2.
Sehr viel später, als alles vorüber war, schrieb Sarah Bridgewater in ihr Tagebuch: Das Schicksal ist ein launischer Weichensteller. Es führt Menschen zusammen, nur um sie wieder zu trennen. Und wenn es ihm gefällt, begegnen sie sich wieder – auf Wegen, die man sich in seiner wildesten Fantasie nicht vorstellen kann.
Ihre Hände zitterten, während sie diese Zeilen schrieb und sich an alles erinnerte.
Die Angst war aus der Stille gekommen. Als habe sie auf den richtigen Moment gelauert, um dann mit aller Macht über sie und ihre Familie hereinzubrechen.
Rückblickend wusste sie, dass es kleine Vorzeichen gegeben hatte. Erste leise Warnungen, die ihr jedoch entgangen waren.
So hatte das Unheil seinen Lauf genommen, ohne dass jemand es aufhalten konnte. Es hatte sich aus der Dunkelheit angeschlichen und unvermittelt zugeschlagen.
Alles hatte mit Harveys Albtraum von einem großen schwarzen Hund begonnen. Der Rest war eine unglaubliche Geschichte.
3.
In der Nacht zum 4. Dezember wehte ein frostiger Wind durch die Straßen von Forest Hill. Das Thermometer war in den letzten Tagen auf den Gefrierpunkt gesunken, doch entgegen der Wetterprognosen blieb der erhoffte Schnee zur Adventszeit aus.
Das Haus der Familie Bridgewater befand sich in einem der besseren Wohnviertel Südlondons. Es war von einer hohen Hecke umgeben, die nur durch die breite Zufahrt zum Eingang unterbrochen wurde. Wenn man in dieser Zufahrt stand, fiel einem die außergewöhnliche Bauweise des zweistöckigen Gebäudes auf. Elemente aus Glas und Beton fügten sich in georgianische Backsteinwände, sodass traditioneller britischer Klassizismus und Modernismus aufeinandertrafen, jedoch ohne disharmonisch zu wirken.
Stephen Bridgewater hatte das Haus selbst entworfen und dafür sowohl einen Architektur- als auch einen Umweltpreis erhalten. Für den Bau hatte er ein neuartiges Wärmedämmungskonzept angewandt, das sich als überaus wirkungsvoll und zudem noch kostengünstig erwies. Eine bessere Werbung für seine Arbeit hätte er sich nicht wünschen können. Bald schon waren sein Design und das Konzept derart gefragt gewesen, dass er seine Anstellung in einem Londoner Architekturbüro hatte kündigen und ein eigenes Ein-Mann-Unternehmen gründen können.
Seine anfänglichen Bedenken, das Bridgewater-Modell könne eventuell nur ein vorübergehender Trend sein, der wieder abflaute, noch ehe sein Unternehmen vollends Fuß in der Branche gefasst hatte, erwiesen sich als unbegründet. Inzwischen erhielt Stephen Anfragen von Privat- und Geschäftsleuten aus dem ganzen Land. Dementsprechend häufig war er zu Kundenterminen unterwegs.
So auch in dieser Nacht.
4.
Es war bereits gegen halb eins, und das Haus lag im Dunkeln. Nur hinter einem der Fenster im ersten Stock brannte noch Licht.
Wie immer in den letzten Monaten, wenn Stephen nicht zu Hause war, fand Sarah keinen Schlaf. Sie kam sich deswegen ein wenig albern vor, schließlich war die Abwesenheit ihres Mannes früher nie ein Problem für sie gewesen. Im Lauf ihrer fünfzehnjährigen Ehe hatte Stephen natürlich schon öfter die eine oder andere Nacht außer Haus verbracht. Und auch wenn Sarah selbst hatte geschäftlich verreisen müssen, hatte sie immer gut schlafen können, selbst in einem noch so hellhörigen Hotelzimmer.
Doch dann hatte sich etwas verändert. Ganz allmählich und zunächst unmerklich. Eine namenlose Angst, ein entsetzliches Grauen war aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins zur Oberfläche gestiegen. Zum ersten Mal war diese Angst vor etwas mehr als einem Jahr aufgetaucht. Seither war sie zu ihrem stetigen Begleiter geworden und trat immer dann in Erscheinung, wenn sie allein war.
Ihr Arzt hatte diese irrationale Angst als eine phobische Störung bezeichnet und ihr einen Therapeuten empfohlen, mit dem sie gemeinsam die Ursache ergründen sollte. Doch die Therapie hatte nicht so angeschlagen, wie sie es sich erhofft hatte, und Sarah musste immer häufiger an eine Formulierung denken, die sie einmal in einem Roman von Shirley Jackson gelesen hatte: Was auch immer dort umgehen mochte, ging allein um.
Auch jetzt war die Angst wieder hier bei ihr im Schlafzimmer.
Wie ein eisiger Windhauch.
Schnell schüttelte sie diesen Gedanken ab, sah kurz zur Uhr und vertiefte sich dann wieder in das Manuskript, das Nora ihr geschickt hatte.
Das ist der Vorteil, wenn man von Zuhause aus arbeitet, dachte sie. Man ist Herr seiner Zeit und kann in schlaflosen Nächten die Arbeit sogar mit ins Bett nehmen.
Sie überflog die ersten Seiten und las dann noch einmal das kurze Anschreiben, das Nora dem Manuskript beigelegt hatte.
Sorry, Liebes,
es wird Dir bestimmt wieder nicht gefallen. Aber so etwas verkauft sich nun einmal. Wenigstens stammt es diesmal von unserem Goldjungen. Du wirst es an Deinem Honorar merken.
Lass mich wissen, falls Du es trotzdem nicht machen willst. Keine Sorge, ich würde es verstehen.
Wir vermissen Dich hier!
Alles erdenklich Liebe und Gute für Dich,
Nora
Sarah lächelte. Ja, auch sie vermisste die Zeit, in der sie noch Tür an Tür gearbeitet hatten. Ihr fehlten Noras trockener Humor und ihre erfrischend jugendliche Art, die sie sich beibehalten hatte, auch wenn ihr fünfzigster Geburtstag schon ein gutes Stück hinter ihr lag.
Aber es gab Gründe, warum Sarah nicht mehr in den Verlag zurückkehren wollte. Triftige Gründe. Zum Beispiel die Türklinke zu ihrem Büro, die sie plötzlich nicht mehr hatte berühren können, ohne von Panikattacken heimgesucht zu werden. Oder Konferenzräume, in denen ihr scheinbar ohne jeden ersichtlichen Grund der kalte Schweiß ausgebrochen war und sie geglaubt hatte, sie müsse sich jeden Moment übergeben, wenn sie nicht sofort ins Freie lief.
Es waren Gründe, die jedem Außenstehenden verrückt erscheinen mussten und die deshalb nur schwer erklärbar waren. Immerhin hatte nicht einmal ihr Therapeut sie verstanden, auch wenn er ihr mit seinem einfühlsamen Blick zugenickt hatte.
Also blieb sie hier, in vertrauter heimischer Umgebung, und las, was auch immer Nora ihrem literarischen Urteil anvertraute. Sie hatte noch nie die Arbeit an einem Manuskript abgelehnt und würde es auch diesmal nicht tun. Dafür schätzte sie Noras freundschaftliche Unterstützung viel zu sehr. Ganz besonders, weil Nora nie nach den Gründen für Sarahs plötzliche Kündigung gefragt hatte. Es war ihr sichtlich schwergefallen, aber sie hatte Sarahs Entscheidung respektiert und ihr angeboten, sie auch weiterhin zu unterstützen, wo immer sie konnte.
»Sofern du das möchtest«, hatte sie hinzugefügt, und Sarah hatte ihr dankbar versichert, dass sie es möchte.
Deshalb widmete sie sich weiter dem neuesten Werk des jungen Autors, den die einschlägige Presse als den »Großmeister des Horrors« titulierte.
Es war eine der üblichen Serienkiller-Storys, die sich derzeit in den Buchläden türmten und reißenden Absatz erfuhren. Diesmal hatte es ein Psychopath auf schwangere Frauen abgesehen, denen er die Embryonen aus dem Körper schnitt, um seine Opfer anschließend damit zu ersticken.
Großmeister des Ekels wäre zutreffender, dachte sie und schüttelte missmutig den Kopf. Vor ihr lag eine weitere, über vierhundertseitige Aneinanderreihung realitätsferner Gewaltfantasien, die mit den Grausamkeiten ihrer Konkurrenz wetteiferte, um den Blutdurst der Leser zu befriedigen. Rasant heruntergeschrieben, ohne jeden Tiefgang.
Aber sie würde es durchstehen und sich einfach auf die sprachliche Überarbeitung konzentrieren, wie immer in solchen Fällen. Nora zuliebe, und auch für sich selbst. Denn solange sie von zu Hause aus arbeiten konnte, kam sie sich nicht völlig unnütz vor – trotz des zwangsweisen Abbruchs ihrer Karriere, und auch wenn Stephen immer wieder beteuerte, dass sie nicht arbeiten müsse, schließlich verdiene er genug.
Er schien sie nicht zu verstehen. Oder vielleicht wollte er auch einfach nicht verstehen, wollte nicht riskieren, einen Blick hinter die Fassade ihrer Ehe zu werfen. Dorthin, wo sich etwas Unbekanntes hinter allem Glück und vorgeblicher Zufriedenheit eingenistet hatte. Etwas, vor dem man sich vielleicht fürchten musste.
Und dass dieses Etwas existierte, wusste sie tief in ihrem Innern nur zu gut. Sie wollte nur nicht daran denken.
Nicht jetzt und erst recht nicht allein.
Also würde sie eine weitere schlaflose Nacht im Bett verbringen und Manuskripte lesen, die sie eigentlich nicht mochte.
Etwa eine Viertelstunde und etliche Grausamkeiten später – sie hatte gerade erfahren, was man mit Batteriesäure an weiblichen Genitalien anrichten konnte – hörte sie das leise Trappeln nackter Füße auf dem Gang.
»Mummy!«
Harvey kam ins Schlafzimmer gelaufen, und Sarah fuhr beim Anblick ihres sechsjährigen Sohnes erschrocken hoch. Sein Gesicht, auf dem sich eine Schlaffalte über die linke Wange zog, glänzte vor Schweiß, und das feine blonde Haar klebte ihm an der Stirn. Tränen standen in seinen Augen.
