als romantischer Herzensbrecher sind längst vorüber. Heute muss ich froh sein, wenn er vor dem Küssen die Zahnprothese aus dem Glas nimmt.«
Sarah sah sie konsterniert an. »Nora, wovon, um alles in der Welt, redest du?«
Nora Scanlons Lächeln erstarb. »Wie bitte? Ich verstehe nicht. Du hattest Howard doch hierherbestellt.«
»Ich habe was?«
»In deiner letzten Mail an Howard«, sagte Nora, und nun klang sie ernsthaft besorgt. »Deswegen sind wir doch hier. Du wolltest ihn unbedingt sprechen, aber er hielt es für besser, wenn ich zu diesem Treffen mitkomme. Das ist doch in Ordnung für dich, oder?«
Sarah schüttelte sich, als hätte man einen Eimer Wasser über ihr ausgegossen. »Eine Mail? Was für eine Mail denn?«
»Du … du weißt nichts von dieser Verabredung?«
»Um Himmels willen, nein«, entgegnete Sarah, aber dann verstand sie doch. »Was genau stand in dieser Mail?«
Etwas schien in Nora Scanlons Augen aufzublitzen. »Aha, ich verstehe. Komm, setzen wir uns. Wir sollten uns unterhalten.«
56.
»Ehrlich gesagt, war ich schon ein wenig verwundert, dass du dich an Howard gewandt hast«, sagte Nora und rührte in ihrem Suppenteller. »Aber wenn Stephen ihm diese Mails in deinem Namen geschickt hat, erklärt das natürlich alles. Schließlich weiß er, dass wir miteinander in Kontakt stehen. So konnte er sicher sein, dass du dich mit uns treffen wirst. Er hofft wohl, dass es mir gelingen wird, dich zu überreden.«
»Mich zu überreden?«, wiederholte Sarah und hielt sich mit beiden Händen an der Tischkante fest. »Wozu sollst du mich denn überreden?«
»Nun, überreden ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck«, sagte Nora und schob ihren Teller beiseite. »Überzeugen würde es wohl besser treffen. Du solltest wieder bei uns anfangen. Komm in den Verlag zurück, Liebes. Ich habe mit Howard darüber gesprochen, und wir sind uns einig. Wir brauchen dich.«
»Ging es darum in der Mail-Korrespondenz?«
Nora nickte. »Du, das heißt vielmehr dein Ehemann … nun, er hat Howard alles erklärt. Über den Burn-out und die Ängste, die dich blockiert haben. Wir waren von dieser Offenheit sehr beeindruckt und möchten dir versichern, dass wir einen Weg finden werden, damit so etwas nie wieder vorkommt.«
»Das hat er euch geschrieben?«
Nora griff über den Tisch nach ihrer Hand. »Sarah, Liebes, du darfst deinem Mann deswegen auf keinen Fall böse sein. Es war richtig, was er getan hat. Wir beide kennen uns schon so lange, und mir ist klar, dass du dich für deine Ängste schämst. Das dachte ich mir damals schon, als du mir deine Kündigung gegeben hast. Du hättest mir nie persönlich davon erzählt, weil du nach außen hin immer die Starke sein willst.«
Sarah schauderte. »Was hat er euch über meine Ängste geschrieben?«
»Mach dir keine Sorgen, es bleibt ja unter Freunden.« Nora drückte wieder ihre Hand. »Du wirst nicht versagen, Sarah, davon bin ich überzeugt, und ich werde dir helfen, wo immer ich kann, bis du wieder völlig sicher im Sattel sitzt. Ich habe mich riesig gefreut, als mir Howard deine Mails gezeigt hat. Auch wenn sie nicht von dir gewesen sind.« Sie zwinkerte Sarah zu. »Du hast einen großartigen Mann, Liebes. Er muss dich wirklich sehr lieben.«
57.
Er musste mehrmals klopfen und befürchtete schon, es sei niemand zu Hause, als er eine Stimme hinter der Tür rufen hörte.
»Sachte, sachte! Lass die Tür ganz, ich komm ja schon!«
Schlurfende Schritte näherten sich, die Sicherheitskette wurde vorgeschoben, und Simons zerknittertes Gesicht erschien im Türspalt.
»Ach du bist’s. Ziemlich früh, Mann. Ich hab noch geschlafen.«
»Es ist nach zwölf.«
»Was du nicht sagst.«
»Hast du sie?«
Simon seufzte, rieb sich über sein stoppeliges Kinn und nickte. »Ja, ja, komm rein.« Er schob die Kette beiseite und öffnete die Tür. »Warum hast du’s eigentlich so verdammt eilig damit?«
»Ich habe meine Gründe«, entgegnete er und betrat die Wohnung. Ihn empfing ein Gemisch aus Dopegeruch und Räucherstäbchen. »Hast du die Datei gelöscht?«
Simon gähnte und kratzte sich im Schritt. Er trug nur ausgewaschene Boxershorts und ein schwarzes T-Shirt mit einem weißen Peace-Zeichen. Seine dürren, bleichen Beine erinnerten an Hühnerknochen. »Ja, Mann. Alles, was sie über dich gespeichert hatten ist jetzt im Daten-Nirwana.«
»Komplett?«
»Klar, ich hab’s dir doch versprochen.«
Damit drehte Simon sich um und schlurfte zur Küchenzeile.
Er folgte Simon durch den schmalen Flur. Die Tür zum einzigen Zimmer neben dem Wohnschlafraum stand offen, und er blieb verwundert stehen. Die Wohnung war schäbig, von den Wänden hingen Tapetenfetzen, die notdürftig von Simons Postern zusammengehalten wurden, doch dieser Raum war anders. Hier herrschte penible Ordnung. Das Bett war gemacht, die Wände waren rosafarben gestrichen, und auf einem Wandregal reihten sich Kinderbücher und Teddybären, als hätte man ihre Plätze mit dem Lineal vermessen. Das einzige Bild im Raum hing über dem Bett. Es war ein gerahmtes, mit Plastikblumen verziertes Foto, das ein kleines Mädchen mit seiner Mutter zeigte. Dem Kleidungsstil der beiden nach, musste das Foto in den späten Achtzigern aufgenommen worden sein.
»Wo ist Bethany?«
»In der Selbsthilfegruppe. Ich mach mir ’n Tee, willst du auch einen?«
Er ging zu Simon, der am Esstisch mit einem uralten Wasserkocher hantierte. »Nein danke. Ich verschwinde gleich wieder.«
»Dann eben nicht.« Simon setzte sich auf einen der beiden wackeligen Küchenstühle und drehte sich eine Zigarette. »Ich brauch jetzt jedenfalls mein Frühstück.«
»Gib mir einfach die Akte, und ich bin wieder weg. Hier ist dein Geld.«
Er legte den Umschlag auf den Tisch. Simon schob sich zuerst die Selbstgedrehte in den Mundwinkel und zündete sie an, ehe er danach griff. Er sah hinein, fuhr mit dem Daumen über die Geldscheine und grinste.
»Wow, John! Das fühlt sich richtig gut an. Richtig gut, Mann. Aber …«
Er sprach nicht weiter. Stattdessen machte er eine übertriebene Geste des Bedauerns, legte den Umschlag auf den Tisch zurück und schickte eine Rauchwolke zur Decke.
»Was?«
»Na ja, John, ich denke, wir sollten uns noch einmal unterhalten.«
Er sah auf seinen Umschlag und seufzte. »Simon, was soll das? Wir hatten eine Abmachung.«
Simon schürzte die Lippen, legte den Kopf schief und musterte ihn. »Du siehst nicht gut aus, John. Du schwitzt und bist blass wie eine Leiche. Und deine Augenränder … Nein, wirklich nicht gut. Offen gesagt, siehst du sogar richtig scheiße aus. Ist wohl schlimmer geworden, was?«
»Worauf willst du hinaus, Simon?«
»Wir sind doch richtig gute Freunde, oder? Ich meine, wir sind uns immerhin ziemlich nahegekommen. Ich hab dir den Arsch abgewischt, als es dir so richtig dreckig ging. Ich war immer für dich da. Bei deiner ersten Chemo, als du mich vollgekotzt hast, haben wir Witze darüber gemacht. Und du hast gesagt, dass du schon lange nicht mehr so gelacht hast. Weißt du noch?«
»Ja, und dafür bin ich dir auch sehr dankbar.«
Simon kniff die Augen zusammen und stieß Rauch durch die Nase aus. »Ach ja, John? Bist du das? Warum belügst du mich dann?«
»Ich habe dich nicht belogen.«
»O doch, John, das hast du. Du hast uns alle belogen. Du nennst dich John Reevyman, aber das ist nicht dein richtiger Name.« Der Wasserkocher schaltete sich ab, und Simon stand auf. Er goss das kochende Wasser in eine Tasse, die eine Karikatur von Prinz Charles darstellte – die beiden Ohren fungierten als Henkel. Dann wandte er sich wieder ihm zu. »In der Klinik ist das wohl keinem außer mir aufgefallen. Interessiert ja auch niemanden, solange du nur deine Rechnungen bezahlst. Aber Reevyman … John, ich bitte dich, so heißt doch kein Mensch. Ich hätte bei dir etwas mehr Einfallsreichtum erwartet.«
Simon sah ihn neugierig an, ob er auf seine Provokation reagierte. Natürlich tat er das nicht. Er hatte viel zu viele Demütigungen in seinem Leben über sich ergehen lassen müssen, um sich von jemandem wie Simon aus der Ruhe bringen zu lassen. Das Einzige, was ihn wirklich schmerzte, war die Enttäuschung. Er hätte nie gedacht, dass der Junge so ein Arschloch sein könnte.
Simon grinste wissend und zwinkerte ihm zu. »Weißt du, John, man muss kein großer Gehirnakrobat sein, um das Anagramm zu entschlüsseln. Ich meine, es liegt doch auf der Hand. Reevyman. Everyman. Ziemlich treffend, wenn man deine Vorgeschichte kennt.«
»Und? Soll ich dir jetzt gratulieren?«
Simon drückte seine Kippe auf einem Unterteller aus, packte Prinz Charles bei den Ohren und nahm einen Schluck Tee. Dann grinste er wieder. »Willst du wirklich keinen Tee, John?«
»Komm endlich auf den Punkt!«
»Also gut.« Simon stellte die Tasse auf den Tisch zurück. »Ich weiß, wer du wirklich bist, John. Jay hat es mir verraten. Du darfst ihm deswegen aber nicht böse sein. Als er es mir erzählt hatte, schwebte er noch halb im Narkosehimmel. Du bedeutest ihm viel, John. Seid ihr immer noch Freunde, oder hat er es inzwischen hinter sich? War jedenfalls keine schlaue Entscheidung von ihm, sich selbst zu entlassen und vorzeitig nach Hause zu gehen.«
»Sag mir endlich, was du zu sagen hast!«
Simon grinste und fuhr wie geistesabwesend mit der Fingerspitze an einem der Henkelohren auf und ab. »Jedenfalls warst du Jays erster Gedanke, als er damals nach seiner OP aufgewacht ist. Zuerst habe ich gar nicht kapiert, nach wem er ruft, aber dann habe ich eins und eins zusammengezählt. Ich habe Jay gefragt, und er, benebelt wie er war, hat mir meine Vermutung bestätigt. Tja, solche Dinge passieren.«
»Okay, Simon, warum erzählst du mir das alles?«
»Wir sind Freunde, John, und Freunde sind immer füreinander da. Ich habe dir geholfen und viel dabei riskiert. Wie wär’s, wenn du mir noch etwas mehr entgegenkommen würdest? Du hast doch selbst gesagt, dass Geld für dich keine Rolle mehr spielt.«
Er schüttelte den Kopf und sah Simon vorwurfsvoll an. »Du willst mich erpressen?«
»Nicht doch!«, protestierte Simon mit künstlicher Entrüstung. Er griff nach seinem Tabak und begann, sich eine weitere Zigarette zu drehen. »Ich würde es eher als einen Appell an deine Großzügigkeit bezeichnen. Sieh mal, John, du würdest es ja nicht nur für mich tun. Denk an Beth …«
»Ich habe dich gut bezahlt, Junge.« Das Pochen in seinen Schläfen wurde schlimmer. »Wenn ihr euch das Geld einteilt, kommt ihr eine ganze Weile damit über die Runden.«
»Ja, Mann, du hast dich wirklich nicht lumpen lassen. Aber Beths Therapie kostet eine verdammte Stange Geld. Deshalb mache ich dir ein Angebot. Du verdoppelst den Preis, bekommst die Akte, und wir sind quitt. Was hältst du davon?«
Wieder seufzte er. »Denk noch einmal darüber nach, Simon. Du nutzt meine Situation aus. Wenn wir wirklich Freunde wären, würdest du das nicht tun.«
Simon lachte auf und schüttelte den Kopf, dass ihm seine blonden Dreadlocks ins Gesicht fielen. »Mal ganz im Ernst, John, bist du wirklich so naiv?«
»Mag sein, dass ich naiv bin«, sagte er und rieb sich die schmerzenden Schläfen, »aber du bist dumm, Simon. Ich will dir eine faire Chance geben. Das Geld, das ich dir freiwillig zahle, würde ausreichen, um deine illegalen Geschäfte lassen zu können. Du unterstützt deine Schwester in ihrer Therapie, suchst dir einen anderen Job und ziehst von hier weg. Das wäre ein ehrlicher Neuanfang für dich. Wenn du mich jetzt aber erpresst, bist du nicht mehr als ein unglaubwürdiger kleiner Gauner.«
Simons Grinsen verschwand. Er zog nervös an seiner Zigarette. »Ich will dir mal was über Gauner sagen, John. Das sind Leute wie du und dein Vater. Er hat seine Arbeiter jahrzehntelang ausgebeutet, dann hat er seine Firma aufgegeben und dir ein dickes Vermögen hinterlassen. Du hast nie für Geld den Buckel krumm machen müssen. Und jetzt schau dich an. Du hast nicht mehr lange, das sieht sogar ein Blinder. Also, was willst du noch mit deiner Kohle? Dir einen vergoldeten Sarg kaufen? Du könntest wirklich etwas Gutes damit tun, indem du uns hilfst. Das wäre …« Simon brach ab, dann sprang er auf und zeigte mit seiner Kippe auf ihn. »Scheiße, Mann, deine Nase!«
Er fasste sich ins Gesicht, und als er die Hand zurücknahm, war sie voller Blut.
Simon schnappte sich ein Geschirrtuch und hielt es ihm hin. »Hier, bevor du alles versaust.«
Er presste sich das Tuch aufs Gesicht und versuchte sich zu beruhigen. Die Aufregung hatte seinen Blutdruck in die Höhe getrieben. Das konnte gefährlich werden. »Kann ich dein Badezimmer benutzen?«
»Von mir aus.« Simon verdrehte genervt die Augen und zeigte zu der Tür neben dem Eingang. »Aber mach danach wieder sauber.«
»Ja, klar.«
Er ging über den Flur zum Badezimmer und schloss die Tür hinter sich. Dort befeuchtete er ein Handtuch, legte es sich in den Nacken und schloss die Augen.
Er musste eine Entscheidung fällen.
58.
Als Sarah die Krypta verlassen hatte, wirkte sie wie ausgewechselt. Mit zügigen Schritten ging sie auf die Telefonzelle zu, hinter der Mark auf sie wartete.
»Er ist nicht gekommen. Alles Weitere bei mir zu Hause«, raunte sie ihm zu. Dann eilte sie weiter zur Charing-Cross-Station. Offensichtlich befürchtete sie, dass sie beobachtet würden. Mark wartete daher einen Moment, bevor er sich ebenfalls auf den Weg machte.
Als sie schließlich nach zweimaligem Umsteigen Forest Hill erreichten, strebte Sarah ihrem Haus zu, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen. Mark hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten.
»Sarah, warte doch!«, rief er ihr nach, als sie hastig die Haustür aufschloss und die Alarmanlage im Flur deaktivierte. »Mein Gott, Sarah, was war da los?«
Sie drehte sich zu ihm um. Ihr Gesicht war gerötet, ihr Atem ging heftig.
»Mir ist jetzt klar, woher er all diese persönlichen Dinge über mich weiß«, sagte sie schließlich. »Stephen wusste zwar, dass ich unter einer Angsterkrankung leide, aber er kannte den Grund nicht. Ich wollte es ihm nicht sagen. Und er wusste auch nicht, dass ich darüber nachgedacht hatte, in den Verlag zurückzukehren. Nora … meine Chefin, sie hat es mir immer wieder angeboten, aber ich hatte mich dann doch nicht getraut, sie zu fragen, weil ich mich für meine Phobie geschämt habe. Aber auch darüber hatte ich mit niemandem gesprochen, nicht einmal mit Gwen. Dieser Kerl kann es also nicht von Stephen wissen. Niemand kann es wissen, außer …«
Sie sprach nicht weiter, wandte sich von ihm ab und rannte die Treppe hoch. Mark lief ihr hinterher ins Schlafzimmer, wo Sarah auf Knien hockte und die unterste Schublade einer alten Tudor-Kommode herauszog. Sie riss so ungeduldig an ihr, dass sich die Lade verkantete. Mit einem Fluch stieß sie sie zurück und riss sie erneut heraus.
»Was hast du da?«
Mark war zu ihr getreten. Die Schublade war mit mehreren Stapeln Notizbüchern gefüllt. Er hockte sich neben sie. Auf den weißen Etiketten der Einbände waren Jahreszahlen notiert. Es mochten mindestens fünfundzwanzig Stück sein.
»Meine Tagebücher«, sagte Sarah, nahm das mit der Jahrszahl 2012 heraus und blätterte es durch. Plötzlich hielt sie inne und riss die Augen auf.
»Ich wusste es!«, stieß sie hervor. »Dieses gottverdammte Schwein!«
Sie zog ein weiteres heraus, blätterte ebenfalls darin, dann hielt sie es Mark hin. »Er hat meine Tagebücher gelesen!«
Mark starrte auf die aufgeschlagenen Seiten und erkannte sofort, was sie meinte. An einigen Stellen waren Sarahs sorgfältig geschriebene Zeilen mit Rotstift unterstrichen worden.
»Das war er«, zischte sie, und in ihrer Stimme lag all ihre Wut und Verachtung für dieses unerhörte Eindringen in ihre geheimsten Gedanken. »Er hat die Sätze angestrichen, weil er will, dass ich es weiß.«
Sie blätterte wahllos in den übrigen Tagebüchern. Dann warf sie sie plötzlich in die Schublade zurück, als hätte sie sich die Finger an ihnen verbrannt.
»Er hat sie alle gelesen, Mark! Alle!«
59.
Als er aus dem Badezimmer kam, saß Simon wieder auf dem Küchenstuhl. Er hatte sich in der Zwischenzeit eine abgetragene Jogginghose angezogen. Nun leckte er über ein Zigarettenpapier und sah zu ihm auf.
»Na, wieder besser?«
Er nickte und blieb neben dem Spülbecken stehen, in dem sich das Geschirr von Tagen türmte.
Simon strich sich seine Dreadlocks aus dem Gesicht, zündete die Selbstgedrehte an und stieß den Rauch durch die Nase aus. »Und, wie sieht’s aus, John? Hast du es dir überlegt?«
»Ich will zuerst die Akte sehen.«
»Wozu?«
»Ich will sichergehen, dass du sie auch wirklich hast.«
»John, John, John.« Simon schüttelte missmutig den Kopf. »Für wie dämlich hältst du mich? Glaubst du ernsthaft, ich wedle jetzt mit der Akte vor deiner Nase herum, damit du mir eins überbraten und damit abhauen kannst?«
»Sehe ich aus, als wäre ich dazu noch in der Lage?«
Er nahm ein zerknülltes Stück Toilettenpapier aus der Hosentasche und tupfte sich damit den Schweiß von der Stirn. Seine Hand zitterte. Die Kopfschmerzen waren wieder unerträglich geworden.
Simon sah ihn lange an. Schließlich stand er seufzend auf.
»Mann, du bist echt am Ende, was? Also schön, ich zeig dir die beschissene Akte. Aber ich will erst die Kohle, sonst läuft hier gar nichts. Kapiert?«
»Kapiert.«
»Okay, ich hol sie. Und du rührst dich nicht von der Stelle.«
»Versprochen.«
Simon ging in Bethanys Zimmer. Man konnte hören, wie er in einem Karton wühlte. Dann kehrte er zu ihm zurück und zeigte ihm die Akte, wobei er einen gebührenden Abstand zwischen ihnen einhielt.
»Zufrieden, John? Glaubst du mir jetzt, dass ich dich nicht verarsche?«
Er betrachtete den Kartonumschlag, auf dem der Name John Reevyman unter dem Kliniklogo aufgedruckt war, dann nickte er.
»Gut«, sagte Simon. »Bring mir das Geld, und sie gehört dir. Und jetzt würde ich gern in Ruhe meinen Tee trinken.«
Er wandte sich zum Gehen, blieb jedoch an der Wohnungstür noch einmal stehen. »Eins sollst du noch wissen, Simon. Ich bin wirklich enttäuscht von dir.«
»Ich dachte, gerade du müsstest wissen, dass es im Leben nicht immer fair zugeht«, entgegnete Simon. »Tut mir ehrlich leid, Mann.«
»Nein, Simon, es tut dir nicht leid. Aber mit zwei Dingen hast du recht.«
»Ach ja? Und womit?«
»Dass die Welt nicht fair ist, und dass ich einen Fehler gemacht habe. Einen großen Fehler. Ich habe dich falsch eingeschätzt.«
Sie musterten sich schweigend, und er konnte sehen, wie es in Simons Gesicht arbeitete. Dann sprang der Krankenpfleger plötzlich auf und kam auf ihn zu.
»Schluss jetzt, John! Verschwinde und hol das Geld. Und ich kann dir nur raten, dass du dich danach nie wieder bei mir blicken …«
Noch bevor Simon ausgesprochen hatte, riss er die Spritze aus seiner Jackentasche. Er stach zu und drückte den Kolben bis zum Anschlag nieder.
Simon schrie auf, wich erschrocken zurück und fasste sich an den Bauch. »Scheiße! Verdammte Scheiße! Was hast du mir gespritzt, Mann?«
»Du hast mir keine andere Wahl gelassen, Simon«, sagte er mit tonloser Stimme. »Ich weiß nicht, wie es bei einem Gesunden wirkt, aber es wird nicht lange dauern, das kann ich dir versprechen.«
»O nein, Scheiße«, wimmerte Simon und hielt torkelnd auf sein Handy zu, das neben einer zerknüllten Fish-&-Chips-Tüte auf dem Esstisch lag. Doch noch bevor er es erreichte, knickten ihm die Beine weg. Simon hielt sich an der Tischkante fest und sank auf die Knie.
Er trat hinter ihn, packte Simon unter den Achseln und zog ihn vollends zu Boden. Dann drehte er ihn auf den Rücken.
»Entspann dich und mach die Augen zu, Junge. Es ist gleich vorbei.«
Simon sah zu ihm hoch und begann zu grinsen. »Wow, John, das Zeug geht ja richtig ab.« Er kicherte wie von Sinnen und schüttelte sich. »Du musst einen Notarzt rufen, Mann. Mein Herz … Ich … krepiere.«
»Das kann ich nicht, Simon. Dafür ist es schon zu spät.«
»Echt?« Simon begann zu lachen. »Zu spät, zu spät, zu spät«, sang er, dann würgte er und rülpste. Weißer Schaum quoll aus seinem Mund. Er begann spastisch zu zucken, und sein Darm entleerte sich. Dann verdrehte er die Augen, und ein weiterer Schwall weißen Schaums ergoss sich über sein Kinn und auf sein T-Shirt. Er krampfte ein letztes Mal, dann war es vorbei.
Es war schneller gegangen als bei Jay. Das war gut so.
Er betrachtete seinen toten Krankenpfleger noch eine Weile, dann bückte er sich, hob die Akte auf und steckte sie in seine Jacke.
Die leere Spritze verstaute er wieder in dem Etui, das er schon seit Wochen mit sich herumtrug. Sie war eigentlich für ihn selbst bestimmt gewesen. Sein Rettungsanker, wenn die Schmerzen zu schlimm werden würden. Nun würde er umdisponieren müssen.
Bevor er die Wohnung verließ, legte er den Umschlag mit dem Geld auf Bethanys Bett.
60.
»Er hat alles gelesen.«
Sarah saß auf dem Bett, hielt Stephens Kopfkissen an die Brust gepresst und starrte vor sich hin.
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie nackt ich mich fühle«, sagte sie und klammerte sich an das Kissen, als wollte sie sich dahinter verstecken. »Ich habe meine geheimsten Gedanken in diesen Tagebüchern festgehalten. Alles, was mich je beschäftigt hat. Alles! Und dieser verfluchte Mistkerl hat es nicht nur gelesen, er hat auch noch die wichtigen Stellen markiert.« Sie wischte sich die Tränen aus den Augen – Tränen des Zorns und der Ohnmacht. »Dieser Bastard ist nicht nur in mein Haus eingedrungen, sondern auch in meinen Kopf!«
Mark betrachtete die Schublade, in der die Tagebücher nun wild durcheinanderlagen. Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Irgendetwas irritierte ihn an dieser Sache – etwas in seinem Unterbewusstsein, an das er noch nicht herankam, weil auch er noch zu aufgewühlt war. Es war wie bei dem Wort, das einem auf der Zunge lag und das dennoch nicht herauswollte.
»Er muss hier Stunden zugebracht haben«, flüsterte Sarah, als wagte sie nicht, diese Erkenntnis laut auszusprechen. »Hier in unserem Schlafzimmer. Vielleicht hat er sogar auf unserem Bett gesessen, während er die Bücher gelesen hat. Auf demselben Bett, in dem Stephen und ich danach wieder geschlafen haben, ohne auch nur das Geringste von ihm zu ahnen. Er ist hier einfach ein und aus gegangen, wie er wollte.«
Mark fuhr zusammen. Ja, das war es! Nun wusste er, was ihm keine Ruhe gelassen hatte. Er musste an vorhin denken, als sie das Haus betreten hatten.
»Die Alarmanlage!«
Sarah hob verblüfft den Kopf. »Was ist damit?«
»Wie lange habt ihr sie schon?«
Sie überlegte kurz. »Ungefähr drei Jahre. Kurz nachdem wir eingezogen waren gab es in der Gegend eine Einbruchserie und …«
»Und wann ist sie eingeschaltet?«
»Jedes Mal, wenn wir das Haus verlassen. Sie überwacht alle Räume mit Bewegungsmeldern.«
Mark nickte. »Ihr schaltet sie also immer ein, wenn ihr nicht zu Hause seid?«
»Ja.«
»Wirklich immer?«
»Ja, das ist ein Routinehandgriff.«
»Und wenn man wieder ins Haus will, muss man sie mit einem Code deaktivieren. Es genügt nicht, sie einfach nur abzuschalten, richtig?«
»Richtig. Man hat genau dreißig Sekunden Zeit, um den Code einzugeben, und nur drei Versuche, ehe der Alarm …« Sarah hielt mitten im Satz inne, als sie verstand, worauf er hinauswollte. »Aber das kann nicht sein, Mark. Das ist völlig unmöglich! Er konnte den Code nicht kennen.«
»Habt ihr den Code in letzter Zeit mal geändert?«
»Nein, es ist immer noch derselbe. Ich weiß, man sollte die Kombination von Zeit zu Zeit ändern, aber …«
»Was für ein Code ist es?«, unterbrach er sie. »Ich meine, ist es ein Geburtsdatum oder euer Hochzeitstag? Kann er die Kombination vielleicht auf diese Weise herausgefunden haben?«
»Es ist das Datum unseres Kennenlernens. Das mussten wir uns nirgends notieren. Nur Stephen und ich kennen es, und wir haben den Code auch an niemanden weitergegeben.«
»Irgendetwas stimmt da nicht.« Mark ließ sich auf einen Stuhl nieder, neben dem ein Haufen mit Kleidungsstücken lag, vermutlich von Stephen. »Als dieser Mann in jener Nacht bei euch eingedrungen ist, in der Harvey den Hund gesehen hat, brauchte er nur deinen Schlüssel, weil ihr ja zu Hause wart. Aber er kann keinesfalls das Risiko eingegangen sein, in euer Schlafzimmer zu schleichen, wenn ihr dort geschlafen habt.«
»Das würde bedeuten, dass er in der Zeit, in der er meinen Schlüssel hatte, noch einmal bei uns im Haus gewesen ist. Aber wie? Du hast völlig recht, er hätte die Alarmanlage ausschalten müssen. Aber er konnte den Code nicht kennen.«
Wieder begann Mark fieberhaft zu überlegen. Irgendwie ergab das alles keinen Sinn. »Kann es sein, dass du vielleicht irgendwann einmal vergessen hast, die Alarmanlage einzuschalten?«
Sarah legte das Kissen aus der Hand und schüttelte energisch den Kopf. »Nein, hundertprozentig nicht. Das ist Stephen und mir längst in Fleisch und Blut übergegangen. Als es mir so richtig schlecht ging, habe ich die Alarmanlage oft mehrmals überprüft, ehe ich das Haus verlassen konnte. Andernfalls hätte ich keine Ruhe gehabt.« Sie stieß ein humorloses Lachen aus. »So hatte meine Angsterkrankung wenigstens auch mal einen positiven Aspekt.«
»Aber woher sollte er den Code dann kennen, wenn nur Stephen und du davon gewusst habt?« Mark rieb sich das Kinn. »Gibt es wirklich niemand anderen, dem ihr diese Kombination gegeben habt?«
Wieder schüttelte Sarah den Kopf. »Nein, ganz sicher nicht. Außer natürlich der Firma, die die Alarmanlage installiert hat. Der Techniker hatte den Code damals programmiert.« Sie sah ihn mit großen Augen an. »Du glaubst doch nicht …«
»Erinnerst du dich noch an den Mann?«
Ihr Blick schweifte kurz ins Leere, als suchte sie irgendwo an der Wand oder auf dem Teppichboden nach einem Bild aus ihrer Erinnerung. »Na ja, nicht an sein Gesicht. Aber … nein, Mark, er war es nicht. Selbst wenn er sich die Narben erst danach zugezogen hätte. Das war ein ganz anderer Typ, eher dick und klein, das weiß ich auf jeden Fall noch.«
Sie sahen sich eine Weile an und schienen beide dasselbe zu denken. Mark sprach es schließlich aus.
»Vielleicht war es ja nicht dieser Techniker, sondern einer seiner Kollegen?«
61.
Das Gebäude von Home Security Services Ltd. mit dem auffallend roten Firmenlogo in Form eines stilisierten Burgturms befand sich in Brixton neben einem großen Parkplatzgelände. Es war ein schmuckloser Bau aus Glas und Beton, der von außen wie eine Lagerhalle aussah und sich an eine Reihe weiterer Firmengebäude anschloss.