»Harvey, Schatz, was ist denn los?«
Er kam zu ihr, kroch unter die Decke und schmiegte sich an seine Mutter.
»Da ist jemand im Garten.«
Sie hob erstaunt die Brauen. »Wie? Wer um alles in der Welt sollte denn mitten in der Nacht in unserem Garten sein?«
»Ein Mann.«
»Ein Mann? Liebling, das war bestimmt nur wieder so ein Traum, wie der von dem schwarzen Hund.«
»Nein«, versicherte Harvey und lugte ängstlich unter der Decke hervor. »Ich bin aufgewacht, weil er an mein Fenster geklopft hat, immer wieder.«
»Er soll an dein Fenster geklopft haben? Aber das kann nicht sein.«
»Doch«, beharrte er und klammerte sich noch fester an sie.
»Schatz, wir sind hier im ersten Stock. Er müsste fliegen können, um an dein Fenster zu klopfen.«
»Er hat es aber getan. Wirklich!«
Sie strich ihm zärtlich das schweißfeuchte Haar aus der Stirn. »Also gut, lass uns rübergehen und nachsehen, dann wirst du mir glauben, dass es nur ein böser Traum gewesen ist.«
Harveys Augen weiteten sich. »Nein, lieber nicht! Vielleicht ist er noch da.«
Nun begann Sarah sich Sorgen zu machen. Zwar war sie gewohnt, dass hin und wieder die Fantasie mit Harvey durchging, wie bei allen Kindern seines Alters, und er hatte auch schon häufiger Albträume gehabt – erst vor einigen Wochen hatte er steif und fest behauptet, nachts einen großen schwarzen Hund in der Küche gesehen zu haben –, aber diesmal klang er anders als sonst.
Ängstlicher.
Überzeugter.
Sie sah die Furcht in den Augen ihres Sohnes und überspielte ihre Beunruhigung mit einem Lächeln.
»Also, mein Schatz, pass auf, wenn da wirklich ein Mann ist, werde ich ihn verjagen. Schließlich haben fremde Männer nichts in unserem Garten verloren. Und erst recht dürfen sie nicht an dein Fenster klopfen, wenn du schlafen sollst.«
»Du willst ihn verjagen? Ganz allein?«
»Sicher.« Sarah schlug die Decke zurück und stand auf. »Traust du mir das nicht zu?«
»Aber er ist groß. Mindestens so groß wie Dad.«
Sie streifte ihren Morgenmantel über und stemmte die Hände in die Hüften. Dann warf sie mit einer bühnenreifen Geste ihr langes blondes Haar zurück und sprach mit verstellter Stimme, die sich nach dem Riesen aus Harveys Lieblingsmärchen »Jack und die Bohnenranke« anhören sollte. »Na, dann warte mal ab, wie der sich aus dem Staub macht, wenn er deine riesenhafte Mum sieht. Sonst zermahle ich seine Knochen und mache daraus Brot. Fee! Fie! Foe! Fum!«
Sie hatte ihm diese Geschichte schon unzählige Male vorgelesen, und an dieser Stelle hatte Harvey immer gelacht, aber jetzt blieb er ernst.
Hatte er vielleicht doch jemanden gesehen?
Unsinn, schalt sie sich. Er hat nur wieder schlecht geträumt, das ist alles.
Doch als sie auf den dunklen Gang hinaustrat, war ihr selbst ein wenig mulmig zumute. Und dann hörte auch sie das Klopfen.
Sie blieb abrupt stehen und musste schlucken.
Kein Wunder, dass der Junge sich davor fürchtete. Es klang unheimlich.
Wie Fingernägel auf Glas.
5.
Es lag nun etwa ein Jahr zurück, dass ein mysteriöser Mann in Northumberland für Schlagzeilen gesorgt hatte. Immer wieder war er an verschiedenen Orten aufgetaucht und hatte Kinder erschreckt. Er sprang aus Hausecken und Seitengassen und verfolgte sie mit Gebrüll und irrem Gelächter, ehe er wieder verschwand.
Mehr tat er nicht, aber es genügte völlig, um die ganze Grafschaft in Angst und Schrecken zu versetzen. Beinahe täglich gab es neue Meldungen aus Newcastle, Rochester, Bamburgh, Corbridge, Warkworth und etlichen anderen Orten.
Die meisten dieser Vorfälle ereigneten sich am helllichten Tag, wenn die Kinder zur Schule gingen oder auf dem Nachhauseweg waren. Nur in zwei Fällen war der unheimliche Mann auch abends in Erscheinung getreten – aber dennoch gab es außer den Kindern selbst keine Zeugen. Jedes Mal verschwand der Mann, der von den Kindern als groß und sehr dürr und hässlich beschrieben wurde, auf ebenso geheimnisvolle Weise, wie er erschienen war.
Da sich die Vorfälle über die gesamte Region erstreckten und keinem Muster zu folgen schienen, gestaltete sich die Suche schwierig. In Anlehnung an die Legenden über schottische Quälgeister titulierte ein Journalist den Unbekannten deswegen als »Bogle« und fügte seinem Artikel die scherzhafte Bemerkung hinzu, dieses Gespenst habe sich wohl über die schottische Grenze verirrt.
Und dann endeten die Vorfälle ebenso plötzlich, wie sie begonnen hatten. Als ob der Bogle die Gerüchte, er sei tatsächlich eine Spukgestalt, bestätigen wollte.
Bald darauf gab es Vermutungen, es habe sich um einen gewissen Colin Atwood gehandelt, der zwei Wochen nach dem letzten Bogle-Vorfall tot in seiner Wohnung aufgefunden worden war.
Vieles sprach dafür, denn Atwoods Aussehen entsprach durchaus den Beschreibungen der kindlichen Zeugen, und er hatte in seiner Wohnsiedlung auch nie einen Hehl daraus gemacht, dass er Kinder nicht ausstehen konnte. Außerdem hielten ihn die meisten seiner Nachbarn für geisteskrank. Dies bestätigte sich, als man Atwoods bereits stark verweste Leiche gefunden und die verwahrloste Wohnung auf Spuren eines möglichen Verbrechens untersucht hatte. Dabei waren die Ermittler auf eine makabre Sammlung toter Mäuse, Ratten und Vögel gestoßen, die Atwood im Kühlschrank aufbewahrt hatte. Jeder Kadaver war in ein Stück Wachspapier eingewickelt, auf das er mit einem Filzstift »Lasset die Kindlein zu mir kommen« geschrieben hatte.
Dennoch wollten sich die Ermittler nicht auf Atwood festlegen, da er für einige der Vorfälle ein Alibi hatte, wie sich herausstellte. Es gab zuverlässige Augenzeugen, die ihn in drei Fällen zur Tatzeit in einer Suppenküche unweit seiner Wohnung gesehen haben wollten.
Aber als der Bogle nicht mehr auftauchte, legte man den Fall zu den Akten. Die Kinder, die den Mann gesehen hatten, wurden nicht weiter befragt. Aufgrund des Zustands von Atwoods Leiche und da es kein einziges brauchbares Foto von ihm zu Lebzeiten gab, hatte man ihnen die Bilder des Toten ersparen wollen.
So war bis zum heutigen Tag ungeklärt geblieben, wer der mysteriöse Kinderschreck tatsächlich gewesen war, und während Sarah sich nun Harveys Zimmer näherte und das merkwürdige Klopfen hörte, fragte sie sich, ob der Bogle vielleicht doch noch am Leben war.
Vielleicht war er jetzt nach Forest Hill gekommen.
6.
Das Kinderzimmer befand sich am anderen Ende des Gangs. Harvey hatte die Tür halb offen stehen lassen, und Sarahs Herz pochte heftig, während sie darauf zuging.
Dieses Klopfen am Fenster. Es klang so seltsam, so drängend. Als ob tatsächlich jemand voller Ungeduld mit den Fingernägeln gegen die Scheibe trommelte.
Aber das konnte nicht sein. Es war gänzlich unmöglich, dass jemand dort draußen war. Die Fassade hatte keine Vorsprünge, an denen man hochklettern konnte. Er hätte eine Leiter mitbringen müssen.
Obwohl … nicht unbedingt, kam es ihr in den Sinn. Stephen bewahrt unsere Leiter in dem kleinen Geräteschuppen hinter dem Carport auf. Vielleicht hat er vergessen, den Schuppen abzuschließen?
Da war sie wieder, ihre stetige Begleiterin, die ihr frostig in den Nacken blies. Diesmal ließ sie sich nicht so einfach abschütteln wie vorhin. Trotzdem nahm Sarah sich zusammen und ging weiter.
Ich muss da hinein. Wegen Harvey.
Gerade als sie das Zimmer erreicht hatte, hörte das Klopfen auf.
»Mummy, bleib hier«, hörte sie Harvey flüstern, der ihr nachgeschlichen war. »Vielleicht kann er ja doch fliegen.«
Auch wenn es ihr schwerfiel, lächelte sie ihm zu. »Du wartest hier, versprochen?«
»Okay.«
Sie betrat das Kinderzimmer, sah zum dunklen Fenster und tastete nach dem Lichtschalter.
Fast schon erwartete sie die hässliche Fratze eines Verrückten zu sehen, der zu ihr hereingrinste, dann fand sie den Schalter und musste geblendet blinzeln. Beinahe gleichzeitig begann das Trommeln wieder, und dann sah sie es.
Sarah ging zum Fenster und atmete erleichtert auf.
Na also, keine langen dürren Finger. Kein Bogle, und auch sonst niemand.
Hinter ihrer eigenen Reflexion erkannte sie den dürren Ast, den der Wind von der großen Eibe vor Harveys Fenster abgebrochen hatte. Nun hing er an einem schmalen Stück Rinde vom Stamm. In der Dunkelheit ähnelte er tatsächlich einem gespenstischen Arm, der an einem letzten Sehnenstrang baumelte. Er schaukelte im Wind hin und her, und die Spitzen der Zweige klopften wie Totenfinger gegen die Scheibe.
»Es ist nur ein abgebrochener Ast, Schatz«, sagte sie in Harveys Richtung und winkte ihm aufmunternd zu. »Komm her und sieh es dir selbst an. Das war der Wind. Sobald dein Vater wieder zu Hause ist, muss er unbedingt den Baum zurückstutzen, ehe noch etwas passiert. Das wollte er schon längst getan haben.«
Doch Harvey schien ihre Erleichterung nicht zu teilen. Er blieb, wo er war, und schüttelte den Kopf. »Und was ist mit dem Mann im Garten?«
Sarah schaute aus dem Fenster. Durch die hohe Hecke fiel kaum Licht, sodass der Garten auf der Rückseite des Hauses fast völlig im Dunkeln lag.