Im Eingangsbereich warben Plakate und überdimensionale Aufsteller aus Pappe für Alarmanlagen und Sicherheitssysteme, und auf jedem war der HSS-Slogan in roten Großbuchstaben zu lesen: Wir machen Ihr Heim zu Ihrer Burg.
Mark fiel auf, wie Sarah den Spruch las und wieder wegsah. In Anbetracht ihrer Erlebnisse musste ihr dieser Satz wie ein schlechter Witz vorkommen.
Der Inhaber stellte sich Ihnen als James Pearson vor. Er war ein großer, durchtrainierter Mann Mitte vierzig mit kantigen Gesichtszügen und einem grau melierten Bürstenhaarschnitt. Der dunkelblaue Anzug wirkte an ihm wie eine Militäruniform – ein offenbar beabsichtigter Eindruck, der durch sein strammes Auftreten noch zusätzlich betont wurde. All das sollte wohl Autorität und gleichzeitig ein Gefühl von Sicherheit vermitteln, mutmaßte Mark.
Pearson hatte sie in sein Büro gebeten und ihnen Plätze an einem runden Konferenztisch angeboten, auf dem sich Flyer und Prospekte seiner Firma stapelten.
Sarah kam sofort zur Sache. Sie fragte ihn nach einem seiner Angestellten, auf den die Beschreibung des Narbenmannes zutraf, und Pearson, der ihnen mit kerzengerader Haltung gegenübersaß, hörte ihr mit stoischer Miene zu. Mark beobachtete ihn und war überzeugt, dass er einen perfekten Pokerspieler abgegeben hätte.
Pearson reagierte nicht sofort auf Sarahs Frage. Stattdessen faltete er die Hände auf der Tischplatte und sah abwechselnd zu Mark und wieder zu Sarah.
»Bedauere«, sagte er schließlich, »aber ich kann Ihnen nicht weiterhelfen. Die Angaben zu unseren Mitarbeitern sind streng vertraulich. Das werden Sie sicher verstehen.«
»Das heißt, dass dieser Mann bei Ihnen angestellt ist?«, hakte Sarah nach.
»Das habe ich nicht gesagt.« Er lächelte und öffnete einladend die Arme. »Mrs. Bridgewater, wenn es Probleme mit Ihrem Alarmsystem geben sollte, stehe ich Ihnen gern persönlich zur Verfügung.«
Sarah winkte ab. »Darum geht es nicht.«
»Worum geht es dann?«
»Es ist … eine private Angelegenheit.«
»Mrs. Bridgewater, in diesem Fall kann ich Ihnen erst recht nicht helfen. Wenn er den privaten Kontakt zu Ihnen wünschen würde, hätte er sich bestimmt selbst bei Ihnen gemeldet.«
»Entschuldigen Sie, Mr. Pearson«, mischte Mark sich in die Unterhaltung ein, »kann ich Ihnen eine fachliche Frage stellen?«
»Selbstverständlich.«
»Notieren Sie die Codes Ihrer Kunden?«
»Nur den Code bei der Installation der Anlage.«
»Und wozu?«
»Für einen Reset, falls der Kunde bei der Programmierung eines neuen Codes einen Fehler macht oder seine Kombination vergisst. Das kommt gelegentlich vor.«
»Das heißt, wenn man die Anlage abschaltet oder auf den Anfang zurückstellt, wird immer der erste Code des Kunden aktiviert?«
Pearson nickte. »So ist es, denn würde sie auf die Werkseinstellung mit den acht Nullen zurückspringen, hätte ein Einbrecher leichtes Spiel.«
»Verstehe«, sagte Mark und war zufrieden. Er hatte Pearson in vermeintlich sicheres Terrain geführt. Das schuf Vertrauen. »Aber was wäre bei einem Stromausfall? Könnte man die Anlage durch eine Unterbrechung der Stromzufuhr umgehen?«
»Keinesfalls«, sagte Pearson. »Die Anlage wird zusätzlich durch einen Akku gesichert, den wir in regelmäßigen Abständen überprüfen. Das ist in unserem Servicevertrag inbegriffen. Unsere Systeme sind hundertprozentig sicher.«
»Was die technische Seite betrifft, will ich Ihnen gerne glauben«, entgegnete Mark, und nun flackerte ein wenig Unsicherheit in den Augen des Firmeninhabers auf. »Wer genau hat denn bei Ihnen Zugang zu den Codes Ihrer Kunden?«
»Ich selbst und die Mitarbeiter vom Wartungsdienst.« Damit erhob sich Pearson und sah mit geschäftigem Blick auf seine Armbanduhr. »Halten Sie mich bitte nicht für unhöflich, aber ich habe in fünf Minuten einen weiteren Termin. Ich werde Sie noch zum Ausgang begleiten. Selbstverständlich wird Ihnen unsere Serviceabteilung gern alle weiteren technischen Fragen …«
»Arbeitet dieser Mann in Ihrem Wartungsdienst?«, unterbrach ihn Mark und erhob sich ebenfalls.
Pearson sah ihn an. Er reckte sich und wollte offensichtlich respektgebietend wirken. »Wie gesagt, Mr. und Mrs. Bridgewater, ich werde keine Angaben zu meinen Mitarbeitern machen. Bitte akzeptieren Sie das.«
»Okay, Mr. Pearson«, sagte Sarah, die sich ebenfalls erhoben hatte, »ich wollte die Sache nicht unnötig kompliziert machen, aber da Sie so wenig Entgegenkommen zeigen, muss ich wohl deutlicher werden.«
Pearson behielt seine stramme Haltung bei, als stünde er Wache vor dem Buckingham Palace, aber Mark sah, wie er seine rechte Hand mechanisch schloss und wieder öffnete. Sie machten ihn nervös, das war gut so.
»Der Mann, den ich Ihnen beschrieben habe, ist in unser Haus eingedrungen«, fuhr Sarah fort. »Und zwar mehrfach, wie es scheint.«
In Pearsons Gesicht zuckte es. »Wie bitte? Haben Sie Beweise für diese Behauptung?«
»Das will ich meinen. Irgendjemand hat unsere Alarmanlage mehrfach lahmgelegt. Was, wie Sie selbst sagen, eigentlich völlig unmöglich ist. Es sei denn, jemand kennt den ursprünglichen Code.«
Für einen Moment starrte Pearson sie an, als wollte er sie hypnotisieren.
»Hören Sie, Mrs. Bridgewater«, sagte er kühl, »was Sie da behaupten ist ungeheuerlich, und ich halte es für ganz ausgeschlossen. HSS steht für absolute Sicherheit, das garantieren wir unseren Kunden seit über zehn Jahren. Dementsprechend wähle ich auch meine Mitarbeiter aus, und ich würde für jeden von ihnen meine Hand ins Feuer legen.«
»Nun, in diesem Fall würden Sie sich die Hand vermutlich verbrennen«, entgegnete Sarah ungerührt. »Ich bin jedoch gewillt, diesen Vorfall diskret zu behandeln, wenn Sie mir den Namen und die Anschrift des Mannes nennen. Oder wäre es Ihnen lieber, wenn ich die Polizei einschalte? Hausfriedensbruch und Diebstahl – falls sich das herumsprechen sollte, wäre das sicherlich keine gute Werbung für Ihre Firma, Mr. Pearson. Denken Sie nicht auch?«
Nun wich Pearsons Pokergesicht vollends. Er schluckte, und auf seiner Oberlippe funkelten kleine Schweißperlen. »Wollen Sie mir etwa drohen?«
»Im Gegenteil, Mr. Pearson. Ich mache Ihnen ein Angebot. Ich verspreche Ihnen, Sie und Ihre Firma aus allem herauszuhalten, wenn Sie sich kooperativ zeigen.«
Pearson leckte sich die Lippen. »Mrs. Bridgewater, das kann ich nicht machen. Verstehen Sie doch!«
»Vergessen Sie nicht, dass wir über einen Einbrecher sprechen«, fügte Mark hinzu. »Wollen Sie seinetwegen den guten Ruf Ihrer Firma aufs Spiel setzen? Ist Ihnen dieser Mann das wirklich wert?«
Für einen Moment starrte Pearson vor sich hin, und ihm war anzusehen, wie er mit sich selbst rang. Dann wandte er sich wieder Sarah zu. »Und ich kann mich auf Ihr Wort verlassen?«
Sie nickte. »Ja, das können Sie.«
»Also schön«, sagte er tonlos. »Irgendwie hatte ich bei diesem Kerl von Anfang an kein gutes Gefühl. Fachlich hatte er mich überzeugt, und seine Zeugnisse waren tadellos, aber er war so sonderbar schweigsam. Ich hätte wohl besser auf meinen Bauch hören sollen.«
»Wie ist sein Name?«
»Wakefield. Er heißt John Wakefield.«
»Ist er zufällig gerade hier?«
»Nein, er arbeitet schon seit über einem Monat nicht mehr für mich. Er war auch nur kurz bei mir angestellt. Drei, vier Monate vielleicht. Dann hat er plötzlich gekündigt.«
»Hat er Ihnen gesagt, warum?«, fragte Mark.
»Nein, wahrscheinlich hat er einen anderen Job bekommen.«
»Und wie lautet seine Adresse?«
»Es war hier in Brixton. Ich muss nachsehen.«
Pearson ging zu seinem Schreibtisch. Während er in seinem Computer nachschaute, sah Sarah Mark an.
Sie lächelte triumphierend.
»Dieses Mal haben wir ihn!«
62.
Die Adresse, die Pearson ihnen genannt hatte, führte sie zu einem Altbau in der Nähe des Brixton Market. Es war ein baufälliges Mehrfamilienhaus mit acht Parteien. Den Klingelschildern neben dem Eingang zufolge waren nur vier davon bewohnt. Auf einem der Namensschilder lasen sie: J. Wakefield.
Sarah betrachtete die Zeile rostiger Briefkästen. Aus den meisten ragten Werbeflyer hervor, doch Wakefield musste seinen Briefkasten erst kürzlich geleert haben.
»Mich kennt er nicht, also werde ich nachsehen«, sagte Mark, während er auf mehrere der Klingelknöpfe drückte. »Du wartest im Treppenhaus. Wenn er da ist, werde ich ihn in ein Gespräch verwickeln, und du verständigst die Polizei. Diesmal lassen wir ihn nicht entkommen.«
Sarah sah zu den Fenstern hoch. »Okay, aber sei vorsichtig.«
Mark lächelte ihr aufmunternd zu. »Ich werde ihm ein Zeitungsabo aufschwatzen. Darin war ich in Oxford mal sehr gut.«
Sie erwiderte sein Lächeln nicht. »Mark, was ist, wenn er alles abstreitet?«
»Das wird er nicht.«
»Was macht dich da so sicher?«
»Wakefield will, dass du ihn suchst. Denk an seinen Glückwunschbrief. Jetzt hast du ihn gefunden.«
Ein Summer ertönte, und die Eingangstür sprang auf. Mark betrat das kühle Halbdunkel des Hausflurs und wurde von einem unangenehmen Geruch nach Moder und feuchtem Mauerwerk empfangen, vermischt mit etwas, das ihn an schales Bier denken ließ.
Sarah folgte ihm und blieb am Fuß der ausgetretenen alten Holztreppe stehen. Einen Aufzug gab es nicht.
Mark nickte ihr noch einmal zu, dann stieg er die knarrenden Stufen in den zweiten Stock hinauf.
Er klingelte an Wakefields Wohnungstür und wartete, doch nichts rührte sich. Also klingelte Mark noch einmal. Dann klopfte er an die Tür.
»Hallo? Ist jemand zu Hause?«
»Wer sind Sie?«, fragte eine brüchige Frauenstimme hinter ihm.
Mark sah sich zu einer alten Dame um, die ihn neugierig aus dem Türrahmen der gegenüberliegenden Wohnung musterte. Sie war eine kleine, hagere Erscheinung mit runzligem Gesicht. Mark schätzte ihr Alter auf mindestens Ende achtzig, aber ihre Augen wirkten noch jung und wachsam.
»Haben Sie bei mir geläutet?«, fragte sie.
»Ja, aber eigentlich möchte ich zu Mr. Wakefield.«
Sie legte eine Hand ans Ohr. »Was haben Sie gesagt? Ich habe Sie nicht verstanden.«
»Ich möchte zu Mr. Wakefield«, wiederholte Mark, diesmal lauter.
»Der ist nicht zu Hause.«
»Wissen Sie, wann er wieder zurückkommt?«
Sie wackelte mit dem Kopf. »Nein, tut mir leid. Wer sind Sie überhaupt?«
»Mein Name ist Mark.«
»Freut mich, Mr. Mark. Ich bin Emma Livingstone. Wollten Sie Mr. Wakefield besuchen?«
»Ja, ist er denn schon lange fort?«
»Das kann ich Ihnen leider auch nicht sagen. Ich sehe ihn nur noch selten. Aber er war schon heute Morgen nicht da, als ich ihm ein paar von meinen selbst gebackenen Keksen vorbeibringen wollte. Die mag er so gern, wissen Sie? Er stippt sie immer in seinen Tee ein.«
Sie sah sich nach allen Seiten um, als ob ihnen jemand in diesem verlassenen Haus zuhören könnte, ehe sie mit gesenkter Stimme weitersprach. »Er wird wahrscheinlich wieder in der Klinik sein. Der Ärmste ist schwer krank. Krebs. Sieht gar nicht gut aus für ihn. Wussten Sie das?«
Krebs, wiederholte Mark in Gedanken. Das war also Wakefields Motivation. Ein Sterbenskranker, der Sarah wieder »ins Leben zurückholen« wollte, weil sie »noch eine Chance hat« – so oder so ähnlich hatte er es formuliert –, im Gegensatz zu Wakefield selbst und der jungen Frau auf dem Foto. Wahrscheinlich war auch sie an Krebs gestorben, und Sarahs Äußeres musste ihn an sie erinnert haben.
Doch das klärte noch nicht die Frage, warum Wakefield Stephen Bridgewater entführt hatte, und wo Stephen sich jetzt befand.
Plötzlich kam Mark eine Idee.
»Ja, ich weiß, dass er schwer krank ist«, sagte er. »Deswegen bin ich ja gekommen.«
Er fasste in seine Jacke und zog den Dozentenausweis hervor, den Somerville ihm gegeben hatte. »Hier, sehen Sie, ich arbeite für das King’s Hospital. Ich bin Sozialarbeiter und sollte bei Mr. Wakefield einige wichtige Unterlagen abholen. Nur haben meine Kollegen vergessen, mir zu sagen, dass Mr. Wakefield bereits im Krankenhaus ist.«
»Wichtige Unterlagen?«, wiederholte Mrs. Livingstone und machte ein bestürztes Gesicht. »Er ist doch nicht etwa …«
»Nein, keine Sorge, so schlimm ist es nicht«, sagte Mark und hob beschwichtigend die Hände. »Es geht nur um die Krankenversicherung von Mr. Wakefield.«
»Ach so.« Mrs. Livingstone nickte erleichtert.
Mark sah zu Wakefields Tür. Vielleicht befand sich dahinter die Antwort auf seine Frage – oder zumindest eine Spur, die Sarah und ihn zu Stephen führte.
»Sagen Sie, Mrs. Livingstone, gibt es hier einen Hausmeister?«
»Einen Hausmeister? Machen Sie Witze, junger Mann?« Sie stieß ein spöttisches Lachen aus. »Den letzten Hausmeister hat dieses Gebäude wohl noch zu Margaret Thatchers Zeiten gesehen. Nein, der Inhaber schert sich einen feuchten Kehricht um uns. Hauptsache, die Miete wird pünktlich überwiesen.«
»Mrs. Livingstone, es ist wirklich wichtig. Ich brauche diese Unterlagen für Mr. Wakefield. Gibt es sonst jemanden, der einen Zweitschlüssel zu seiner Wohnung hat? Sie vielleicht?«
»Ja, vielleicht.« Ihre Augen funkelten schelmisch.
Ein wacher Geist, gefangen in einem welken Körper, dachte Mark.
»Kann ich noch einmal Ihren Ausweis sehen?« Sie streckte ihm ihre dürre Hand entgegen, die von dunklen Altersflecken übersät war.
Mark zögerte kurz, dann hielt er ihr den Ausweis hin. Diesmal sah Mrs. Livingstone ihn sich genauer an.
»Hier steht aber Dozent, nicht Sozialarbeiter.«
»Ja, ich unterrichte nebenbei am College«, log Mark.
»Und Mark ist ja nur Ihr Vorname. Behrendt … Das klingt nicht sehr britisch. Sind Sie etwa ein Kraut?«
Mark seufzte. Er stand wohl der falschen Generation gegenüber. »Mein Vater war Deutscher.«
»Oh, wirklich?« Sie musterte ihn argwöhnisch. »Ich höre bei Ihnen aber keinen Akzent heraus.«
»Meine Mutter war Britin. Sie kam aus London. Ich bin hier aufgewachsen.«
»So etwas dachte ich mir«, sagte Mrs. Livingstone. »Wissen Sie, ich kann die Krauts immer noch nicht ausstehen. Sie haben meinen Rupert auf dem Gewissen. Er starb bei den Luftangriffen. Aber man kann sich seine Väter nun einmal nicht aussuchen. Nehmen Sie doch lieber den Mädchennamen Ihrer Mutter an, junger Mann.«
Abermals seufzte Mark. »Ich werde darüber nachdenken. Wie sieht es nun aus? Haben Sie einen Zweitschlüssel zu dieser Wohnung?«
»Na gut, aber Sie warten vor meiner Tür«, entgegnete Mrs. Livingstone und schlurfte in ihre Wohnung. Nach einer Weile kam sie mit dem Schlüssel zurück. »Wissen Sie, früher habe ich immer seine Blumen gegossen, wenn er im Krankenhaus war. Aber als es ihm dann schlechter ging, durfte er keine Pflanzen mehr in der Wohnung halten. Wegen der Allergien, verstehen Sie? Deswegen war ich schon länger nicht mehr bei ihm. Ich weiß auch gar nicht, ob es ihm recht ist, wenn wir …«
»Glauben Sie mir, Mrs. Livingstone, was wir tun, ist ganz in seinem Sinne.«
»Meinen Sie?«
»Er braucht die Unterlagen.«
»Na, wenn Sie es sagen.«
Sie schob sich an Mark vorbei und schloss die Tür zu Wakefields Wohnung auf.
Im selben Moment vernahm Mark Schritte im Treppenhaus. Erschrocken sah er sich um und überlegte eilig, wie er sich verhalten sollte, falls Wakefield ausgerechnet jetzt nach Hause kam. Dann erschien Sarah auf der Treppe, und er atmete erleichtert auf.
»Ich habe euch bis nach unten gehört«, sagte sie und fügte etwas lauter hinzu: »Guten Tag, Mrs. Livingstone.«
Die alte Dame beäugte sie skeptisch. »Gehört sie zu Ihnen, junger Mann?«
»Das ist meine Kollegin«, erklärte er und zwinkerte Sarah zu. »Darf ich vorstellen, Sarah Bridgewater. Eine waschechte Britin.«
»Aha«, sagte Mrs. Livingstone und schien zufrieden. »Na, dann kommen Sie mal. Aber machen Sie ja keine Unordnung. Das mag er überhaupt nicht. Er ist ein sehr ordentlicher Mann. Wie ihr Krauts.«
Mark nickte ihr ernst zu. »Keine Sorge, Mrs. Livingstone. Wir sind auch gleich wieder weg.«
63.
Gemeinsam betraten sie die Wohnung. Der kurze Flur endete in einer kleinen Wohnküche, durch deren Fenster sie auf die schmutzige Fassade des nahen Nachbarhauses blickten. Ein Durchgang zur Rechten führte in ein winziges Badezimmer, hinter der Tür zur Linken musste sich das Schlafzimmer befinden. Sie war geschlossen.
Mark sah sich um und versuchte sich ein Bild von der Persönlichkeit des Bewohners zu machen.
Mrs. Livingstone hatte recht gehabt, was John Wakefields Ordnungsliebe betraf. Zwar schienen sämtliche Möbel und sonstigen Einrichtungsgegenstände wie Relikte längst vergangener Jahrzehnte, doch Wakefield hatte sich alle Mühe gegeben, sich ein wohnliches Heim zu schaffen. Alles war frisch geputzt und hatte einen festen Platz zugewiesen bekommen.
Der Anblick erinnerte Mark an ein Trödelmuseum. Wakefield schien über keine großen finanziellen Mittel zu verfügen, oder er legte keinen Wert auf materielle Statussymbole. Doch er brachte den wenigen Dingen, die er besaß, Wertschätzung entgegen. Die ganze Wohnung ließ auf eine pedantische, wenn nicht gar zwanghaft-neurotische Persönlichkeit schließen. Auf jemanden, der Abläufe genau plante und nichts dem Zufall überließ.
Wie würde Wakefield wohl reagieren, wenn er feststellen musste, dass er sein Opfer unterschätzt hatte – dass Sarah und Mark ihm trotz allem auf die Spur gekommen waren? Denn dass sie seinen Namen und seine Adresse herausfinden würden, hatte er sicherlich nicht vorhergesehen.
Es war kühl in der Wohnung. Das Fenster in der Wohnküche stand einen Spaltbreit offen. Von draußen wehte die nasskalte Winterluft herein, und es roch nach Putzmittel, einem recht penetranten Zitronenaroma. Aber Mark nahm noch einen weiteren Geruch wahr, unangenehm und muffig, wie von Mülltonnen, die schon lange nicht mehr geleert worden waren.
»Wahrscheinlich sind die Unterlagen, die Sie suchen, im Schlafzimmerschrank«, sagte Mrs. Livingstone und ging zielstrebig auf die geschlossene Tür zu. »Dort bewahrt er immer seine Dokumente auf. Nicht, dass ich hier herumgestöbert hätte, er hat mir das selbst einmal erzählt.«
Sie öffnete die Tür, und sofort schlug ihnen eine Welle des süßlichen Mülltonnengeruchs entgegen.
»O Himmel, Jesus!«, stieß die alte Frau aus und wich entsetzt einen Schritt zurück.
Sarah, die ihr gefolgt war, schlug die Hand vor den Mund. Auch sie schien für eine Sekunde wie vor Schreck versteinert, dann betrat sie entschlossen das Schlafzimmer. Im nächsten Moment stieß sie einen Schrei aus.
Mark lief zu ihr. Er traute seinen Augen nicht.
Auf dem Bett lag ein in Klarsichtfolie eingewickelter Körper. Er hatte die Hände auf der Brust gekreuzt wie eine ägyptische Mumie. Jemand hatte einen Blumenstrauß neben den Toten gelegt. Die Blumen waren längst verwelkt.
Sarah stand dicht neben dem schauerlichen Gebilde, die Hand vor Mund und Nase gehalten, und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Toten.
Um den Leichengeruch so gut wie möglich zurückzuhalten, war die Folie mit dicken Klebebandstreifen abgedichtet worden, dennoch stank es bestialisch in dem kleinen Raum. Dem aufgequollenen Zustand des Körpers nach, hatte die Verwesung bereits vor Längerem eingesetzt. Die freiwerdenden Gase hatten die Folie wie einen makaberen Ballon aufgeblasen, und an der Unterseite hatte sich bräunliche Körperflüssigkeit angesammelt.
Mark betrachtete das wächserne Gesicht des Toten, das wie eine gelbliche Maske gegen die Folie drückte. Die Gesichtszüge waren aufgedunsen und bis zum Zerreißen gespannt, dennoch hätte man die Narben auf der Haut erkennen müssen. Wer immer der Tote auch war, sein Gesicht war unverletzt, und Mark befiel ein schrecklicher Gedanke.
»Ist er das?«, fragte er mit belegter Stimme. »Ist es Stephen?«
Sarah schüttelte nur den Kopf, dann wandte sie sich um und schwankte aus dem Raum.
»Um Gottes willen, Jay«, hörte er Mrs. Livingstone hinter sich wimmern. Sie stand noch immer in der Tür und war aschfahl. »Was hat man dir nur angetan?«
»Mrs. Livingstone.« Er ging zu ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Wer ist das?«
»Na, das ist Jay.«
»Jay? Sie meinen John Wakefield?«
»Ja«, schluchzte sie.
»Aber warum nennen Sie ihn Jay?«
»Das ist sein Spitzname, J. Wakefield. So haben ihn alle genannt. O der arme Mann …«
Sie wandte sich ab und hastete weinend aus der Wohnung.
Mark ging zurück zu Sarah in die Wohnküche. Sie hatte sich gegen die Wand gelehnt und hielt beide Hände auf den Magen gepresst. Aus ihrem Gesicht war sämtliche Farbe gewichen.
»Für einen Augenblick dachte ich, es sei Stephen«, flüsterte sie. »Aber wenn das da drin wirklich dieser John Wakefield ist …« Sie sah Mark fragend an. »Wen suchen wir dann?«
Mark senkte betreten den Blick. »Ich weiß es nicht.«
»Er hat diesen Mann da umgebracht, Mark«, sagte Sarah, und ihre Stimme zitterte. »Und er hat garantiert auch Stephen umgebracht!«
Sie stieß sich von der Wand ab und rannte aus der Wohnung.
64.
Sie hatten die Polizei verständigt, und nur kurze Zeit nach dem Streifenwagen waren auch Beamte der Mordkommission in dem Haus an der Coldharbour Lane erschienen.
Ein Detective Inspector namens Blake übernahm die Befragung. Während die Beamten der Spurensicherung John Wakefields Wohnung untersuchten, stand Mark mit Blake im Treppenhaus und versuchte, ihm die Ereignisse, die zur Entdeckung der Leiche geführt hatten, zu schildern. Leicht fiel es ihm nicht, da ihm die Geschichte selbst noch viel zu verworren schien. Nun, da sie hatten feststellen müssen, dass sie nach dem falschen Mann gesucht hatten, blieben Stephen Bridgewaters Entführung und das Motiv des Täters erneut ein Rätsel.
Als Mark diesen Namen erwähnte, sah der Detective Inspector überrascht von seinen Notizen auf. »Bridgewater? Sagten Sie Stephen Bridgewater?«
»Ja.«
»Und der Name seiner Frau ist Sarah?«
»Ja.«
»Wo ist sie jetzt?«
Mark deutete über den Gang. »Drüben bei Mrs. Livingstone. Warum fragen Sie?«
Blake winkte ab. »Eins nach dem andern. Lassen Sie uns noch einmal über diesen Unbekannten reden. Sie sagen also, Sie suchen nach einem Mann mit auffälligen Narben im Gesicht und …«
»Narben im Gesicht?«, unterbrach ihn Mrs. Livingstone.
Die kleine alte Dame stand plötzlich hinter ihnen und betrachtete die beiden Männer mit aufmerksamer Neugier. Seit die Polizisten im Haus waren, schien sie förmlich aufzuleben. Ihr anfänglicher Schock über den Toten auf dem Bett war einer makabren Faszination gewichen. Dies musste das aufregendste Erlebnis seit Langem für sie sein.
»Ein Mann mit vielen Narben?«, sagte sie und zeigte auf ihr Gesicht. »Hier und auf den Armen?«
Mark nickte.
»Dann meinen Sie bestimmt John.«
»Noch ein John?«, fragte Mark.
Die alte Dame machte eine unsichere Geste. »Jedenfalls hat Jay ihn so genannt. Jay und John, die beiden sind gute Freunde. Jay kannte ihn aus der Klinik, hat er mir erzählt.«
»War dieser John ebenfalls ein Patient, oder hat er in der Klinik gearbeitet?«, fragte Blake.
»Das weiß ich leider nicht, aber ich denke, dass er selbst krank ist. Wenn Sie ihn gesehen hätten, würden Sie das auch denken. Sieht schlimm aus. Wie die Bombenopfer anno vierzig nach dem Blitz. Ein sehr netter, aber auch sehr trauriger Mann. Ich glaube, er hat viel Schlimmes erleben müssen, aber haben wir das nicht alle?«
»Kennen Sie seinen vollständigen Namen?«
»Nein, tut mir leid, Inspector, er hat sich mir nie richtig vorgestellt. Aber er ist fast täglich hier, um nach Jay zu sehen. Erst vor zwei Tagen habe ich ihn wieder auf der Treppe getroffen. Er erledigt Jays Besorgungen und hilft ihm beim Saubermachen, seit Jay wieder nach Hause gekommen ist. Jay wollte nicht in der Klinik sterben, wissen Sie? Wer kann ihm das auch verdenken? Dort ist man doch nur ein anonym…« Mrs. Livingstone hielt plötzlich im Sprechen inne, als der Groschen bei ihr fiel. Dann starrte sie durch die offen stehende Tür in die Wohnung, wo die Kriminaltechniker ihrer Arbeit nachgingen. »Du meine Güte! Sollte John das etwa getan haben? Aber warum, um alles in der Welt? Sie waren doch so gute Freunde!«
»Ich vermute, er brauchte die Wohnung seines toten Freundes als Unterschlupf«, sagte Mark an Blake gewandt. »Er hat sich auch an seiner letzten Arbeitsstelle für John Wakefield ausgegeben. So konnte er seine wahre Identität geheim halten.«
Blake blickte nachdenklich auf seine Notizen. Er schien sich aus alledem noch keinen rechten Reim machen zu können.
»Wir werden dem nachgehen und auch mit diesem Mr. Pearson reden«, sagte er. Dann sah er sich nach Sarah um, die in diesem Moment aus Mrs. Livingstones Wohnung kam. Sie war noch immer blass und musste sich am Türrahmen abstützen.
»Mrs. Bridgewater? Sarah Bridgewater?«
Sie nickte.
»Ich bin Detective Inspector Blake von der Metropolitan Police. Wir müssen uns unterhalten. Es geht um Ihren Mann.«
65.
Mit rasendem Herzen starrte er auf den Leichenwagen und die Polizeifahrzeuge, die vor Jays Haus standen.
Wie war das möglich? Wie um alles in der Welt hatten sie Jay finden können?
Ob die neugierige alte Mrs. Livingstone in der Wohnung herumgestöbert hatte?
Vermutlich.
Das war ein herber Schlag. Er hatte alles darangesetzt, den Anschein zu erwecken, dass Jay noch am Leben war. Er hatte Jays Post entgegengenommen, hatte ihm vermeintliche Krankenbesuche abgestattet und an den Abenden seinen alten Fernseher so laut aufgedreht, wie Jay es zu seinen Lebzeiten getan hatte.
Nun würde man nach Jays Mörder suchen. Dass Jay freiwillig aus dieser Welt geschieden war, ja, dass er ihn angefleht hatte, seinem Leiden ein Ende zu setzen, das konnte keiner wissen.