Sie hielt nach einem Schatten, einem Busch oder Baum Ausschau, der den Umrissen eines Mannes ähnelte, doch da war nichts. Selbst mit viel Fantasie ließ sich nichts auch nur annähernd Verdächtiges ausmachen.
»Schatz, da ist niemand.«
»Aber da war einer.«
Sarah ging zu ihrem Sohn und nahm ihn in die Arme. »Das glaube ich dir, aber jetzt ist er weg. Du musst dich nicht mehr fürchten.«
»Und wenn er wieder zurückkommt?«
»Das wird er nicht wagen. Er hat das Licht in deinem Fenster gesehen und ist bestimmt erschrocken.«
»Glaubst du?«
»Ganz sicher.«
Für einen Moment sah Harvey zum Fenster, dann schaute er wieder zu seiner Mutter auf. »Kann ich trotzdem heute Nacht bei dir schlafen?«
Es war ein Blick, zu dem keine Mutter auf der Welt hätte Nein sagen können.
7.
Wenig später war Harvey tief und fest eingeschlafen. Anfangs hatte er sich noch an Sarah geschmiegt, doch nun lag er auf Stephens Seite des Bettes und hatte Arme und Beine weit von sich gestreckt.
Im Dunkeln hörte Sarah seine gleichmäßigen Atemzüge. Falls Harvey wieder träumte, musste es diesmal etwas Angenehmes sein. Kein unheimlicher Mann, der zu seinem Fenster hochflog und ihn aus dem Schlaf klopfte.
Das ist der Unterschied zwischen der Angst eines Kindes und der eines Erwachsenen, dachte sie, während sie weiter schlaflos dem Wind lauschte. Kinder fürchten sich vor irrationalen Dingen, vor unheimlichen fliegenden Männern und Monstern im Kleiderschrank, und dann schlafen sie wieder ein, weil sie ihren Eltern glauben, dass sie sie vor dem Bösen in der Welt beschützen werden. Kinder wissen noch nicht viel von den wahren Schreckgestalten, die jenseits der dunklen Fensterscheibe auf sie lauern. Von den Ängsten, die weitaus komplexer sind als jeder schwarze Mann und jedes noch so grässliche Monster. Denn sie haben kein Gesicht, keine Gestalt, sosehr man auch versucht, sie beim Namen zu nennen.
So war es auch vorhin wieder mit ihrer eigenen Angst gewesen. Denn wenn sie ehrlich mit sich war, hatte sie sich nicht nur vor dem Bogle gefürchtet. Vielmehr war es die Angst gewesen, Harvey nicht vor ihm beschützen zu können.
Die Angst, allein mit dieser Situation konfrontiert zu sein.
Die Angst vor dem Vertrauen ihres kleinen Sohnes.
Die Angst, zu versagen.
Es war dieselbe Angst, die es ihr nach ihrer Beförderung unmöglich gemacht hatte, die Tür zu ihrem Büro zu öffnen. Oder die sie befallen hatte, wenn sie vor einem größeren Kreis von Kollegen sprechen musste.
Woher diese Angst kam, war ihr schleierhaft. Sie hatte noch nie versagt, im Gegenteil. Bis zu ihrer Kündigung hatte sie auf eine erfolgreiche Karriere zurückblicken können. Alles war so verlaufen, wie sie es geplant hatte. Fast zu ihrer eigenen Verwunderung, denn während ihrer Schulzeit hatte es eine Menge Probleme zu Hause gegeben. Ein alkoholkranker Vater und eine depressive Mutter waren nicht gerade die Pole-Position für den Start in ein erfolgreiches Berufsleben.
Doch Sarahs Ehrgeiz war groß gewesen. Angefacht vom Wunsch, das tägliche Drama ihrer Eltern so schnell wie möglich hinter sich zu lassen, hatte sie sich zur Einserschülerin hochgearbeitet, was ihr schließlich ein Stipendium in Oxford eingebracht hatte. Während des Studiums hatte sie Stephen kennengelernt, und auch wenn es noch Jahre gedauert hatte, ehe sie sich schließlich das Ja-Wort gegeben hatten, war ihr klar gewesen, dass sie den Rest ihres Lebens mit ihm verbringen wollte.
Ein Ziel, ein Plan. Das war stets ihr Motto gewesen.
Ja, bisher hatte sie alles erreicht, was man erreichen konnte: Sie hatte eine glückliche Beziehung, ein gesundes Kind, dem es an nichts mangelte, und einen Beruf, der sie erfüllte. Gleich nach dem Studium hatte sie einen Job als Redaktionsassistentin in einem auflagenstarken Modemagazin bekommen, war dann in die Buchbranche gewechselt und am Ende bis zur Cheflektorin der Belletristikabteilung eines namhaften Verlagshauses aufgestiegen.
Und dann, wie aus heiterem Himmel, hatte die Angst sie angefallen und sich in ihr festgebissen wie ein Raubtier. Eine Phobie, die ohne Gestalt und ohne Gesicht war, die jedoch eine Stimme hatte. Eine Stimme, die ihr zuflüsterte: Du wirst versagen. Irgendwann wirst du versagen, und dann wird dein Kartenhaus zusammenbrechen. Es wird das Ende deiner heilen Welt sein. Deine ganz persönliche Apokalypse.
Allein diese innere Stimme zu hören, war schon verrückt genug. Aber noch verrückter war, dass sie ihr glaubte, aus welchem Grund auch immer.
Denn irgendeinen Grund musste es schließlich für ihre Angst geben. Niemand fürchtete sich einfach nur so.
Das Brummen eines Motors holte sie aus ihren Gedanken zurück. Ein Wagen näherte sich dem Haus und ließ einen Lichtstreifen über die Schlafzimmerdecke wandern. Das Licht verharrte, das Motorbrummen verstummte, und es wurde wieder Nacht.
Sarah runzelte die Stirn. Das Licht von Scheinwerfern konnte man vom Schlafzimmer aus nur sehen, wenn ein Auto direkt auf die Zufahrt zum Carport fuhr.
Wer hält mitten in der Nacht vor unserem Haus?
Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als sie das gedämpfte Schlagen einer Autotür vernahm – so als bemühte sich der Fahrer, so wenig Lärm wie möglich zu machen, um keinen der Anwohner zu wecken.
Es war ein merkwürdig vertrautes Geräusch, dem ein noch vertrauteres folgte.
Seit einigen Wochen gab der Kofferraumdeckel ihres Mercedes beim Öffnen ein unangenehmes Quietschen von sich. Stephen hatte den Wagen in die Werkstatt bringen wollen, nachdem seine Versuche, dem Problem mit Schmierfett und Kriechöl Herr zu werden, gescheitert waren. Aber er hatte es ebenso vor sich hergeschoben wie das Zurückschneiden des Baumes vor Harveys Fenster.
Aber warum kam Stephen schon wieder zurück? Er war doch erst am Nachmittag losgefahren.
Sie setzte sich im Bett auf und lauschte in die Stille, ob sie sich nicht vielleicht doch getäuscht hatte. Harvey schlief noch immer seelenruhig neben ihr.
Dann hörte sie leise Schritte, die sich über den gepflasterten Weg vom Carport dem Haus näherten, und gleich darauf den Schlüssel, der sich im Türschloss drehte. Jedes dieser Geräusche war ihr vertraut, vom Klang seiner Schritte bis hin zu der vorsichtigen Art, mit der er die Haustür hinter sich schloss, wenn er spät nach Hause kam und er wusste, dass Harvey und sie bereits schliefen. Und falls Sarah doch noch Zweifel gehegt hätte, wären sie spätestens beim Klappern seines Schlüsselbunds auf der Flurkommode ausgeräumt. Stephen legte seine Schlüssel nie in die Schlüsselschale, ganz gleich, wie oft Sarah ihn auch darum bat – sondern immer daneben. Im Gegensatz zu ihr, war es um seine Ordnungsliebe nicht besonders gut bestellt.
Etwas musste mit seinem neuen Kunden schiefgelaufen sein. Schließlich war er davon ausgegangen, dass er frühestens in drei Tagen wieder zurück sein würde.
Vorsichtig schlug sie die Bettdecke beiseite, sah noch einmal zu ihrem schlafenden Sohn und schlich dann auf Zehenspitzen in den Gang, um Harvey nicht zu wecken.
Von unten drang das klimpernde Geräusch der Flaschen in der Kühlschranktür zu ihr herauf. Ebenfalls ein höchst vertrautes Geräusch. Der kleine Imbiss gehörte zu den festen Ritualen ihres Mannes, wenn er nach einer langen Fahrt nach Hause kam.
Sarah beschloss, Stephen bei einem Glas Milch Gesellschaft zu leisten, damit er ihr erzählen konnte, was geschehen war.
Leise stieg sie die Treppe hinunter.
Den Bogle hatte sie längst wieder vergessen.
8.
Der untere Flur war dunkel. Wie immer hatte Stephen kein Licht gemacht, um niemanden zu wecken, falls eine der oberen Schlafzimmertüren offen stand – und Harveys Zimmertür stand in letzter Zeit häufiger offen, seit er von dem schwarzen Riesenhund geträumt hatte –, aber es fiel ausreichend Straßenlicht durch das Gangfenster.
Als Sarah den Fuß der Treppe erreicht hatte, erkannte sie Stephens Koffer vor der Flurkommode und seinen gefalteten Mantel, den er darübergelegt hatte.
Aus der Küche drang ein schmaler Lichtstreifen auf den Parkettboden. Sie ging darauf zu und rieb sich müde übers Gesicht. Ihr fehlte Schlaf, aber den würde sie jetzt wohl endlich bekommen, da Stephen wieder zu Hause war. Stephens Gegenwart hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. Er gab ihr ein sicheres Gefühl, auch wenn sie das ihm gegenüber verschwieg, weil es sich in ihren Ohren kindisch anhörte.