Er hatte sich dafür mehr Zeit geben wollen. Er hatte damit warten wollen, bis er seine eigenen Angelegenheiten zu Ende gebracht hatte. Aber Jay hatte es nicht länger ausgehalten. Also war ihm keine andere Wahl geblieben, als sein Versprechen einzulösen.
Das alles würde die Polizei nicht verstehen. Und selbst wenn er ihnen den Grund für seine Tat hätte begreiflich machen können, würden sie ihn dennoch verurteilen. Für sie hätte er gegen Recht und Moral verstoßen. Wie sollten sie auch die Todgeweihten verstehen! Wo sie doch nicht wahrhaben wollten, dass auch sie vom Tag ihrer Geburt an dem Tod geweiht waren.
Nein, von ihnen konnte er kein Verständnis erwarten. Für sie wäre er nur ein Mörder.
Wie auch immer, von jetzt an würde die Polizei nach ihm suchen. Aber seine Spur würde in eine Sackgasse führen. Einen John Reevyman hatte es schließlich nie gegeben, selbst wenn sich jemand in der Klinik an diesen Namen erinnern sollte. Seine tatsächliche Identität würde für immer verborgen bleiben. Erst recht, nachdem nun auch sämtliche Angaben über ihn aus der Klinikdatei gelöscht und seine Krankenakte samt Fotos vernichtet war. Und Simon konnte niemandem mehr von ihm erzählen – auch wenn er die Angelegenheit mit ihm lieber auf andere Weise gelöst hätte.
Außer ihm selbst gab es nichts mehr, was von seinem alten Leben übrig war. Nicht einmal seine Fingerabdrücke konnten ihn überführen. Er hatte keine mehr.
Er war ein Niemand, und darauf kam es jetzt an. Nur noch er allein wusste, wer er einst gewesen war, und er würde dieses Wissen mit ins Grab nehmen, denn es hatte keine Bedeutung. Alles, was noch zählte, war sein Vermächtnis an Sarah.
Er zog die Schildkappe tiefer ins Gesicht und stellte sich vor das Schaufenster eines Schuhladens. Von dort aus beobachtete er für eine Weile die Reflexion dessen, was auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor sich ging.
Immer mehr Neugierige sammelten sich an der Polizeiabsperrung, und als der Menschenauflauf groß genug war, um darin nicht aufzufallen, überquerte er die Straße. Im Schutz der Menge verfolgte er, wie der Sarg mit Jays sterblichen Überresten aus dem Haus getragen wurde.
Armer Jay. Was sie von ihm gefunden hatten, war bestimmt kein leicht zu ertragender Anblick gewesen. Er hatte schon seit Tagen nicht mehr in Jays Schlafzimmer nachgesehen, aber es bedurfte nicht viel Fantasie, um sich den Zustand der Leiche seines Freundes vorzustellen.
Jay hätte sich sicherlich dafür geschämt, wie er nun aussah, aber er hatte sich mit seinem Plan einverstanden erklärt.
Von mir aus kannst du ich sein, solange du es für nötig hältst, hatte er gesagt. Mich wird das nicht mehr kratzen. Und falls ich tatsächlich von oben zusehen kann, werde ich mir eins ins Fäustchen lachen, wenn du sie alle an der Nase herumführst, du Halunke.
Jay hatte ihm vertraut. Du wirst schon deine Gründe haben. Also mach, was du für richtig hältst.
Das Einzige, was er dafür als Gegenleistung verlangt hatte, war sein Tod gewesen.
Umso mehr bedauerte er, dass er sich so dumm angestellt hatte und dass Jay so elendiglich hatte sterben müssen.
In diesem Moment vernahm er eine vertraute Frauenstimme. Trotz all der Stimmen und dem Straßenverkehr um ihn herum erkannte er sie sofort. Diese Stimme hätte er überall herausgehört. Augenblicklich verstand er, wer Jays Leiche gefunden hatte, und er lächelte anerkennend. Wie auch immer Sarah es geschafft hatte, sie verdiente seinen Respekt.
Sarah verließ das Haus mit zwei Männern. Der ältere der beiden trug einen Anzug, und es war nicht schwer zu erraten, dass es sich um einen Polizisten handelte. Der zweite Mann mit den dunklen Haaren musste etwa in Sarahs Alter sein. Er ging dicht neben ihr, und ihre Haltung zueinander verriet große Vertrautheit, als ob sie sich schon sehr lange kannten.
»Mr. Behrendt, Sie beide fahren mit mir«, rief der Polizist den beiden durch das Stimmengewirr zu, und nun war ihm klar, wer dieser zweite Mann war.
Mark Behrendt.
Er hatte von ihm in Sarahs Tagebüchern gelesen. Ihr Jugendfreund Mark, der für sie einst wie ein Bruder gewesen war.
Die Vergangenheit hilft der Zukunft, dachte er, während die beiden in den Wagen des Polizisten stiegen.
Er sah ihnen hinterher, bis der Wagen im Straßenverkehr verschwunden war, dann ging er in die entgegengesetzte Richtung zur U-Bahn-Station. Er war noch keine zehn Meter weit gekommen, als ein brennender Schmerz seinen ganzen Körper durchzuckte. Er krümmte sich und musste sich gegen die Hauswand stützen.
Die Schmerzattacken kamen nun in immer kürzeren Abständen, und ihm war klar, was das bedeutete. Es war an der Zeit, es zu Ende zu bringen.
Sarah musste die Wahrheit erfahren.
Lange konnte er nicht mehr warten.
66.
Der Geräuschpegel auf dem Brixtoner Polizeirevier war trotz der frühen Abendstunde beachtlich. Beamte liefen über den Korridor und unterhielten sich laut wie im Pub, Telefone klingelten in Büros, deren Türen sperrangelweit offen standen, doch als Blake sie in den kleinen quadratischen Raum führte und die Tür hinter sich schloss, war es augenblicklich totenstill.
Es war, als würden die kahlen weißen Wände jeden Laut schlucken, und Sarah fühlte Beklommenheit in sich aufsteigen, die sich wie ein Kloß in ihrer Kehle festsetzte. Aus zwei der Zimmerecken sahen kleine schwarze Kameras auf sie herab. Sie zweifelte nicht daran, dass sie eingeschaltet waren.
Mark wartete auf einem der Besucherstühle vor der Tür. Sie wünschte, er wäre jetzt bei ihr, doch der Detective Inspector hatte darauf bestanden, sie beide getrennt zu befragen.
»Hier, bitte«, sagte Blake und stellte einen Becher Tee vor ihr auf dem Tisch ab. »Ist zwar nur aus dem Automaten, aber wenigstens ist er heiß. Wie geht es Ihnen jetzt?«
»Was glauben Sie denn?«
Sie starrte auf den Teebecher und kämpfte gegen einen erneuten Schub von Übelkeit an, der sich mit einem säuerlichen Geschmack in ihrem Mund ankündigte. Ihr war kalt. Es war eine tiefe innere Kälte der Erschöpfung und der Angst. Dass dieser Inspector Blake sie hier allein sprechen wollte, war kein gutes Zeichen. Alles in ihr verkrampfte sich, während sie sich auf das Schlimmste gefasst machte.
Blake setzte sich und legte eine braune Aktenmappe und ein Diktiergerät vor sich auf den Tisch.
»Sind Sie damit einverstanden, dass ich unser Gespräch aufzeichne?«
Sarah nickte und umschloss den Becher mit beiden Händen. Für einen Augenblick spürte sie seine wohltuende Wärme, ehe sie schließlich die Frage stellte, vor deren Antwort sie sich am meisten fürchtete.
»Ist … ist mein Mann tot?«
Blake sah sie an, als müsse er sich die Antwort zuerst überlegen, oder als wollte er abschätzen, wie sie darauf reagieren würde. Er wirkte auf seltsame Weise misstrauisch, und das irritierte sie.
Er räusperte sich. »Ich weiß es nicht. Aber ehrlich gesagt, Mrs. Bridgewater, gehen wir zurzeit einer ganz anderen Frage nach. Nicht zuletzt nach dem, was Sie mir über diesen Unbekannten in Ihrem Haus erzählt haben.«
»Was soll das heißen?«
»Das soll heißen, dass damit ein neuer Sachverhalt hinzugekommen ist, der mich ehrlich gesagt ziemlich verwirrt.«
»Neuer Sachverhalt? Was wissen Sie denn bisher?«
Blake schaltete das Diktiergerät ein und schob es in die Mitte der Tischplatte.
»Ich möchte Ihnen gern ein paar Fragen stellen, Mrs. Bridgewater. Sagt Ihnen der Name Katherine Parish etwas?«
»Nein, wer soll das sein?«
Er öffnete die Mappe, nahm ein Foto heraus und legte es vor sie. »Haben Sie diese Frau vielleicht schon einmal gesehen?«
Sarah zog das Bild näher zu sich heran. Es war das Porträt einer attraktiven Frau um die dreißig mit einer auffallenden rotblonden Lockenmähne und strahlend grünen Augen. Die Frau lächelte fotogen in die Kamera. Sie war hübsch wie ein Model und auch entsprechend groß. Sarah erinnerte sich, dass sie sie mit ihren hohen Absätzen fast um einen Kopf überragt hatte.
»Ja, doch, ich erkenne sie. Eine Kundin meines Mannes. Sie hatte ihn mit einem Plan für den Umbau ihres Hauses beauftragt, wenn ich mich richtig erinnere. Ist aber schon eine Weile her. Warum zeigen Sie mir dieses Foto?«
»Sie kennen diese Frau also?«
»Nur vom Sehen. Warum?«
Blake nahm das Foto und schob es wieder in die Mappe zurück. »Wir gehen davon aus, dass sie das Opfer eines Gewaltverbrechens wurde.«
Sarah fuhr zusammen und hätte fast ihren Tee verschüttet. »War es etwa derselbe Kerl, der auch meinen Mann entführt hat?«
»Nein, das glaube ich nicht, Mrs. Bridgewater.«
»Und wieso nicht?«
»Nun, offen gesagt wussten wir bisher nichts von einem Mann mit Narbengesicht. Nur das, was Sie, Mr. Behrendt und Mrs. Livingstone uns erzählt haben. Wobei Mr. Behrendt diesen Mann nicht selbst gesehen hat, das ist doch richtig?«
»Ja, das ist richtig. Aber dann verstehe ich nicht, warum Sie mich nach dieser Miss …«
»Parish.«
»… nach dieser Miss Parish fragen. Was hat das mit meinem Mann zu tun?«
»Das versuchen wir gerade herauszubekommen«, sagte Blake und sah sie wieder auf diese merkwürdig misstrauische Art an. »Wann genau hat Ihr Mann die Pläne für Miss Parishs Haus erstellt?«
»Vor ungefähr einem Jahr, glaube ich. Vielleicht ist es auch schon ein bisschen länger her.«
Er nickte, als würde die Angabe mit seinen Informationen übereinstimmen, und Sarah wurde klar, dass der Detective Inspector von Dingen wusste, die er ihr gegenüber noch zurückhielt. »Hatte Ihr Mann danach noch Kontakt zu ihr?«
»Das weiß ich nicht. Ich bin dieser Frau nur einmal in Stephens Büro begegnet.« Der Ausdruck auf Blakes Gesicht deutete an, dass er diesmal anderer Ansicht war. »Aber Sie denken etwas anderes, nicht wahr?«
Wieder nickte Blake.
»Nein«, stieß Sarah hervor, »das ist nicht Ihr Ernst! Wollen Sie damit andeuten, dass diese Frau und mein Mann …« Sie sprach es nicht aus, und als der Detective Inspector nichts darauf erwiderte, schüttelte sie den Kopf. »Aber das ist doch Unsinn!«
Blake machte eine bedauernde Geste. »Ich fürchte nein, Mrs. Bridgewater. Wir haben Grund zu der Annahme, dass Ihr Mann ein Verhältnis mit Miss Parish unterhielt. Nach allem, was wir bisher wissen, entspricht der Zeitraum in etwa Ihren Angaben. Er muss sie vor ungefähr einem Jahr kennengelernt haben.«
»Aber was reden Sie denn da?« Es klang so absurd, dass Sarah lachen musste. »Stephen soll eine Affäre mit dieser Frau gehabt haben?«
»Es tut mir leid, aber es sieht ganz danach aus.«
»Nein!« Sarah winkte abwehrend. »Niemals!«
Blake sah sie weiter an und verzog keine Miene.
»Okay, das reicht jetzt!« Sie sprang von ihrem Stuhl auf und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Mr. Blake, Sie haben offenbar keine Ahnung, was ich in den letzten Tagen durchgemacht habe. Ich wohne bei einer Freundin, weil sich mein sechsjähriger Sohn nicht mehr nach Hause traut, seit dort ein Verrückter eingedrungen ist. Dieser Kerl hat meinen Mann in seiner Gewalt und vielleicht sogar schon umgebracht. Er bedroht mich. Und Ihre Kollegen sind unfähig oder einfach nicht gewillt, mir zu glauben. Und jetzt kommen Sie daher und erzählen mir diesen Blödsinn! Das muss ich mir nicht länger …«
»Mrs. Bridgewater, hören Sie …«
»Nein, jetzt hören Sie mir zu! Ihre Kollegen haben mir versprochen, nach Stephens Wagen zu fahnden. Das liegt jetzt drei Tage zurück. Drei gottverdammte Tage, ohne dass ich ein Lebenszeichen von ihm habe! Er wurde entführt, verdammt nochmal, warum will mir das niemand glauben? Von demselben Kerl, der auch diesen Wakefield umgebracht …«
»Mrs. Bridgewater«, Blake hob beschwichtigend die Hände, »Mrs. Bridgewater, bitte setzen Sie sich wieder.«
»Nein«, sagte sie entschieden, »ich werde jetzt gehen. Ich muss zu meinem Sohn zurück. Denn der braucht mich. Und ich werde weiter nach meinem Mann suchen, wenn Sie es nicht tun, darauf können Sie sich verlassen.«
»Ich kann Sie nicht zurückhalten«, sagte Blake und griff erneut in die Mappe. »Aber bevor Sie gehen, sehen Sie sich bitte das hier noch an.«
Er legte ein weiteres Foto auf den Tisch, schob es Sarah zu, und ihr blieb beinahe das Herz stehen.
Blake deutete auf ihren Stuhl. »Vielleicht sollten Sie sich doch lieber wieder setzen.«
Sarah starrte auf das Foto und konnte nicht glauben, was sie sah. »O Gott, nein!« Sie schlug beide Hände vors Gesicht, schüttelte den Kopf und ließ sich auf den Stuhl sinken. »Bitte nicht, bitte nicht!«
Die Aufnahme zeigte Stephen zusammen mit Katherine Parish auf einer Party, irgendwo an einem Sandstrand, und Sarah dachte: Torbay, die englische Riviera, dort hatte Stephen einen Kundentermin im letzten Sommer. Nur dass es augenscheinlich nicht um Geschäftliches gegangen war.
Katherine trug ein Bikinioberteil, das ihre vollen Brüste nur knapp bedeckte. Sie hatte ihren Arm um Stephens Schultern gelegt und küsste ihn auf die Wange, während Stephen in die Kamera lachte. Es war kein flüchtiger Partykuss, nein, die beiden waren ein Paar. Das war nicht zu übersehen.
Als ob er mich auslacht, dachte sie und starrte auf das Hawaiihemd, das Stephen auf dem Foto trug. Sie hatte es noch nie zuvor an ihm gesehen. Auf wie vielen seiner angeblichen Geschäftsreisen mochte er es getragen haben? Und warum war es ihr nie bei seiner Wäsche aufgefallen? Hatte er es etwa bei dieser Katherine aufbewahrt, zusammen mit weiteren Dingen, von denen sie nichts wusste?
Der Gedanke, dass Stephen ein Zweitleben geführt haben sollte, schien ihr immer noch unglaublich. Aber es war ganz offensichtlich so.
Warum hatte sie nie etwas bemerkt? Keine Anzeichen. Nichts.
Weil du viel zu sehr mit dir und deinen Ängsten beschäftigt warst, flüsterte eine Stimme in ihr. Und weil du es nicht hättest wahrhaben wollen, selbst wenn du Anzeichen bemerkt hättest.
Aber nun hatte sie den unwiderlegbaren Beweis vor sich. Hier war sie also, ihre höchsteigene Apokalypse, das Ende ihres scheinbar heilen Familienlebens.
Nun kennst du den wahren Grund, vor dem du dich gefürchtet hast. Jetzt ergibt deine Versagensphobie einen Sinn, deine Angst hat ein Gesicht bekommen. Das Gesicht von Katherine Parish.
»Es gibt noch weitere Aufnahmen«, sagte Blake, »aber ich denke, ich sollte sie Ihnen ersparen.«
Sarah lehnte sich schwer atmend zurück. Sie musste sich erst sammeln, ehe ihr klar wurde, weshalb Blake sie hierhergebeten hatte. Es ging nicht darum, dass Stephen ein Verhältnis gehabt hatte. Es ging darum, was dieser Frau zugestoßen war.
»Was … ist mit ihr geschehen?« Sarah musste schlucken, um ihrer Übelkeit Herr zu werden, und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Auf ihrer Stirn stand kalter Schweiß.
»Wir wissen es nicht genau«, sagte Blake. »Sie ist verschwunden. Offenbar hat in ihrer Wohnung ein Kampf stattgefunden. Wir haben Blut gefunden. Eine große Menge Blut. Es stammt zweifelsfrei von Miss Parish.«
Wieder musste Sarah schlucken, dann fragte sie mit tonloser Stimme: »Und Sie glauben, dass … dass mein Mann etwas damit zu tun hat?«
Blake wiegte den Kopf. »Es wäre durchaus möglich. Wir haben diese Fotos und einige persönliche Gegenstände Ihres Mannes in Miss Parishs Haus gefunden.«
»Persönliche Gegenstände?«
Blake wich ihrem Blick aus. »Nun, eine Zahnbürste, Rasierzeug, Kleidung … Wir müssen natürlich noch die DNS überprüfen. Aber wir haben auch sein Laptop gefunden. Außerdem gab es jede Menge Fingerabdrücke. Unter anderem unmittelbar im Blut des Opfers auf einer Tischplatte.«
Sarah umklammerte die Armlehnen ihres Stuhls. Das Albtraumgefühl war wieder da, und sie hätte alles dafür gegeben, wenn sie jetzt hätte aufwachen können. Noch immer war da die irrige Hoffnung, dass dieser Blake einem schrecklichen Irrtum aufgesessen war. Dass alles nur ein absurdes, ungeheuerliches Missverständnis war.
»Und woher kennen Sie die Fingerabdrücke meines Mannes?«, fragte sie mit matter Stimme, aber sie ahnte die Antwort bereits.
»Ihr Mann war zwei Jahre bei der Armee. Dort werden, wie Sie vielleicht wissen, die Abdrücke standardmäßig registriert.«
»Richtig«, sagte sie und sank in sich zusammen. »Natürlich.«
Blake ließ ihr kurz Zeit, ehe er die nächste Frage stellte. »Hat Ihr Mann irgendwelche Reisepläne erwähnt?«
»Er wollte letzten Freitag zu einem Kunden fahren. Wegen eines neuen Auftrags. Seither habe ich ihn nicht mehr gesehen. In dieser Nacht ist dann der Unbekannte bei mir aufgetaucht.« Sie sah zum Inspector auf. »Er trug Stephens Anzug. Verstehen Sie?«
Blake kratzte sich an der Schläfe. »Tja, das ist eine ziemlich verrückte Geschichte, der wir natürlich nachgehen werden. Nach unseren Informationen hatte ihr Mann gemeinsam mit Miss Parish ein Wochenende in einem Wellnesshotel in Wales gebucht. Er hat das Zimmer auf den Namen Parish bestellt. Allerdings sind die beiden nie dort angekommen.«
Sarah holte ein paarmal tief Luft, dann nickte sie. »Deshalb also das viele Bargeld«, flüsterte sie, mehr zu sich selbst.
Der Detective Inspector hob eine Braue und beugte sich vor. »Verzeihung?«
»Stephen hat sechshundert Pfund in bar von seinem Konto abgehoben«, erklärte sie. »Ich dachte zuerst, er könnte das nicht gewesen sein, weil er nie viel Bargeld mit sich herumträgt, aber jetzt ergibt das natürlich einen Sinn. Ich mache seine Buchhaltung, und es wäre mir sonst auf seinen Kreditkartenbelegen aufgefallen.«
Er hat dich belogen und betrogen, meldete sich die Stimme in ihrem Kopf wieder, höhnisch und schadenfroh. Sie klang wie die Stimme ihres Vaters, wenn er betrunken war und sich einen Spaß daraus gemacht hatte, sie zu demütigen. Es klang wie: Sieh dich doch nur einmal an, du hässliches kleines Ding. Du wirst es nie zu etwas bringen. Du bist genauso hässlich und dämlich wie deine Mutter. Scheiße, womit habe ich so etwas nur verdient?
Ja, genauso kam sie sich nun auch vor: hässlich und dämlich. Und verraten. Von ihrem eigenen Mann.
»Mrs. Bridgewater?«, holte Blake sie aus ihren Gedanken zurück. »Es gibt da noch etwas, auf das ich mir keinen rechten Reim machen kann.«
Sarah sah ihn fragend an.
»Die besagten Fingerabdrücke in Miss Parishs Haus«, sagte Blake. »Sehen Sie, wir konnten die Spuren Ihres Mannes und die von Miss Parish eindeutig bestimmen, aber es gibt noch Spuren einer dritten Person. Das Problem ist, dass es sich dabei um keine wirklichen Fingerabdrücke handelt. Es sind verwischte Spuren, wie von jemandem, der feine Handschuhe trägt.«
»Also doch dieser Unbekannte«, sagte Sarah, und ein irrationaler Hoffnungsschimmer glomm in ihr auf. »Dann hat er es getan. Er hat sie beide entführt.«
»Nun ja, wie gesagt, wir werden diese Spur auf jeden Fall verfolgen, immerhin hat auch Mrs. Livingstone den von Ihnen beschriebenen Mann bei Mr. Wakefield gesehen. Aber …« Blake machte eine kurze Pause, ehe er weitersprach. »Sehen Sie, es könnte aber auch sein, dass die beiden Fälle in keinem direkten Zusammenhang stehen.«
Sarah sah den Inspector mit großen Augen an. Sie fasste sich an den Hals. Ihr war, als würde ihr jemand die Luft abschnüren. »Was wollen Sie damit sagen?«
»Mrs. Bridgewater«, sagte Blake in bedächtigem Tonfall und sah sie eindringlich an, »solange es keine eindeutigen Beweise gibt, dass dieser Mann mit dem Vorfall in Miss Parishs Haus zu tun hat, müssen wir auch sämtliche anderen Möglichkeiten in Betracht ziehen. Zum Beispiel, dass das Verschwinden Ihres Mannes und von Miss Parish nichts mit dem Tod von Mr. Wakefield zu tun hat. Deshalb frage ich Sie jetzt noch einmal, und bitte überlegen Sie sich die Antwort genau: Wissen Sie wirklich nicht, wo Ihr Mann sich gerade aufhält?«
67.
Seine Zeit lief ab. Die letzte Schmerzattacke war schlimmer gewesen als alle vorherigen, und diesmal schien sich keine Besserung mehr einstellen zu wollen.
Mühsam erklomm er die Metalltreppe. Es waren nur sechzehn Stufen durch das Halbdunkel – acht bis zu einer Plattform, dann eine Kehre und weitere acht, die zu einer schweren Stahltür führten –, doch es erschöpfte ihn, als würde er einen Berg besteigen.
Er keuchte. Der Puls stach ihm wie Messer in den Schläfen, seine Gliedmaßen schienen in Flammen zu stehen, und auf seiner Brust lag ein gewaltiger Druck, als sei er in eine stählerne Presse geraten. Schweißüberströmt ließ er sich auf der obersten Stufe nieder, hielt sich zitternd an dem rostigen Geländer fest und rang um Atem.
Er schmeckte Kupfer, zog ein Taschentuch aus seiner Jacke und wischte sich über den Mund. Das Taschentuch war augenblicklich mit frischem hellem Blut durchtränkt. Er legte den Kopf zurück, schluckte und bemühte sich, die Übelkeit zu ignorieren, die der Blutgeschmack ihm verursachte.
Als er die Augen schloss, sah er grelle Lichtflecken vor sich tanzen, und irgendwo, weit entfernt, glaubte er, ein Gesicht mit schwarzen augenlosen Höhlen zu erkennen. Es starrte ihn an.
Bald, schien es ihm zuzuflüstern, bald bist du wieder bei mir.
»Ich … ich bin noch nicht so weit.« Seine Worte klangen wie ein Stöhnen, das selbst aus weiter Ferne kam. »Es … gibt noch etwas … zu tun.«
Ich warte auf dich, erwiderte das Flüstern. Komm, komm zu mir!
Als er seine brennenden Augen wieder aufschlug, war das Gesicht verschwunden, und vor ihm war nur die feuchte Betonwand. Es gab kein Flüstern, nur das Heulen des Dezemberwinds, der sich weit über ihm in den Stahlträgern der Decke fing.
Im Endstadium werden Sie zu halluzinieren beginnen, hatte ihm der Arzt erklärt, und nun war ihm, als würde er Dr. Stone wieder gegenübersitzen – wie damals, an jenem Tag im Juni, der den Rest seines nur noch kurzen Lebens für immer verändern sollte.
Ich verstehe nicht, wieso Sie nicht schon früher zu mir gekommen sind, John, hatte Dr. Stone gesagt und ihn vorwurfsvoll angesehen. Ein Blick, mit dem er ihm hatte sagen wollen, dass es nicht seine Schuld sei, dass er ihm nicht mehr helfen konnte. Sie müssen doch gemerkt haben, dass mit Ihnen etwas nicht in Ordnung ist. Hatten Sie denn keine Schmerzen?
Natürlich hatte er es gemerkt, und natürlich hatte er Schmerzen gehabt, aber es war ihm gleichgültig gewesen. Der einzige Grund, weshalb er überhaupt den Arzt aufgesucht hatte, war die Frage gewesen, wie viel Zeit ihm noch blieb.
Denn als es angefangen hatte, als er gespürt hatte, dass es mit ihm zu Ende gehen würde, hatte er in diesem Schicksal eine Bestimmung erkannt. Er sollte noch etwas tun, etwas ganz Besonderes – auch wenn er zu dieser Zeit noch nicht gewusst hatte, was dieses Besondere sein sollte. Ein Vermächtnis, ja, damit sein Dasein auf dieser Welt einen Sinn gehabt hatte.
Damals hatte er begriffen, dass das menschliche Dasein vor allem aus Ängsten besteht. Doch die größte Angst von allen ist, dass wir vergehen und nichts von uns zurückbleibt. Dass wir aus dieser Welt gehen, ohne zuvor einen Beitrag geleistet zu haben.
Ich will Ihnen nichts vormachen, hatte Dr. Stone entgegnet. Ihre Brandnarben haben begonnen nach innen zu wuchern und Metastasen zu bilden. Sie sind bereits in ihrem ganzen Körper verstreut.
Wie lange habe ich noch, Doktor?
Dr. Stone hatte gezögert. Die Antwort fiel ihm offensichtlich schwer. Bleiben Sie einige Tage hier in der Klinik zur Beobachtung, dann kann ich Ihnen mehr sagen.
Also hatte er fast zwei Wochen in der Klinik verbracht und etliche Untersuchungen über sich ergehen lassen. Schließlich lagen die Ergebnisse vor. Es war sein Todesurteil.
Vierundzwanzig Monate. Maximal.
Stone hatte ihn überreden wollen, eine Therapie zu versuchen. Sie wird Sie nicht heilen können, aber sie würde die Schmerzen lindern, hatte er ihm versprochen. Doch er hatte abgelehnt und war gegangen. Er hatte erfahren, was er hatte wissen wollen.
Seither waren anderthalb Jahre vergangen.
Mit zitternden Händen holte er die kleine Tablettendose aus seiner Jackentasche hervor und betrachtete sie. Er hatte einen Apotheker bestechen müssen, um an das Morphin zu kommen. Dr. Stone hatte er nicht mehr sehen wollen und auch keinen anderen Arzt – nicht, nachdem er beschlossen hatte, zu einem Niemand zu werden und sämtliche seiner Spuren auszulöschen.
Auf Ihre eigene Verantwortung, hatte der Apotheker gesagt, nachdem er das Bündel Geldscheine unter dem Ladentisch hatte verschwinden lassen. Und denken Sie daran, selbst wenn Sie sich damit wie ein Gesunder fühlen, ist Ihr Körper krank. Gehen Sie also vorsichtig damit um, und übernehmen Sie sich nicht, andernfalls sind die Folgen fatal.
Er nahm zwei Pillen in den Mund, schloss die Augen und schluckte. Es war das erste Mal, dass er von dem Morphin Gebrauch machte. Die Wirkung setzte sehr schnell ein. Ihm war, als würden sich seine Schmerzen in eine dunkle Ecke zurückziehen. Wie ein Raubtier, das vor der Peitsche des Dompteurs zurückweicht.
Aber die Schmerzen waren nicht verschwunden. Sie belauerten ihn. Sie würden bald wieder zurückkehren und zu einer neuen Attacke ansetzen. Er musste sich also beeilen.
Er zog sich an dem Geländer hoch und öffnete die Stahltür, die mit kreischenden Scharnieren aufschwang. Dann betrat er die Halle, roch ihre steinerne Kühle und den Gestank menschlicher Exkremente.
Draußen war es bereits dunkel. Durch eines der schmutzigen Oberlichter konnte er die dünne Sichel des Mondes erkennen, und die Lichter der Stadt schienen matt und endlos weit entfernt hinter den großen staubigen Fenstern.
Seine Schritte hallten von den hohen Wänden wider, als er auf den Mann zuging, der dort auf dem Stuhl saß. Er blickte ihn angsterfüllt an, und sein Atem beschleunigte sich, was sich hinter dem Klebebandstreifen vor seinem Mund wie ein Pfeifen anhörte. Im Schein eines großen Flachbildschirms wirkten Stephen Bridgewaters Züge bleich und verzerrt, und er konnte die Schweißperlen auf seiner Stirn funkeln sehen.
Er trat neben ihn und fühlte seinen Puls. Schwach, aber konstant.
Dann kontrollierte er seine Handgelenke. Stephen hatte sie sich an den Fesseln wund gescheuert. In der ersten Zeit hatte er noch mit aller Kraft gekämpft, um sich zu befreien, doch inzwischen war er zu geschwächt und hatte aufgegeben. Die Wunden begannen zu verkrusten.