»Stephen?« Sie dämpfte ihre Stimme, da das Treppenhaus recht hellhörig war. »Warum bist du schon wieder zurück?«
Der Lichtstreifen kam vom halb geöffneten Kühlschrank. Stephen stand hinter der Tür, sodass sie nur seine Beine sah. Wie immer inspizierte er zuerst die Lebensmittel, ehe er sich für etwas entschied.
Und da auf einmal begann Sarahs Herz wieder zu rasen.
Diese Beine, schoss es ihr durch den Kopf, und sie spürte etwas Eiskaltes, das ihre Wirbelsäule entlangkroch. Was ist mit Stephens Beinen los?
Dieser scheinbar irrationale Gedanke kam ihr so plötzlich, dass sie zunächst nicht verstand, warum eine derart heftige Beunruhigung damit einherging. Doch gerade als ihr klar wurde, dass diese Beine viel zu dünn und zu lang für Stephens Anzughose waren, sodass sie seine braunen Socken zwischen Hosensaum und Schuhen erkennen konnte, trat er einen Schritt zurück, und Sarah versteinerte vor Schreck.
Es war nicht Stephen. Der Mann hatte sich wie Stephen angehört, er hatte sich wie Stephen bewegt, er trug Stephens Anzug, hatte Stephens Koffer und Mantel bei sich und Stephens Schlüsselbund benutzt, aber er war nicht Stephen.
Vor Entsetzen wie gelähmt starrte sie ihn an. Der Unbekannte war größer als ihr Mann, er musste ihn um mindestens einen Kopf überragen. Er war hager, als ob er lange Zeit gehungert hätte, doch das ließ ihn nicht weniger bedrohlich erscheinen. Im Gegenteil, trotz seiner krankhaft dürren Statur machte er einen auf absurde Weise kräftigen Eindruck.
Sarah fielen drei Worte ein.
Groß. Sehnig. Schnell.
Am meisten jedoch erschreckte sie sein Gesicht.
Nein, das ist kein Gesicht, dachte sie entsetzt. Es ist eine Fratze. O Gott!
Die Züge des Eindringlings waren von zahllosen Brandnarben entstellt, die im fahlen Licht des noch immer geöffneten Kühlschranks wie eine Maske wirkten. Eine Maske, die man vielleicht zu Halloween trug und bei der man sicher sein konnte, dass man damit Leute auf der Straße erschrecken würde.
Doch dieses entstellte Gesicht, das sie unter den dichten blonden Stoppelhaaren ansah, mit all den rötlichen Erhebungen, die einer makabren topografischen Karte glichen, war nicht aus Latex oder Plastik. Es war keine Maske. Es war aus Fleisch und Blut.
Und dann verzog sich diese Fratze zu einem Lächeln.
»Hallo, Liebling.«
Seine Stimme klang tiefer als die von Stephen, und sie hörte sich irgendwie knarrend an, als sei nicht nur sein Gesicht, sondern auch seine Stimmbänder voller Narben.
»Haben wir noch etwas von der Mortadella übrig?«
Ihr Blick fiel auf seine Hand mit dem Teller, auf dem zwei Brotscheiben, eine kleine Portion Mixed Pickles und ein Messer lagen. Ihr schärfstes Küchenmesser, mit dem man sich leicht in den Finger schneiden konnte, wenn man nicht aufpasste. Das hatte sie selbst schon schmerzlich erfahren müssen.
Das ist nur ein Traum. Es muss ein Traum sein! Harvey hat neulich in der Küche einen schwarzen Hund gesehen, und ich sehe jetzt in der Küche diesen Mann. Bestimmt werde ich gleich aufwachen. Ja, so wird es sein.
»Du bist so blass. Ist alles in Ordnung mit dir?«
Die Albtraumversion ihres Mannes musterte sie aufmerksam, und Sarah wurde klar, dass sie nicht träumte. Wem immer sie gerade auch begegnete, es gab ihn wirklich. Er stand leibhaftig vor ihr. Sie roch den Essig der Pickles tatsächlich, spürte die Kälte aus dem Eisschrank, sah den Narbenmann – und das Messer auf dem Teller.
»Wer sind Sie?«
Ihre Stimme war belegt, kaum mehr als ein heiseres Flüstern.
»Schade.« Er zuckte mit den Schultern, stellte den Teller auf der Arbeitsfläche neben der Butterdose ab und nahm das Messer in die Hand. »Ich musste während der ganzen Fahrt an die Mortadella denken.«
»Wer, zum Teufel, sind Sie?«
Er ging nicht auf ihre Frage ein. »Hast du gesehen?«, fuhr er ungerührt fort. »Ich habe dir Blumen mitgebracht.« Er deutete mit der Klinge zum Küchentisch, wo in einer bauchigen Glasvase tatsächlich ein frischer Blumenstrauß stand. »Und sei mir nicht böse, aber ich habe Harvey nun doch die Spielkonsole gekauft. Ich weiß, du bist dagegen, aber er wünscht sie sich doch so sehr. Wir sollten sie ihm zu Weihnachten schenken.«
Sarah spürte, dass sie kurz davor stand, in Panik zu verfallen, und es kostete sie immense Kraft, sich zusammenzureißen.
»Was wollen Sie?« Ihre Stimme zitterte. »Geld? Wir haben nicht viel Geld im Hause.«
»Möchtest du auch ein Sandwich?«
Er öffnete die Butterdose und bestrich die Brotscheiben. Sarah starrte auf seine Hände, die ebenso narbig wie sein Gesicht waren, und überlegte fieberhaft, was sie nur tun sollte.
»Bitte«, flüsterte sie, »gehen Sie wieder.«
Er hob den Kopf und sah sie an. »Ich habe dir schon lange keine Blumen mehr geschenkt. Das tut mir leid. Überhaupt tut mir vieles leid. Ich habe mir kaum noch Zeit für euch genommen und immer nur an die Arbeit gedacht. Aber das soll sich ab sofort ändern.«
Sarah ballte die Hände zu Fäusten und versuchte verzweifelt, ihre Gedanken zu ordnen, die wie ein aufgeschreckter Vogelschwarm durch ihren Kopf flatterten.
Nein, dieser Mann würde nicht auf ihr Flehen und Betteln eingehen. Er würde das Haus nicht verlassen, ganz gleich, was sie ihm dafür anbot.
Sie stand einem Verrückten gegenüber – einem Verrückten, der Stephens Kleider trug, auch wenn sie ihm viel zu klein waren, und der sich gerade Buttersandwiches mit ihrem schärfsten Küchenmesser strich.
»Wo ist mein Mann? Warum tragen Sie seine Sachen? Was haben Sie ihm angetan?«
»Ich kann verstehen, dass du mir das nicht glauben wirst«, sagte er und teilte die Brotscheiben in Dreieckshälften, »aber ich bin fest entschlossen, mich ab sofort zu ändern. Das bin ich Harvey und dir schuldig.«
Sarah fuhr sich mit der trockenen Zunge über die Lippen.
Er hält sich für Stephen, dachte sie. Zumindest möchte er, dass ich das glaube. Ich darf ihn auf keinen Fall reizen. Er hat das Messer, und über uns schläft Harvey.
Sie beschloss, auf sein Spiel einzugehen, um Zeit zu schinden. Zeit, um sich klar zu werden, was sie tun sollte.
»Die … Mortadella haben wir aufgegessen«, sagte sie und rang bei jedem Wort um Beherrschung. »Aber es ist noch Truthahn übrig. Und Tiramisu. Das magst du doch so gern. Es ist von unserem Lieblingsitaliener.«
Nun legte er die Stirn in Falten, was sein maskenhaftes Narbengesicht noch hässlicher und unechter wirken ließ.
»Von … Vittorio?« Er klang verwundert und ging nun zum ersten Mal in dieser höchst merkwürdigen Unterhaltung auf sie ein. »Der hat doch schon seit fast einem Jahr geschlossen.«
Sarah fuhr zusammen. Woher wusste er das?
»Ich … ich meinte, es ist fast so gut wie das von Vittorio«, sagte sie und rang sich ein Lächeln ab.
»Na, dann sollte ich es wohl probieren.«
Er lächelte zurück und zwinkerte ihr zu, dann sah er wieder in den Kühlschrank.
Sarah schaute auf das Messer. Sie könnte die Hand jetzt packen, überlegte sie. Die Gelegenheit wäre günstig. Aber dann würde er sich wehren, und die Situation würde eskalieren.
»Mummy?«
Harveys Stimme vom oberen Ende der Treppe ließ sie zusammenfahren.
O Gott! Er darf auf keinen Fall herunterkommen!
Eilig trat sie einen Schritt auf den Flur hinaus, ohne dabei den Fremden aus den Augen zu lassen, der sich nun umdrehte und an ihr vorbei zur Treppe sah.
»Geh sofort zurück ins Bett, Schatz«, rief sie Harvey zu. »Ich bin gleich wieder bei dir.«
»Was machst du da unten?« Harvey klang verschlafen, aber wie immer war er neugierig.
»Ich trinke nur schnell einen Schluck Wasser, und dann komme ich wieder ins Bett. Leg dich schon mal hin.«
Für einen Moment war es still im Gang, und Sarah dachte voller Panik, was wohl geschehen würde, wenn Harvey nicht auf sie hörte und die Treppe herunterkäme.
Sie hielt unweigerlich den Atem an, und ihre Fingernägel gruben sich immer fester in ihre Handflächen.
Bitte, Schatz, flehte sie in Gedanken. Geh zurück! Geh bitte zurück!
»Okay, Mummy, aber komm bald, ja?«
Als gleich darauf seine patschenden nackten Füße zu hören waren und die Schlafzimmertür geschlossen wurde, fiel ihr ein Felsbrocken vom Herzen.
Der Unbekannte hatte ihre Unterhaltung reglos verfolgt, die Schüssel mit dem Tiramisu in der einen Hand, das Messer in der anderen.
»Träumt er immer noch diese wirren Sachen?«
Sarah hatte keine Ahnung, woher er all diese Dinge wusste, aber das war jetzt auch nicht wichtig. Sie musste Hilfe rufen, ohne Harvey dabei in Gefahr zu bringen.