Er trat hinter den Stuhl und löste das Klebeband. Zuerst den langen Streifen, mit dem er Stephens Kopf fixiert hatte, und dann den zweiten von Stephens Mund.
Stephens Kopf fiel nach vorn. Er keuchte. Dann sah er zu ihm auf, verzog das Gesicht zu einer schmerzhaften Grimasse und bewegte die gerissenen Lippen, doch es kam kein Laut aus seinem Mund.
Er trat vor ihn und betrachtete Stephen für einen Moment. Stephen sah erbärmlich aus. Sein Gesicht war blass und eingefallen, und er stank nach Exkrementen.
»Stephen, Stephen«, sagte er kopfschüttelnd und holte einen Eimer Wasser, der auf einem rostigen Blechwaschbecken stand. Er schüttete ihn über Stephens Schoß aus, um Kot und Urin fortzuspülen.
Stephen starrte zwischen seine Beine und schnappte nach Luft, dann hob er den Kopf und versuchte erneut zu sprechen. Es musste ihm enorme Kraft abverlangen, aber schließlich glückte ihm ein einzelnes Wort. Ein schwaches, krächzendes: »Bitte …«
»Bitte was?«, sagte er und sah Stephen verächtlich an.
»Ich … habe … einen kleinen Sohn …«
»O ja, ich weiß, und es freut mich, dass du dich wieder an Harvey erinnerst. Du hast auch eine Frau, eine wunderbare Frau. Erinnerst du dich? Sie heißt Sarah. Du hast sie betrogen. Also appelliere nicht an mein Mitgefühl. Das hast du wohl kaum verdient.«
Aus Stephens Kehle drangen unartikulierte Laute, dann sackte sein Kopf nach vorn auf die Brust. Er packte ihn am Kinn und hob ihn an, damit Stephen ihm in die Augen sah.
»Weißt du eigentlich, warum du hier bist? Weißt du, warum ich das alles für dich tue?«
Wieder bewegte Stephen Bridgewater nur stumm die Lippen.
»Du hast deine Lektion noch nicht gelernt, fürchte ich.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Dabei sind wir fast am Ende angelangt.«
Er sah Stephen für eine Weile tief in die Augen, las seine Angst in ihnen. Und vielleicht auch einen Anflug von Reue. Zumindest hoffte er das.
»Also gut, bringen wir es hinter uns«, sagte er schließlich und ging zurück zum Eingang der Halle.
Neben der offenen Stahltür stand ein Infusionsständer. Es war ein ausrangiertes Modell, das Jay ihm einst auf einem Flohmarkt besorgt hatte. Die Rollen quietschten, als er ihn neben den Stuhl schob, an den Stephen gefesselt war.
Dann hängte er den Infusionsbeutel an den Haken und ließ den dünnen Plastikschlauch herabbaumeln.
»Ich habe alles getan, was ich konnte, Stephen«, sagte er und kniete sich vor ihn. »Leider wissen die meisten ihr Leben erst dann zu schätzen, wenn es zu Ende geht. Die Menschen jammern ständig über Nichtigkeiten. Sie sind immer unzufrieden. Sie streben nach Wohlstand und können den Hals nicht vollkriegen, und selbst wenn sie fett und gemästet sind, beschweren sie sich immer noch, dass andere vielleicht ein wenig mehr als sie abbekommen haben. Sie alle übersehen, was wirklich von Bedeutung ist. Jeder einzelne Tag ist ein Geschenk, aber nur die wenigsten begreifen das. Sie treten ihr Glück mit Füßen, weil sie es nicht erkennen. So wie du, Stephen.«
Er schob den Ärmel von Stephens Hemd zurück und setzte die Kanüle an einer der hervorgetretenen Venen seiner ausgemergelten Arme an.
Stephen wehrte sich, aber er war zu schwach.
»Halt ruhig, dann tut es nicht weh.«
Er sah zu Stephen auf, der einen wimmernden Laut von sich gab, als die Nadel in seine Vene drang. Dann befestigte er den Schlauch daran, erhob sich und öffnete den Zweiwegehahn. Er regelte den Zufluss auf ein Minimum.
»So bleibt dir mehr Zeit«, sagte er und drückte erneut einen Streifen Klebeband auf Stephens Mund. »Mehr Zeit, um über das nachzudenken, was du getan hast.«
Dann fixierte er Stephens Kopf wieder an der Stuhllehne, sodass er wie zuvor geradeaus auf den Bildschirm sah. Stephen blinzelte. Tränen rannen über sein Gesicht.
»Sieh genau hin«, raunte er ihm zu. »Sieh hin und verstehe.«
Er wandte sich von Stephen ab, ging zurück zur Tür und sah sich noch einmal um.
»Leb wohl, Stephen Bridgewater«, rief er ihm zu. »Nutze die Zeit, die dir noch bleibt!«
Dann warf er die Stahltür hinter sich ins Schloss.
Während er die Treppen hinabstieg, umklammerte er die Pillendose in seiner Jackentasche und dachte an Sarah.
Er musste zu ihr. Bevor es zu spät war.
68.
Mark machte sich Sorgen. Seit sie das Polizeirevier verlassen hatten, hatte Sarah kein Wort mehr gesprochen. Auf dem Weg zur U-Bahn-Station wirkte sie gedankenverloren und niedergeschlagen.
Er ahnte, was in ihr vorging. Nachdem Blake mit Sarah gesprochen hatte, war er an der Reihe gewesen, und anhand der Fragen, die der Detective Inspector ihm gestellt hatte, konnte er sich ein ziemlich genaues Bild machen. Die Polizei glaubte nicht an einen direkten Zusammenhang zwischen dem Tod von John Wakefield und dem Verschwinden von Stephen und dieser Katherine Parish. Sie glaubten Sarah nicht einmal die Geschichte von dem Eindringling mit dem Narbengesicht. Vielmehr unterstellten sie ihr, dass sie ihnen irgendetwas Wichtiges verschwieg.
Vielleicht vermuteten sie eine Eifersuchtstat. Es wäre eine bequeme Erklärung, zumal die ganze Geschichte, wie sie Mark und auch Sarah dem Inspector darzulegen versucht hatten, zugegeben sehr verworren war. Noch ergab das Ganze keinen Sinn – und solange Stephen und seine Geliebte nicht gefunden wurden, konnte Sarah von der Polizei kaum Hilfe erwarten. Bis dahin würde man sie wie eine Verdächtige behandeln. So viel stand fest.
Nur einer hätte bezeugen können, dass dieser unbekannte Mann tatsächlich in das Haus der Bridgewaters eingedrungen war und sie bedroht hatte. Doch Mark verstand nur zu gut, dass Sarah ihren Sohn aus all diesen Dingen heraushalten wollte. Harvey hatte schon genug durchgemacht, auch wenn er es vielleicht jetzt noch in seiner kindlichen Unbedarftheit verdrängen konnte. Das Schlimmste stand ihm erst noch bevor, denn ganz gleich, was seinem Vater zugestoßen war – ob er jemals wieder nach Hause kommen würde oder bereits tot war –, das Leben dieser Familie wäre nie wieder dasselbe wie zuvor.
Um zu Gwens Wohnung zu gelangen, mussten sie die District Line bis Stepney Green nehmen. Als sie in dem fast menschenleeren U-Bahn-Waggon saßen und die ewige Nacht der rußschwarzen Tunnelwände vor den Fenstern vorbeiraste, lehnte Sarah sich an Mark.
»Mark, könntest du mich bitte kurz halten?«
»Natürlich.«
Er hatte kaum seine Arme um sie gelegt, als sie ihr Gesicht an seiner Brust verbarg und zu weinen begann.
Mark sagte nichts. Er streichelte nur ihren Kopf und hielt sie fest.
Er hielt sie auch noch im Arm, als sie die U-Bahn-Station verließen, und es war, als müsste er sie stützen, bis sie vor Gwens Haus angekommen waren.
Dort löste Sarah sich von ihm. Sie atmete tief durch und sah ihn an.
»Ich gebe mich geschlagen, Mark«, sagte sie mit leiser Stimme. »Wenn dieser Mann vorgehabt hat, mein Leben zu zerstören, dann hat er es geschafft. Ich kann nicht mehr, Mark.«
»Sarah, du …«
»Nein.« Sie winkte ab. »Es ist schon okay. Ich wüsste nicht, was wir noch tun könnten. Er hat sich nicht mehr bei mir gemeldet, und ich habe keine Idee, wo wir nach Stephen suchen sollten. Vor allem jetzt, wo ich weiß, dass er mich betrogen hat. Bis jetzt haben wir nach meinem Mann gesucht. Aber diesen anderen Stephen kenne ich nicht. Wie sollte ich ihn finden können? Es ist vorbei, Mark.«
Mark starrte vor sich auf den Boden. Eisiger Wind wehte durch die Straße und trieb ein leeres Kaugummipäckchen an seinen Schuhen vorbei.
Auch er war mit seinem Latein am Ende. Alles in ihm wehrte sich gegen die Vorstellung, aufgeben zu müssen, aber ihnen blieb keine andere Möglichkeit. Sie konnten nichts weiter tun, als darauf zu warten, dass die Polizei Katherine Parish finden würde und damit auch Stephen.
»Ich bin für dich da«, sagte er schließlich. »Wann immer du mich brauchst.«
»Das weiß ich.« Sarah lächelte erschöpft. »Ich danke dir, Mark. Danke, dass du mir geglaubt hast.«
Sie küsste ihn auf die Wange und wünschte ihm eine gute Nacht. Dann verschwand sie im Haus, wo Harvey bereits auf sie wartete.
69.
Er lehnte in einer engen unbeleuchteten Seitengasse an der Hauswand, keine fünf Meter von Sarah und Mark entfernt, und hörte ihnen zu.
Ihm war klar gewesen, dass Sarah zum Haus ihrer Freundin zurückkehren würde. Wohin sonst hätte sie gehen sollen außer zu Gwen, der treuen Seele, wie Sarah sie in ihren Tagebüchern genannt hatte. Gwen, die immer für sie da war, so, wie Jay für ihn da gewesen war, wenn auch nur viel zu kurz.
Inzwischen kannte Sarah also die Wahrheit über ihren Mann. Sie kannte noch nicht alles, aber auf jeden Fall das Wichtigste.
Er fragte sich, was nun in ihr vorgehen mochte. Sie musste wohl Ähnliches durchmachen wie er selbst, überlegte er. Denn war der Abschied von ihrem bisherigen Leben nicht auch so etwas wie Sterben?
Sicherlich hatte sie es zuerst nicht wahrhaben wollen, dass Stephen sie hintergangen hatte – so wie er die ersten Anzeichen seiner Krankheit zunächst ignoriert hatte. Sie würde es vor sich selbst abgestritten haben, wie sie es schon in der Vergangenheit getan hatte. Denn selbst als ihr klar geworden war, welcher Natur ihre Angst war, als ihr klar geworden war, dass sie sich vor dem Versagen fürchtete, hatte sie den wahren Grund vehement vor sich selbst verborgen.
Aber jetzt blieb ihr keine andere Wahl mehr, als das Unabänderliche zu akzeptieren – jetzt, wo es handfeste Beweise gab, die sie nicht mehr leugnen konnte. Ihre Ehe war unwiderruflich gescheitert. Jetzt musste sie begreifen, dass dies nicht ihre alleinige Schuld war.
Hier würde nun die Therapie greifen, die er sich für ihre Angst ausgedacht hatte. Sarahs Schuldgefühle und ihre Furcht, versagt zu haben, waren in Zorn umgeschlagen – auf sich selbst, aber vor allem auf ihn, den Unbekannten, der in ihr Leben eingedrungen war. So wie er es beabsichtigt hatte, denn dieser Zorn hatte sie angetrieben, alles Menschenmögliche zu unternehmen, die Dinge wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Jetzt hörte er sie sagen, dass sie aufgeben wollte. Und das bedeutete nichts anderes, als dass sie die Dinge so akzeptierte, wie sie tatsächlich waren.
Ja, nun starb sie. Und durch diesen Tod würde sie ein neues, besseres und vor allem ehrlicheres Leben beginnen können.
Bei diesem Gedanken musste er lächeln, ehe ihn ein plötzlicher Hustenanfall schüttelte. Erschrocken presste er sich die Hand vor den Mund und zog sich weiter in die Dunkelheit der Gasse zurück, vor Angst, dass Sarah oder ihr Freund ihn hören könnten.
Doch niemand kam, um nachzusehen. Sie waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Ihm war jämmerlich kalt, und die Schmerzen kehrten aus ihrem dunklen Versteck zurück. Ihre Vorhut attackierte bereits wieder seinen Kopf, und das Druckgefühl auf seiner Brust nahm erneut zu.
Nachdem er gehört hatte, wie Sarah ins Haus gegangen war, schluckte er noch zwei seiner Pillen und wartete, bis die Wirkung des Morphins einsetzte.
Wenig später straffte er sich und trat aus der Gasse hinaus auf die Straße. Er betrachtete Gwens Haus, sah die Schatten der beiden Kinder hinter einem der beleuchteten Vorhänge und nickte.
Es ist so weit, dachte er. Zeit für deine letzte große Lektion, Sarah Bridgewater. Die Lektion über den ewigen Kreislauf des Daseins. Schmerz, Tod und danach ein neues Leben.
70.
Mark konnte es Sarah nicht verdenken, dass sie resigniert hatte. Sie hatten geglaubt, es sei möglich, die Pläne dieses Mannes zu durchschauen – ja, vielleicht sogar ihm zuvorkommen zu können. Sie hatten geglaubt, es sei möglich, ihn zu überlisten, weil Sarah in Marks Fähigkeit vertraut hatte, sich in andere Menschen hineinzuversetzen.
Aber dieser Mann hatte sie eines Besseren belehrt. Die Spur, die er ihnen gelegt hatte – die Blumen und der Brief mit dem Foto –, hatte sie in eine Sackgasse geführt, und Mark war überzeugt, dass dies einzig und allein dem Zweck gedient hatte, Sarah noch tiefer in Angst und Verzweiflung zu stürzen.
Mark hatte Sarah nicht helfen können. Ebenso wie er Tanja nicht hatte helfen können. Er war nicht in der Lage gewesen, Tanjas Mörder aufzuspüren, und auch in Sarahs Fall hatte er versagt.
Er verlangsamte seinen Schritt. Wieder verspürte er das dringende Verlangen nach Alkohol, nach etwas Brennendem in seiner Kehle, mit dem er seinen Verstand betäuben konnte. Er ertrug den Gedanken nicht, dass es Sarah nun ebenso ergehen sollte wie ihm. Dass ein Unbekannter wie aus dem Nichts erschien und ihr Leben zerstörte, nur um daraufhin wieder zu verschwinden und sie mit all den quälenden Fragen zurückzulassen, auf die sie keine Antworten erhalten würde.
Irgendwann würde sie ebenfalls daran zerbrechen, das wusste er. Vielleicht würde es länger dauern als bei ihm, vielleicht würde ihr Harveys Gegenwart noch für eine Weile Kraft und Trost spenden, aber letztlich würde es sich nicht vermeiden lassen. Dafür waren sie sich viel zu ähnlich.
Der Kiosk neben dem Eingang zur U-Bahn hatte bereits geschlossen. Im ersten Moment ärgerte sich Mark darüber, doch dann kehrte sogleich seine Vernunft zurück, und er war froh, dass er nun keine Chance hatte, der Versuchung zu erliegen und sich zu betrinken. Er sah weit und breit keinen Pub und auch keinen Spirituosenladen, und das war gut so.
Er lief die Stufen zum Bahnsteig hinab und hörte gerade noch, wie die U-Bahn abfuhr. Mit einem stummen Fluch sah er auf die Anzeige über der menschenleeren Plattform. Der nächste Zug würde in fünfzehn Minuten eintreffen.
Er ließ sich auf eine Metallbank sinken und starrte auf die weiß und grün gekachelte Wand jenseits der Gleise. In einiger Entfernung vernahm er Schritte auf dem Treppenabgang.
»Bravo«, rief ihm eine tiefe raue Stimme zu. »Sie haben mir gerade eine Entscheidung abgenommen.«
Mark sah sich zu dem Mann um, der aus dem Durchgang auf den Bahnsteig kam. Er trug einen hellen Mantel, der ihm ebenso zu kurz war wie der dunkle Anzug. Mark erkannte ihn sofort, auch wenn das vernarbte Gesicht halb unter seiner Schildkappe verborgen war.
Diese Kappe ist das Einzige, das tatsächlich zu ihm gehört, dachte er und stand auf. Er spürte, wie ihm flau wurde.
»Sie?«
»Guten Abend.«
Der Mann nickte grüßend und kam schlurfend näher, die Hände in den Manteltaschen, der Oberkörper leicht gekrümmt. Er blieb in einigem Abstand vor Mark stehen.
»Tja, Mark, ich dachte, wir sollten uns einmal unterhalten.«
»Sie kennen meinen Namen?«
Der Mann sah ihn mit einem unbestimmten Lächeln an, das sein Narbengesicht wie eine hässliche Maske wirken ließ. »Sicher. Sarah hat mir schon viel von Ihnen erzählt.«
»Ach ja? Hat sie das?«
Sein Lächeln wurde breiter. »Nun ja, nicht persönlich, aber in ihren Tagebüchern. Sie spricht darin sehr offen.«
»Sie glauben, Sie kennen Sarah, weil Sie Ihre Tagebücher gelesen haben? Ist das der Grund, weshalb Sie ihr das alles antun?«
»Ich kenne Sarah besser, als Sie denken«, sagte der Mann, ohne auf Marks letzte Frage einzugehen. »Sie bedeuten ihr sehr viel. Sarah hat Sie sehr oft erwähnt. Sie waren für sie der große Bruder, den sie sich immer gewünscht hat. Umso mehr freut es mich, dass meine kleine Intervention Sie beide wieder zusammengeführt hat. Sarah hat Sie vermisst, wussten Sie das?«
»Wer sind Sie?«, fragte Mark. »Wie heißen Sie?«
»Mein Name hat nichts zu bedeuten. Ich bin ein Niemand.«
»Sagen Sie ihn mir trotzdem. Wie soll ich Sie ansprechen?«
Für einen Moment schien der Mann zu überlegen. »Also gut«, sagte er schließlich. »Nennen Sie mich Hiob. Das würde es recht gut treffen, denke ich.«
Mark sah ihn skeptisch an. »Der Hiob, dem Gott alles Unheil hat widerfahren lassen, um seinen Glauben zu prüfen?«
Der Mann nahm die Hände aus den Taschen, und das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. »Sie wissen nichts, Mark. Überhaupt nichts.«
Mark machte einen vorsichtigen Schritt auf ihn zu. »Okay, denken Sie nicht, es wäre dann an der Zeit, mir endlich zu sagen, was Sie mit diesem Spiel bezwecken?«
»O nein, es ist kein Spiel, Mark. Das war es zu keiner Zeit.«
Der Mann, der sich Hiob nannte, schob seine Kappe ein Stück hoch, sodass sie sich in die Augen sehen konnten. Obwohl es nicht besonders hell in der U-Bahn-Station war, waren seine Pupillen zu kleinen dunklen Punkten verengt. Eine Miosis, dachte Mark, wie sie etwa durch die Einnahme von Morphium hervorgerufen wird.
Mark hielt seinem Blick stand. »Na schön, Hiob, wenn es also kein Spiel ist, was ist es dann?«
»Ich will Sarah helfen.«
»Sarah helfen?«, rief Mark lauter als beabsichtigt. »Etwa, indem Sie Ihren Mann entführen?«
Der Mann schob die Hände wieder in die Manteltaschen und zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Das hat Stephen sich selbst zuzuschreiben. Er hat sich wie der sprichwörtliche Esel verhalten, der aufs Eis geht, wenn es ihm zu wohl ist. Aber ich bin mir sicher, er hat inzwischen verstanden, dass das Eis zu dünn gewesen ist.«
»Wo ist Stephen? Und wo ist diese Frau?«
Hiob senkte den Kopf und seufzte, dann sah er wieder zu Mark auf. »Stephen hat seine Lektion gelernt«, sagte er leise. »Mit ihm bin ich fertig.«
Mark spürte, wie sich alles in ihm zusammenzog. Diese Antwort hatte er befürchtet. »Das heißt … er ist tot?«
»Das habe ich so nicht gesagt.«
»Er lebt also noch?«
»Möglicherweise.« Der Unbekannte sah auf die Uhr über dem Bahnsteig, dann wiegte er abschätzend den Kopf. »Aber wenn, bleibt ihm nicht mehr viel Zeit. Er ist zwar zäh, aber wahrscheinlich nicht zäh genug.«
»Dann sagen Sie mir, wo er ist!« Wieder tat Mark einen Schritt nach vorn, doch diesmal wich Hiob vor ihm zurück. »Deswegen sind Sie mir doch gefolgt, oder? Weil Sie mit mir reden wollen. Also gut, dann reden Sie! Denken Sie denn nicht, es ist allmählich genug?«
Hiob musterte Mark, wie um ihn einzuschätzen. Schließlich nickte er, langsam und bedächtig, als habe er sich seine Meinung über Mark gebildet.
»Sehen Sie, Mark, ich bin aus zweierlei Gründen hier. Zum einen möchte ich, dass Sie mich sehen. Um Sarahs willen, damit die Polizei versteht, dass sie nichts Unrechtes getan hat.«
»Sagen Sie es ihnen doch selbst. Wozu brauchen Sie mich dafür? Stellen Sie sich. Machen Sie diesem ganzen Theater ein Ende.«
Hiob rümpfte abfällig die Nase. »Sie wissen noch nicht alles, Mark, also hören Sie mir lieber zu. Ich verlange nicht viel von Ihnen. Sie sollen nur bezeugen, dass es mich gibt, und dass ich tatsächlich der Einzige bin, der Stephen Bridgewaters gegenwärtigen Aufenthaltsort kennt.«
»Okay, wenn Ihnen Sarah wirklich so sehr am Herzen liegt, dann sagen Sie es mir. Wo ist Stephen?«
Wieder huschte ein Lächeln über Hiobs Gesicht, das Mark nicht deuten konnte. Vielleicht lag es daran, dass der Mann unter Drogen stand. Oder dass ihn diese Unterhaltung auf eine gewisse Weise mit Genugtuung erfüllte. Hatte Hiob auf diesen Augenblick vielleicht nur gewartet?
»Es gibt ein Sprichwort«, sagte er. »Bestimmt kennen Sie es. Gottes Mühlen mahlen langsam. Ich habe lange darüber nachgedacht und bin zu einem Schluss gelangt.« Er machte eine bedeutsame Pause, ehe er weitersprach. »Dieses Mahlen kann manchmal ein ganzes Jahrtausend dauern. Merken Sie sich das, Mark. Sie sollten es nie vergessen. Denn mehr werde ich Ihnen dazu nicht sagen.«
Noch immer begriff Mark nicht, worauf dieser Mann hinauswollte. Was bezweckte er mit dieser Unterhaltung?
»Was soll das, Hiob? Warum tun Sie das alles?«
Nun bedachte ihn der Unbekannte mit einem Blick, als sähe er auf ein begriffsstutziges Kind herab. »Das sollten Sie sich inzwischen denken können. Stephen hatte es verdient, Mark. Er und diese Schlampe. Aber vor allem er. Er hat eine wunderbare Familie, er ist gesund und beruflich erfolgreich. Wie kann ein Mann all das aufs Spiel setzen? So etwas musste doch bestraft werden.«
Noch immer waren sie allein auf dem Bahnsteig. Mark dachte an sein Handy. Es steckte in der Brusttasche seiner Jacke. Er sollte die Polizei verständigen, diesen Detective Inspector Blake. Aber noch zögerte er.
Er wisse noch nicht alles, hatte dieser Hiob gesagt, und er wirkte so entschlossen. Er führte noch etwas im Schilde, und wahrscheinlich würde er einfach alles abstreiten, wenn Mark jetzt die Polizei riefe. Stephens Kleidung allein war kein Beweis. Der Unbekannte konnte sie ebenso gut irgendwo gefunden haben. Und wenn Stephen wirklich noch am Leben war und seine Zeit ablief, so wie es dieser Hiob behauptete, wäre es besser, wenn er ihn überzeugen könnte, ihm Stephens Aufenthaltsort zu verraten.
»Ja, Stephen scheint in der Tat einen Fehler begangen zu haben«, sagte Mark. »Darin stimme ich völlig mit Ihnen überein. Aber wer gibt Ihnen das Recht dazu, darüber zu urteilen?«
Hiob beugte sich leicht zu ihm vor, damit Mark ihm besser ins Gesicht sehen konnte. Das Gesicht war entsetzlich entstellt. Diese Brandnarben musste er schon seit Jahren mit sich herumtragen. Sie sahen nicht verwachsen aus, was darauf schließen ließ, dass Hiob sie sich als Erwachsener zugezogen hatte.
»Wer mir das Recht dazu gibt?«, wiederholte er. »Der Tod, Mark. Ich mache vom Recht der Sterbenden Gebrauch. Was für einen Sinn sollte der Tod sonst haben, wenn die Lebenden nicht daraus lernen?«
Mark schüttelte den Kopf. »Deshalb tun Sie Sarah das an? Sie bestrafen Sarah und ihre Familie, weil Sie krank sind und bald sterben werden? Wollen Sie dadurch auf sich aufmerksam machen? Denken Sie wirklich, Sie sind so wichtig?«
Hiob wich zurück und schüttelte energisch den Kopf. »Nein, Mark, Sie missverstehen das! Ich selbst spiele keine Rolle. Ich bin nur derjenige, der den beiden den Spiegel vor Augen hält. Sarah und Stephen haben sich selbst in diese Lage gebracht. Stephen mit seiner hirnlosen Affäre, und Sarah, die sich wider besseres Wissen in ihr Schneckenhaus zurückgezogen hat. Hätte ich etwa zusehen sollen, wie sie daran zerbricht?«
In seinem Gesicht begann es zu arbeiten. Er schien Schmerzen zu haben, aber Mark sah auch Verbitterung und Trauer in diesen Augen.
»Sie sind selbst an etwas zerbrochen, nicht wahr, Hiob?«, sagte er ruhig. »Und jetzt greifen Sie in Sarahs Leben ein, weil sie Sie an die Frau auf dem Foto erinnert. So ist es doch, oder?«
Hiob erstarrte und antwortete nicht.
»Wer war sie? Ihre Frau?«
»Sie war ein Opfer«, flüsterte er. »So wie ich.«
»Opfer? Opfer von was?«
»Das geht Sie nichts an!«
»Na schön, vielleicht geht es mich nichts an, aber Sarah geht es sehr wohl etwas an. Schließlich haben Sie sie deswegen ebenfalls zu einem Opfer gemacht. Zu Ihrem Opfer.«
»Sie täuschen sich, Mark. Sie war ihr eigenes Opfer. Ich habe Sie lediglich wachgerüttelt.«
»Okay, Sarah hat Ihre Botschaft bekommen. Das wissen Sie. Also sagen Sie mir jetzt endlich, wo Stephen und die Frau sind?«
»Das habe ich bereits getan.«
»Nein«, Mark winkte ab, »nein, das haben Sie nicht. Sie haben nur kryptisches Zeug geredet.«
»Dann strengen Sie sich an, Mark.« Wieder lächelte Hiob, und nun wirkte es boshaft. »Wenn Sie sich nicht beeilen, sind beide tot.«
Eine automatische Durchsage verkündete das Nahen der U-Bahn, und in der Schwärze des Tunnels hörte man fern das metallische Donnern des Zuges.
»Sie sollten diese Bahn nicht nehmen, Mark«, rief ihm Hiob zu und zog die linke Hand aus dem Mantel. »Gehen Sie zurück zu Sarah und sagen Sie ihr, sie soll sich beeilen. Sie wissen bereits alles, was nötig ist. Und geben Sie ihr das.«
Er öffnete die vernarbte Hand, und Mark sah den goldenen Ring darin. Er musste nicht genauer hinsehen, um zu wissen, dass es Stephens Ehering war.
»Nun nehmen Sie schon«, rief Hiob und sah in den Tunnel, aus dem ihnen nun ein eisiger Windhauch entgegenschlug, vermischt mit dem Geruch nach Teer und feuchtem Stein. »Das wird die Polizei überzeugen!«
»Und Sie? Was haben Sie nun vor?«
»Ich werde die Bahn nehmen und verschwinden.«
Mark sah ein Rinnsal Blut, das Hiob aus der Nase floss, und den Schweiß, der ihm plötzlich übers Gesicht lief.
»Sie werden mich nicht davon abhalten können, Mark. Also versuchen Sie es erst gar nicht.«
»Nein!«, rief Mark und ging auf ihn zu. »Warten Sie! Sie müssen es Sarah und der Polizei selbst erklären.«
»Das verstehen Sie nicht«, fuhr Hiob ihn an, dann stöhnte er plötzlich auf und krümmte sich zusammen, als habe ihm jemand in die Magengrube geschlagen.
Er drohte vornüber auf die Gleise zu stürzen, und mit zwei schnellen Schritten war Mark bei ihm. Er wollte Hiobs Sturz abfangen, doch kaum hatte er ihn gepackt, als er sah, wie Hiob einen schwarzen Gegenstand aus der rechten Manteltasche riss. Beinahe im gleichen Augenblick wurde er von einem heftigen elektrischen Schlag getroffen.
Mark zuckte zusammen und wurde durch den Schock zurückgeworfen.
Augenblicklich richtete Hiob sich wieder auf, sprang zu ihm und verpasste ihm einen weiteren Stromstoß mit dem Elektroschocker.
Mark wand sich auf dem Boden. Seine Muskeln zuckten unkontrolliert.
Hiob stand keuchend über ihm. »Es … tut mir leid, Mark. Sagen Sie Sarah …«
Dann schüttelte er den Kopf, wandte sich ab und sprang auf die Gleise.
»Nein!«, schrie Mark. »Tun Sie das nicht!«
Er wollte Hiob nachlaufen. Doch seine Beine zitterten zu sehr, und er schaffte es nicht, sich aufzurichten. Auf allen vieren kroch er an die Bahnsteigkante.
»Hiob! Verdammt, nein!«
Der Unbekannte drehte sich zu ihm um, verzog das Gesicht zu einem Grinsen, in das sich Angst und Verzweiflung mischten.
»Gott hat einen kranken Sinn für Humor«, schrie er ihm durch das Donnern des herannahenden Zuges zu. »Finden Sie nicht auch, Mark?«
Dann ging er los, in die Schwärze des Tunnels.
Mark brüllte, doch sein Schrei wurde vom metallenen Kreischen der Bremsen übertönt.
Dann folgte der Aufprall, und gleich darauf kam die U-Bahn am Ende des Tunnels zum Stehen.
Ihre Front war mit Hiobs Blut bespritzt.