»Ja.« Sie nickte. »Er hatte vorhin einen Albtraum. Ich sehe wohl besser mal nach ihm.«
»Das ist meine Schuld«, entgegnete der Unbekannte, und für einen Augenblick kam Sarah die abwegige Hoffnung, er habe soeben eingesehen, dass er sie und ihren Sohn erschreckt hatte und besser gehen sollte. Aber dann fügte er hinzu: »Wie gesagt, ich habe euch beide vernachlässigt. Ich war viel zu selten zu Hause. Kein Wunder, wenn unser Sohn schlechte Träume hat.«
Sein Blick war besorgt, und das irritierte Sarah am meisten. Dieser Mann sah sie an wie ein fürsorglicher Vater, der feststellte, dass er Fehler bei der Erziehung seines Kindes gemacht hatte. So wie Stephen sie angesehen hätte, wenn ihm diese Einsicht gekommen wäre.
Nein, dieser Mann würde nicht mehr gehen. Er hatte Stephens Platz eingenommen.
Was mochte er dem wahren Stephen angetan haben?
Sie verdrängte diesen Gedanken und konzentrierte sich auf die Gegenwart. Stephen konnte sie jetzt nicht helfen. Die Sicherheit ihres Sohnes war im Moment alles, was zählte. Es fiel ihr unendlich schwer, nicht zu schreien, und stattdessen weiter auf das schreckliche Spiel einzugehen.
»Iss erst einmal was«, sagte sie mit gepresster Stimme, die ganz nach der liebevollen Ehefrau klingen sollte. »Wir reden morgen früh über alles.«
»Gut, das werden wir.« Er schien zufrieden. »Geh ruhig schon hoch. Ich komme gleich nach.«
»In Ordnung. Guten Appetit.«
Sie zwang sich erneut zu einem Lächeln und ging auf den Flur. Dabei musste sie sich beherrschen, nicht die Treppe hochzustürmen, denn sie spürte noch immer seine Blicke im Nacken.
»Sarah?«
Sie blieb abrupt stehen, hielt den Atem an und sah sich langsam um.
Jetzt ist es so weit, durchfuhr es sie. Er wollte mich nur in falscher Sicherheit wiegen. Jetzt wird er durchdrehen. Auf keinen Fall wird er mich zu Harvey gehen lassen.
Alles in ihr war angespannt. Sie bereitete sich innerlich darauf vor, dass er sie nun angreifen würde und sie sich wehren musste.
Doch er tat nichts dergleichen. Er stand nur weiterhin in der Küche.
»Ich liebe euch, Sarah.«
Es klang auf erschreckende Weise aufrichtig.
Sarah verzog das Gesicht. Es hätte ein weiteres Lächeln werden sollen, doch es missglückte kläglich.
»Ja … natürlich. Das … das weiß ich doch.«
Sie schaute zur Haustür, die sich unmittelbar neben der Küche befand, und dann zur Treppe. Die Versuchung, blindlings loszurennen und Hilfe zu holen, war groß. Aber Harvey wartete oben im Schlafzimmer.
»Das Tiramisu sieht übrigens großartig aus.«
Er deutete mit dem Messer auf die Schüssel. Das Licht des Kühlschranks spiegelte sich in der Klinge.
»J-ja«, stammelte sie. »Lass es dir schmecken.«
»Werde ich. Und dann schlafen wir drei mal so richtig lange aus.«
Wieder zwinkerte er ihr zu, und die Art, wie er sie dabei musterte, ließ sie schaudern.
»Ja«, stieß sie hervor. »Gute Idee.«
»Also bis gleich.«
Mit diesen Worten wandte er sich ab, schloss den Kühlschrank und setzte sich im Dunkeln an den Tisch, um zu essen.
Sarah sah ihm fassungslos zu. Zuerst konnte sie gar nicht glauben, dass er sie tatsächlich gehen ließ, aber dann nutzte sie ihre Chance. Sie nahm das Telefon aus der Ladestation, das neben Stephens Schlüsselbund auf der Flurkommode stand, und ging die Treppe hoch. Erst als sie sich außer Sichtweite des Wahnsinnigen wusste, begann sie zu rennen.
9.
So schnell sie konnte, eilte sie zum Schlafzimmer, schloss leise die Tür und lehnte sich heftig atmend dagegen.
Erst jetzt bemerkte sie, dass sie völlig durchgeschwitzt war. Ihr Nachthemd unter dem Morgenmantel klebte ihr am Leib, als habe sie darin eine Dusche genommen.
»Mummy?« Harvey saß im Bett und sah sie fragend an. »Was ist denn …«
Sarah unterbrach ihn mit einem schnellen Winken. »Pssst! Wir müssen ganz leise sein!«
»Aber …«
»Pssst«, machte sie wieder, lief zu ihm und schloss ihn in die Arme.
Harvey verstummte, aber nun waren seine Augen wieder so groß wie vorhin, als er ihr von dem Mann vor seinem Fenster erzählt hatte.
»Alles wird gut, Schatz«, flüsterte sie ihm zu und sah sich dabei hektisch um. »Aber sei leise, ja?«
In der Schlafzimmertür steckte kein Schlüssel. Wozu auch? Hier musste man vor niemandem abschließen. Deshalb hatte Stephen bei ihrem Einzug alle Türschlüssel eingesammelt – alle, bis auf den der Gästetoilette im Erdgeschoss –, weil es im Haus einer Familie keine Schlüssel brauchte, wie er sagte, und um zu vermeiden, dass sich ihr damals zweijähriger Sohn versehentlich in einem Raum einschloss.
Ich komme gleich nach, hallten die Worte des Unbekannten in ihrem Kopf wider. Er würde sein Buttersandwich essen, vielleicht auch den Rest Tiramisu, und dann würde er zu ihnen hochkommen.
Und er würde das Messer mitbringen, davon war sie überzeugt. Wie hatte er doch vorhin gesagt?
Und dann schlafen wir drei mal so richtig lange aus.
Dieses Zwinkern … Sie wollte lieber nicht darüber nachdenken, wie dieser Satz gemeint war.
Fieberhaft überlegte sie, wo Stephen die Schlüssel deponiert hatte.
In einem Karton, ja, daran konnte sie sich noch erinnern. Aber wo war dieser verdammte Karton jetzt? Hier im Schlafzimmer? Vielleicht auf dem Schrank?
Sie hatte keine Zeit, danach zu suchen, selbst wenn der Unbekannte ein nur halb so schneller Esser wie ihr wirklicher Mann war.
Die Tudor-Kommode neben der Tür zum Elternbadezimmer war zu schwer, sie würde sie unmöglich vor die Schlafzimmertür schieben können. Außerdem würde der Eindringling das hören und sofort nach oben gelaufen kommen.
»Mummy«, flüsterte Harvey und begann zu zittern. »Der fliegende Mann. Ist er wieder da?«
Sie schluckte. Was sollte sie ihrem Sohn sagen?
»Es ist alles in Ordnung«, log sie. »Ich bin ja bei dir. Lass mich nur einen Moment nachdenken.«
Im selben Augenblick fiel ihr der Stuhl neben Stephens Seite des Wandschranks auf. Er war kaum noch zu erkennen unter dem Haufen von Kleidungsstücken, den ihr Mann kurz vor seiner Abreise hinterlassen hatte – in puncto »Was soll ich anziehen?« konnte er manchmal jedes Frauenklischee in den Schatten stellen –, aber der Stuhl war stabil, und man konnte die Tür damit blockieren.
Sanft, aber bestimmt schob sie Harvey von sich und setzte ihn zurück aufs Bett. Dann sprang sie auf, packte den Turm aus Hemden, Hosen und Pullovern, warf ihn achtlos zu Boden und lief mit dem Stuhl zur Tür.
Sie verkeilte die Lehne unter dem Türgriff und atmete tief durch.
Was für ein Glück, dass Stephen damals die Türdrücker mit den Langschildern durchgesetzt hat, dachte sie und musste ein hysterisches Kichern unterdrücken. Ich wollte traditionelle Türknäufe, er den Klassizismus.
Dennoch waren sie nicht in Sicherheit. Auch wenn beim Bau dieses Hauses nur solide Materialien verwendet worden waren, konnte niemand sagen, wie lange sie vor den Angriffen eines Einbrechers geschützt sein würden – erst recht nicht, wenn es sich um einen Verrückten handelte, der sicherlich alles daransetzen würde, zu ihnen zu gelangen.
»Mummy, du machst mir Angst!«
Harvey stand kurz davor zu weinen. Sie ließ sich zu ihrem Sohn aufs Bett fallen, drückte ihn an sich und wählte mit der anderen Hand die Notrufnummer. Doch statt der Ziffern erschien auf dem Display des Mobilteils … nichts.
»Verdammt!«
Sie musste vor Aufregung zu sehr gezittert haben, also versuchte sie es erneut und drückte diesmal fester auf die Tasten. Doch das Display blieb weiterhin dunkel, und als sie die grüne Wählen-Taste betätigte, geschah wieder nichts. Und dann wurde ihr schlagartig klar, wie leicht sich das Telefon anfühlte. Vorhin, in der Aufregung, war es ihr nicht aufgefallen, aber jetzt spürte sie plötzlich den Unterschied überdeutlich.
»O nein!«
Sie ließ von Harvey ab, packte das Telefon mit beiden Händen und riss die Abdeckung von der Rückseite – verzweifelt hoffend, dass sie sich nur getäuscht hatte.
Doch sie hatte sich nicht getäuscht. Der Unbekannte hatte den Akku entnommen. Das Telefon war nun ebenso nutzlos wie ihr Handy, das wie immer in der Küche lag, keine zwei Meter von dem narbengesichtigen Eindringling entfernt.
Kein Wunder, dass dieser Wahnsinnige sie einfach hatte gehen lassen.
Sie saßen hier oben fest.
Also bis gleich.
10.
Es war so dunkel um ihn, dass er blinzeln musste, um sicher zu sein, dass er die Augen wirklich offen hatte.
Was ist mit mir geschehen?
Er fühlte sich benommen, und ihm war, als müsse er mit jedem einzelnen Gedanken durch dichten Nebel dringen.
Wo bin ich?
Sein gekrümmter Rücken schmerzte, und seine Arme fühlten sich pelzig und taub an. Ebenso seine Beine. Er wollte sich strecken, doch es ging nicht. Seine Füße drückten bereits gegen das Ende des Dunkels, wo immer er sich auch befand.
Ganz in seiner Nähe glaubte er, ein vorbeifahrendes Auto zu hören, doch es klang merkwürdig. Irgendwie gedämpft und blechern.
Er versuchte seine Umgebung zu betasten, doch auch das war unmöglich. Etwas hielt seine Hände zusammen.
Ein weiterer Gedanke schoss aus dem Nebel in seinem Kopf hervor.
Klebeband.
Dann: Meine Hände.
Dann: Ich bin gefesselt!
Aber nicht nur das. Allmählich dämmerte ihm, dass auch seine Beine zusammengebunden waren. Und als er den Mund öffnen wollte, spürte er auch dort das Ziehen eines Klebebandstreifens.
Ich bin gefesselt und geknebelt, wurde ihm klar, aber noch immer wollte sich der Nebel in seinem Kopf nicht lichten. Stattdessen drohte er erneut ohnmächtig zu werden – und wahrscheinlich wurde er es auch, denn als er die Augen mit aller Anstrengung wieder öffnete, hatte er den Eindruck, dass noch einmal Zeit verstrichen war.
Ihm war entsetzlich übel, und Schwindel ergriff ihn – so als wäre er gerade aus einem Jahrmarktskarussel gestiegen.
Nur dass er jetzt nicht stand, sondern irgendwo lag. Vielleicht in einer Kiste oder …
In einem Sarg!
Bei diesem Gedanken musste er würgen. Hektisch wollte er nach dem Klebestreifen vor seinem Mund greifen, doch es ging nicht. Wo immer er sich auch befand, der Raum war viel zu eng, um sich darin zu bewegen.
Das Würgen kam wieder und wieder, aber er wusste, dass er dem Drang, sich zu übergeben, auf keinen Fall nachgeben durfte.
Das Klebeband! Wenn ich jetzt kotze, werde ich daran ersticken!
Er biss sich auf die Zunge, so fest es nur ging. Sofort füllte sich sein Mund mit kupfernem Blutgeschmack, aber der Schmerz zeigte Wirkung. Die Übelkeit verschwand, allerdings nur, um einem nicht minder schlimmen Gefühl Platz zu machen.
Denn mit der anschwellenden Panik löste sich zwar der Nebel in seinem Kopf auf, aber nun kehrte die Erinnerung an seine Klaustrophobie zurück. Seit ihn sein älterer Bruder als Vierjährigen über mehrere Stunden in eine Besenkammer eingesperrt hatte, konnte er enge, geschlossene Räume nicht mehr ertragen. In kleinen Räumen bekam er Schweißausbrüche, spätestens wenn die Tür geschlossen wurde. Deshalb mied er auch Aufzüge oder Fahrten in der überfüllten U-Bahn zur Rushhour wie die Pest.
Und dieses Mal war es weitaus schlimmer als ein enger Fahrstuhl oder eine Besenkammer. Dort hätte er sich wenigstens noch bewegen können. Aber hier …
Ich muss hier raus! Ich muss hier raus, verdammt noch mal!
Er wand sich, drückte mit Füßen, Knien und Ellenbogen gegen die Wände seines entsetzlichen Gefängnisses, doch damit erreichte er gar nichts.
Und dann gewann die Panik endgültig die Oberhand. Er wollte schreien und versuchte mit aller Macht, den Mund aufzureißen, aber das Klebeband hielt seine Lippen unbarmherzig zusammen und erstickte seinen Schrei.
Sein Puls raste, drohte die Adern in seinen Schläfen zu sprengen, und sein Atem ging immer schneller. Bald schon tanzten leuchtend weiße Flecken vor seinen Augen.
Und dann verlor er erneut das Bewusstsein.
11.
Du wirst versagen.
Da war sie wieder, diese hässliche Stimme, und diesmal glaubte Sarah, ihr einen Namen geben zu können: Überforderung.
Sie stand inmitten des Schlafzimmers, hielt ihren kleinen Sohn fest, der sich verängstigt an sie klammerte, und war eine Gefangene in ihrem eigenen Haus.
Um sie herum herrschte bedrohliche Stille. Aus dem Erdgeschoss war kein Laut zu hören. Nicht einmal das Klappern von Geschirr.
Was, zur Hölle, tat der Kerl da unten? War er überhaupt noch in der Küche, oder hatte er sich bereits zu ihnen hochgeschlichen und wartete vor der Tür?
Das Messer, ich darf nicht an das Messer denken!
Sie fühlte sich wieder wie das kleine Mädchen von einst, wenn sie in ihrem Zimmer am Boden gekauert und dem Streit ihrer Eltern gelauscht hatte. Dem Brüllen ihres betrunkenen Vaters und dem leisen Schluchzen ihrer Mutter, die seinen Beschimpfungen nichts entgegenzusetzen vermochte. Damals hatte sie sich hilflos und ausgeliefert gefühlt. Was hätte sie auch tun können, klein und schwach, wie sie gewesen war?
Aber jetzt bin ich kein kleines Mädchen mehr, rief sie sich ins Bewusstsein. Jetzt bin ich eine erwachsene Frau. Und ich bin die Mutter eines Kindes, das meine Hilfe braucht. Ich bin für Harvey verantwortlich.
Satz für Satz sprach sie sich dies in Gedanken vor, und tatsächlich wurde die Stimme der Überforderung leiser und leiser. Sie verschwand nicht völlig, aber sie verlor genug von ihrer Macht, um ihrem Selbstvertrauen den notwendigen Platz einzuräumen.
Sie durfte nicht länger warten. Die verkeilte Tür würde sie beide nicht ewig vor diesem Verrückten schützen. Und solange er die Tür in Ruhe ließ, blieb ihr noch Zeit zu handeln.
Sie mussten sich in Sicherheit bringen und Hilfe holen. Aber wie? Das Schlafzimmer hatte nur ein Fenster, das angrenzende Bad keines. Es gab also nur diesen einen Fluchtweg.
Ich könnte das Fenster aufreißen und um Hilfe rufen.
Aber wäre das wirklich klug? Würde sie den Verrückten dadurch nicht nur reizen? Vielleicht würde er dann auf eine Weise reagieren, die er bis dahin gar nicht beabsichtigt hatte. Wer konnte schon sagen, was im Kopf eines Mannes vor sich ging, der in fremde Häuser eindrang, um dort mit einem Messer in der Hand »Familie« zu spielen?
Natürlich wäre es möglich, dass er es mit der Angst zu tun bekam und davonlief, aber darauf bauen konnte sie nicht. Erst recht nicht, nachdem sie vorhin sein Zwinkern gesehen hatte.
Vor allem aber war es mitten in der Nacht. Bis jemand sie hörte und reagierte, würde Zeit vergehen – wertvolle Zeit, in der dieser vernarbte Spinner sich Zutritt zum Schlafzimmer verschaffen konnte.
Außerdem war nicht gesagt, dass sie tatsächlich jemand hören würde – oder hören wollte. Erst vor einigen Wochen war nicht weit von hier ein Mädchen vergewaltigt worden. Sie war auf dem Nachhauseweg von einer Party gewesen, als sie von drei Kerlen an einer Bushaltestelle überwältigt worden war. Alle drei hatten sich an ihr vergangen, und sie hatte die ganze Zeit über geschrien – aber niemand war ihr zur Hilfe gekommen.
Die Wohngegend war sehr vornehm, machte was her, aber in Sachen Nachbarschaftshilfe war sie alles andere als preisverdächtig. Wenn die Kinder nicht zufällig im selben Sportclub waren oder denselben Klavierlehrer besuchten, war man hier lieber für sich.
Ihr Vater hatte immer gesagt: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. In Forest Hill galt diese Devise auf jeden Fall. Einen entfernten Hilferuf konnte man ignorieren, aber wenn sie vor der Tür eines Nachbarn stünde, wäre es etwas anderes.
Die Spencers, dachte sie. Sie waren die nächsten Nachbarn.
Also lief sie zum Fenster und öffnete es so leise wie möglich. Harvey blieb dicht bei ihr, seine kleine Hand tief in den Stoff ihres Morgenmantels gekrallt. Er sah sie nur an und sagte kein Wort.
Eisiger Nachtwind wehte zu ihnen herein und zerrte an Sarahs Haaren, als sie sich nach vorn beugte, in den Garten hinunterschaute und versuchte, die Höhe abzuschätzen. Da der Rasen auf dieser Seite abschüssig war, mussten es etwa vier bis viereinhalb, wenn nicht gar fünf Meter sein, und die Wand bot nirgendwo einen Vorsprung. Nichts, an dem man sich festhalten konnte.
Zu hoch. Es ist viel zu hoch. Wir werden uns sämtliche Knochen brechen.
Eine längst vergessen geglaubte Erinnerung kam ihr in den Sinn. Sie und Mark, der Nachbarjunge aus ihrer Kindheit, beim Spielen im Garten seiner Eltern. Der alte Kastanienbaum, in dem sie herumgeklettert waren. Mark war ein guter Kletterer gewesen, aber einmal war er danebengetreten und gestürzt. Er hatte sich ein Bein gebrochen, und Sarah hatte ihm einen Smiley auf den Gipsverband gemalt. Damals waren sie etwa in Harveys Alter gewesen, aber sie erinnerte sich noch gut an die Worte seiner Mutter: Der Junge hat riesiges Glück gehabt. Das waren mindestens vier Meter. Er hätte sich das Genick brechen können.
Sie schrak aus ihren Überlegungen, als sie hinter sich das entfernte Klappern von Geschirr in der Küche hörte. Auch Harvey zuckte zusammen und sah sie aus großen angsterfüllten Augen an.
»Das Bett«, flüsterte sie ihm zu. »Komm, Schatz, du musst mir helfen!«
Sie lief zurück zum Bett, warf Decken, Kissen und Laken beiseite und hob die Matratzen an.
Harvey verstand, was sie vorhatte, und half ihr, eine der Matratzen zum Fenster zu ziehen. Dort lehnten sie sie auf die Fensterbank und kippten sie vorsichtig. Sarah versuchte so gut wie möglich die Fallrichtung abzuschätzen. Dann gab sie ihr einen Stoß.
Der Wind drückte die Matratze im Fallen gegen die Hauswand, und als sie auf dem Boden aufkam, sah es für einen Augenblick so aus, als würde sie aufrecht stehen bleiben. Doch schließlich kippte sie um und blieb etwa einen halben Meter vom Haus entfernt am Hang liegen.
Sarah biss sich auf die Unterlippe. Was sie vorhatte, war der blanke Irrsinn, aber was blieb ihr anderes übrig?
Nicht darüber nachdenken!, rief ihr eine innere Stimme zu – diesmal die ihres Selbstbewusstseins – und feuerte sie an, weiterzumachen.
»Okay, und jetzt die zweite!«
Sie zerrten auch die andere Matratze zum Fenster, und gerade, als sie sie auf die Bank gestellt hatten, rüttelte jemand am Türgriff. Die Klinke gab nur wenige Millimeter nach, ehe sie gegen die Stuhllehne schlug. Gleich darauf klopfte es.
»Sarah? Harvey? Was habt ihr mit der Tür gemacht?«
Harvey starrte auf die Tür und drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand, als wollte er durch sie hindurch verschwinden. Dabei kam ein leises Wimmern über seine Lippen, das Sarah noch mehr frösteln ließ als der kalte Wind, der sie durch das Fenster anwehte.
»Kommt schon, macht auf«, sagte die Stimme des Narbenmannes auf dem Flur.
Er klang auf unheimliche Weise freundlich, fand Sarah, fast schon vertrauenerweckend, wäre da nicht dieser bestimmende Unterton gewesen.
Sie verlor keine weitere Sekunde und ließ auch die zweite Matratze in den Garten fallen. Doch diesmal wurde sie von einer stärkeren Böe erfasst, und als sie zum Liegen kam, überlappte sie die andere Matratze nur wenige Zentimeter.
»Fuck!« Entsetzt umklammerte Sarah den Fensterrahmen. »Fuck, fuck, fuck!«
Er hätte sich das Genick brechen können, echote die Stimme ihrer einstigen Nachbarin in ihrem Kopf, gefolgt von Sarahs eigener Gedankenstimme: Eine erwachsene Person könnte den Sprung unbeschadet überstehen. Jedenfalls vielleicht. Aber du willst doch nicht allen Ernstes deinen kleinen Sohn aus dem Fenster springen lassen? Ist dir klar, was passieren wird, wenn er dein provisorisches Sprungkissen dort unten verfehlt?
Aber was war die Alternative? Harvey hier zurücklassen, wo der Kerl mit dem Messer ihn finden würde?
Niemals!
Und wenn er ihn nicht findet?, konterte die Gedankenstimme. Du hast ihn hier drin auch schon einmal nicht gefunden, erinnerst du dich?
Sie rieb sich den kalten Schweiß aus der Stirn und sah sich fieberhaft im Schlafzimmer um, während der Narbenmann erneut an der Türklinke rüttelte.
»Sarah, ich bitte euch, macht auf! Was habe ich dir denn getan?«
Nichts. Noch nicht, dachte sie. Und du willst natürlich nur einmal richtig lange mit uns ausschlafen. Und dazu wirst du das gottverdammte Messer brauchen!
»Mummy«, flüsterte Harvey. Er war kreidebleich. »Er soll weggehen!«
Sie sah ihrem Sohn tief in die Augen, kämpfte gegen das Gefühl der Hilflosigkeit in sich an, das wieder die Oberhand zu gewinnen drohte, und dann traf sie die wohl schwerste Entscheidung ihres Lebens.
»Ich werde Hilfe holen«, flüsterte sie ihm zu. »Aber ich kann dich nicht mitnehmen.«
Harveys entsetzter Blick zerriss ihr beinahe das Herz, aber ihr blieb keine andere Wahl.
Wieder klopfte der Narbenmann gegen die Tür, diesmal heftiger.
»Sarah! Harvey! Verdammt, was soll das?«
Jetzt klang er wütend.
Sie nahm Harvey bei den Schultern und kniete sich vor ihn. »Hör zu, Schatz«, flüsterte sie und spürte sein Zittern. »Weißt du noch, wie du dich hier oben an Halloween versteckt hast?«
Er nickte heftig. »Jack in the box.«
»Genau.« Sie strich ihm durchs Haar. »Du hast Jack in the box gespielt. Wir hätten dich dort nie gefunden.«
Und das war nicht übertrieben. Harvey hatte seine Eltern zu Tode erschreckt. Nicht, weil er plötzlich aus dem Wäschekorb gesprungen war, als sie ihn im ganzen Haus gesucht hatten, sondern weil sie minutenlang wirklich davon überzeugt waren, er sei verschwunden.
Harvey sah zur Tür, an der jetzt wieder gerüttelt wurde, und plötzlich trat ein seltsamer Ausdruck auf sein Gesicht. Es war ein Ausdruck, der nicht zu einem Sechsjährigen passte, eher zu einem jungen Mann, der sich darüber klar wurde, was jetzt zu tun sei. Ein Ausdruck der Entschlossenheit.
Dann machte er kehrt und lief zum Wäschekorb im Badezimmer. Sarah folgte ihm und half ihm, in den Korb zu klettern, und als er sich dort zusammenkauerte, war da noch immer dieser entschlossene Blick, der sie schaudern ließ.
»Ich werde Hilfe holen«, flüsterte sie ihm zu, ehe sie ihn unter den Wäschestücken verbarg und den Deckel schloss.
Es kostete sie übermenschliche Überwindung, aber schließlich lief sie zum Fenster, warf auch die beiden Bettdecken und die Kissen zu den Matratzen und kletterte hinaus.
An den Fensterrahmen geklammert, galt ihr letzter Blick dem Wäschekorb in der Ecke des Badezimmers. Dann stieß sie sich mit den nackten Füßen von der rauen Hauswand ab.
Sie ruderte mit den Armen und traf mit den Füßen auf den Matratzen auf. Sie wurde zur Seite geschleudert, weiter den Abhang hinunter. Ein greller Schmerz schoss durch ihren linken Arm, als sie neben der Hecke zum Liegen kam, und sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht laut aufzuschreien.
Mühsam richtete sie sich auf. Sie schüttelte sich, und als sie schließlich aufrecht stand, entwich ihr ein irres Kichern.
Da stand sie nun, in Nachthemd und Morgenmantel und mit einem vermutlich verstauchten Arm, aber sie hatte es geschafft. Sie war im Freien, und sie hatte sich nicht das Genick gebrochen.
Sie sah noch einmal kurz zum Fenster hoch, dann lief sie an der Hauswand entlang zur Zufahrt.
Bis zum Haus der Spencers waren es nur wenige Meter. Sie würde keine Minute brauchen. Aber zuerst musste sie am Carport mit Stephens Mercedes vorbei, und gleich daneben war die Haustür. Wenn der Narbenmann sie gehört hatte oder ahnte, was sie vorhatte, wäre ihm Zeit genug geblieben, zurück ins Erdgeschoss zu laufen und ihr hier aufzulauern.
Sicherlich hatte er noch immer das Messer, und ihr blieb jetzt nur noch ein Arm, um sich gegen ihn zu wehren, und …
Weiter!
Jetzt war die Stimme ihrer Überforderung völlig verstummt. Jetzt regierte nur noch ihr Selbsterhaltungstrieb, angespornt durch die Angst um Harvey.
Sie atmete tief durch, machte sich darauf gefasst, dass der Bewegungsmelder die Hofbeleuchtung aktivierte, und rannte los. Den gesunden Arm hielt sie vor sich angewinkelt. Wer immer sich ihr jetzt in den Weg stellte, würde von ihrer Wucht niedergeschlagen werden.
Augenblicklich sprang das Licht an und blendete sie, während sie mit blanken Füßen über den Asphalt lief.
12.
Harvey blieb mucksmäuschenstill. Zusammengerollt wie ein Igel kauerte er bewegungslos auf dem Boden des Wäschekorbs, in dem es nach dem Rattan der engmaschigen Flechtwände, getragener Wäsche und dem Parfüm seiner Mutter roch.
Er bemühte sich, so flach wie möglich zu atmen, und stellte sich vor, dass er sich hier nur zum Spaß versteckte – so wie er sich an Halloween versteckt hatte, um seine Eltern zu erschrecken.
Er dachte daran, wie sich die Frankensteinmaske auf seinem Gesicht angefühlt hatte, dachte an ihren unangenehmen Latexgeruch und an seine Vorfreude, wenn er mit einem lauten »Buh«-Schrei den Korbdeckel wegstoßen und in die erschrockenen Gesichter von Mum und Dad sehen würde. Und er stellte sich vor, wie sie anschließend alle gelacht und sich umarmt hatten.
Tröstende Erinnerungen, die ihn von seiner Furcht ablenkten.
Das Poltern an der Tür hatte aufgehört, aber Harvey zitterte noch immer – nicht mehr so schlimm wie vorhin, als er die Angst in den Augen seiner Mutter gesehen hatte, aber es wollte auch nicht ganz aufhören.
Angespannt lauschte er.
Ob der Mann gegangen war?
Vielleicht hatte er ja aufgegeben?
Was war das überhaupt für ein Mann?
Was wollte er von ihnen?
Es war so unheimlich. Wie er mit ihnen durch die Tür gesprochen hatte … als ob er sie kannte. Und er hatte ihn beim Namen genannt.
Harvey.
Sein Herz machte einen Sprung, als es plötzlich wieder an der Tür polterte. Einmal, dann noch einmal, dann splitterte Holz, und etwas Schweres fiel zu Boden.
Der Stuhl! Er hat die Tür aufgebrochen und den Stuhl umgeworfen!
Er hörte Holz auf Holz schlagen. Die Tür, die aufgedrückt wurde und den Stuhl über den Teppichboden beiseiteschob.
Entsetzt rollte er sich noch mehr zusammen, so eng, dass er kaum noch atmen konnte.
Schritte näherten sich über den Teppich, leise und gedämpft. Sie kamen auf das Badezimmer zu, gingen an ihm vorbei und entfernten sich wieder.
Durch das Korbgeflecht sah er zwei dünne Schatten. Das mussten die Beine des Mannes sein. Er war zum Fenster gegangen und dort stehen geblieben.
Harvey hielt den Atem an. Er konnte hier drin kaum etwas sehen, nur die Lichtpunkte zwischen den Korbmaschen, aber er war sicher, dass der Mann nun aus dem Fenster sah.
Eine Weile geschah nichts, dann hörte er wieder die Schritte. Diesmal kamen sie direkt auf ihn zu.
Gleich darauf vernahm er das Klacken von Schuhsohlen auf dem Fliesenboden im Bad, und es wurde noch dunkler in seinem Versteck.
Harvey spürte, wie sich die feinen Härchen in seinem Nacken aufstellten.
Jetzt stand der Mann direkt vor ihm.
»Hallo, Harvey. Ich weiß, dass du da drin bist.«
Die Stimme des Mannes klang ruhig, beinahe sanft, und Harvey dachte, dass sich so wohl auch die Stimme des Wolfs vor dem Haus des dritten Schweinchens angehört haben musste. Nur dass Harveys Versteck nicht aus Backsteinen war …
»Keine Angst, Junge, ich werde dir nichts tun.«
Ja, sicher, dachte Harvey. Das hat der böse Wolf auch gesagt.
»Ich will, dass du deiner Mutter etwas von mir ausrichtest. Wirst du das für mich tun, Harvey?«
Harvey gab keinen Mucks von sich. Selbst wenn er gewollt hätte, wäre es ihm nicht möglich gewesen zu antworten. Er konnte ja kaum noch atmen.
»Sag ihr, dass es noch nicht vorbei ist. Sag ihr, dass ich gekommen bin, um ihr zu helfen, und dass ich wiederkommen werde. Tust du das für mich?«
Harvey starrte auf die dunkle Korbwand. Gleich würde der Mann sich zu ihm herunterbücken, den Deckel abnehmen und …
»Du hast Angst, Harvey, nicht wahr? Du hast Angst vor mir, und das verstehe ich. Glaub mir, keiner weiß besser als ich, wie es ist, Angst zu haben. Vielleicht wirst du dich eines Tages an diesen Moment erinnern, und wenn du dann alt genug bist, wirst du begreifen, was ich gemeint habe. Vergiss nicht, was du deiner Mutter ausrichten sollst, ja? Es ist sehr wichtig, Harvey. Sehr wichtig!«
Dann wurde es schlagartig wieder hell, als hätte jemand einen Vorhang beiseitegezogen. Das Schlafzimmerlicht fiel wieder durch die Korbmaschen, und eilige Schritte verklangen im Treppenhaus.
Erst jetzt bemerkte Harvey die Nässe zwischen seinen Beinen.
Er hatte sich in die Hose gemacht.
13.
Eine halbe Stunde später saß Sarah auf der Wohnzimmercouch der Spencers und sah aus dem Fenster hinüber zu dem Blaulichtgewitter der beiden Streifenwagen.
Inzwischen hatte es zu regnen begonnen, schwere Tropfen, die sicher bald in Schnee übergehen würden. Durch die Spitzengardinen betrachtet wirkten ihr eigenes Haus und die hohe Hecke, die es umgab, irgendwie surreal. Wie die undeutliche Kulisse zu einem Film, der auf einer mit Orchideentöpfen und Staffordshire-Figuren verstellten Leinwand gezeigt wurde.
Aber es war nicht nur das Bild vor dem Fenster, ihre ganze Situation erschien ihr jetzt unrealistisch. Als wäre sie aus einem bösen Traum erwacht, nur um sich jetzt in einem noch viel schlimmeren Albtraum wiederzufinden.
Es war wie eine dieser Traum-im-Traum-Sequenzen, die sie das eine oder andere Mal in Manuskripten zu lesen bekommen hatte und jedes Mal mit dem Vermerk »unglaubwürdig« angestrichen hatte. Aber genau so fühlte sie sich jetzt. Ein Traum in einem Traum.
Nur das schmerzhafte Pochen ihres Arms, den sie provisorisch mit einem Seidenschal fixiert hatte, und Harveys heftige Umarmung überzeugten sie, dass dies die Realität war.
Mit ihrer gesunden Hand streichelte sie den Kopf ihres Sohnes und zog Mrs. Spencers Häkeldecke mit dem bunten Blumenmuster wieder hoch, die von seiner zitternden Schulter gerutscht war. Harvey fror. Er stand noch immer unter Schock. Er war bleich und hatte kein Wort mehr gesprochen, seit sie ihn zusammen mit den Polizisten aus seinem Versteck im Elternbadezimmer befreit hatte. Stattdessen hatte er sich an seine Mutter geklammert und sie mit leisem Wimmern hinaus ins Freie gezerrt – weg von ihrem Haus, das ihnen nun keine Sicherheit mehr bot. Nicht solange es noch irgendwo diesen unbekannten Eindringling gab, der jetzt spurlos verschwunden zu sein schien.
»Hier, ich habe Ihnen Tee gemacht.«
Fionuala Spencer stellte eine Tasse vor Sarah auf dem Couchtisch ab. Ihr Tonfall war um Höflichkeit bemüht, aber der Blick der alten Dame drückte etwas anderes aus. Tut mir wirklich leid, was Ihnen zugestoßen ist, meine Liebe, schienen ihre trüben Augen in dem hageren, faltigen Gesicht zu sagen, aber mussten Sie deswegen ausgerechnet bei uns Sturm läuten? Sehen Sie denn nicht, was nun Ihretwegen hier los ist?
Auch ihrem Mann Keith war der Umstand, dass sich seine Nachbarin mit ihrem vor Angst kreidebleichen Sohn samt der Polizei in seinem Haus aufhielten, alles andere als recht. Er gab sich erst gar keine Mühe, Mitleid mit Sarah zu heucheln. Seit er Sarah das Telefon gereicht hatte, um die Polizei zu rufen, saß der schmerbäuchige Pensionär wie ein versteinerter Buddha in seinem Fernsehsessel und verfolgte die Szenerie mit unbeweglicher Miene. Nur hin und wieder huschten seine Augen verstohlen zu Sarahs nackten Beinen. Sie trug noch immer ihr Nachthemd und den Morgenmantel und hatte sich bei der Rückkehr in ihr Haus nur schnell eine Steppjacke übergeworfen und Stiefel angezogen.
Erst als der uniformierte Polizist, der sich Sarah als Police Inspector Martin Pryce vorgestellt hatte, zu ihnen zurückkehrte, hob Spencer den Kopf.
»Dauert es noch lange?«, wollte er wissen, doch Pryce ignorierte ihn. Stattdessen wandte er sich Sarah zu.
»Wie geht es Ihrem Jungen?«
»Er hat Angst.« Sarah drückte Harvey noch fester an sich.
»Und Ihr Arm?«
»Ich fahre in die Klinik, sobald wir hier fertig sind.«
Pryce nickte und ließ sich auf dem freien Sessel neben ihr nieder. Er war ein breitschultriger Mann mit rötlichem Haar und walisischem Akzent.
Der Inspector wirkte vertrauenerweckend, dennoch gefiel Sarah etwas an seinem Blick nicht. Sie glaubte, eine Art Skepsis darin zu erkennen, von der sie nicht wusste, ob sie ihr persönlich galt oder ob es nur eine berufsbedingte Angewohnheit war.
»Ich kann verstehen, dass du dich fürchtest, Harvey.« Pryce nahm seine regennasse Mütze ab und schenkte ihrem Sohn ein warmes Lächeln. Es verriet Sarah, dass er selbst Familienvater war. »Aber dafür gibt es jetzt keinen Grund mehr. Du kannst dir sicher sein, der Mann ist weg, und er ist auch nicht mehr in der Gegend.« An Sarah gewandt fügte er hinzu: »Jedenfalls konnten wir kein verdächtiges Fahrzeug in der Umgebung ausmachen.«
»Es war ein silbergrauer Mercedes«, berichtigte ihn Sarah. Ihre Stimme zitterte. »Der Wagen meines Mannes.«
»Keine Sorge, Mrs. Bridgewater, ich habe ihn zur Fahndung ausschreiben lassen.«
»Ich soll mir keine Sorgen machen? Was ist, wenn er Stephen …«, Sarah unterbrach sich, sah zu ihrem Sohn und dann wieder zu Pryce. »Sie wissen schon, was ich meine.«
»Sie haben ihn immer noch nicht erreicht?«
Pryce deutete zu ihrem Handy, das vor ihr auf dem Couchtisch lag.
»Nur seine Mailbox. Er geht nicht ran. Wahrscheinlich kann er es nicht.«
Ihr war nach Schreien zumute, und hätte sie nicht ihren verstörten Sohn im Arm gehalten, hätte sie wahrscheinlich auch geschrien – nicht um sich Gehör zu verschaffen, sondern um ihre Verzweiflung loszuwerden.
»Was werden Sie jetzt tun?«
Pryce sah auf seine Mütze, als stünde dort die Antwort. »Nun ja, wie gesagt, Mrs. Bridgewater, wir werden nach dem Einbrecher und dem Mercedes Ihres Mannes fahnden. Aber solange Sie uns nicht sagen können, wohin Ihr Mann unterwegs ist, werden wir vorläufig nicht sehr viel mehr unternehmen können. Ist Ihnen inzwischen vielleicht eingefallen, zu welchem Kunden er wollte?«
Sie schüttelte den Kopf und presste die Augen zusammen, doch ein paar ihrer Tränen fanden dennoch den Weg über ihre Wangen. »Nein. In letzter Zeit war er häufiger in Kent, aber ich glaube, dieses Mal hat er keinen Ort genannt.«
»Das klingt, als seien Sie sich nicht sicher?«
»Doch, schon …« Sie dachte noch einmal kurz nach, dann schüttelte sie den Kopf. »Er hat es mir wirklich nicht gesagt.«
Da war sie wieder, diese Skepsis in Pryce’ Augen. »Kommt es häufiger vor, dass er Ihnen sein Reiseziel verschweigt?«
»Er hat es mir nicht verschwiegen, verdammt noch mal!«
Nun hatte sie doch geschrien. Es war einfach so aus ihr herausgeplatzt. Harvey fuhr erschrocken zusammen, und sie drückte ihn wieder an sich.
»Tut mir leid, Schatz, Mummy ist … mir ist gerade alles ein bisschen zu viel, verstehst du das?«
Ein bisschen zu viel, höhnte ihre innere Stimme. Eine hübsche Untertreibung.
Harvey sagte nichts, aber er schmiegte sich wieder an sie, und das war ihr Antwort genug.
»Hören Sie«, wandte Sarah sich mit gedämpfter Stimme wieder an Pryce, »mein Mann war in den letzten Monaten fast ständig zu irgendwelchen Kunden unterwegs. Er bekommt Aufträge im ganzen Land. Ich kann froh sein, wenn ich den Überblick behalte, wann er wieder zu Hause ist.«
Pryce nickte. »Dann läuft sein Geschäft also gut.«
Es war keine Frage, eher eine Feststellung, und Sarah entgegnete nichts.
»Sie wohnen in einer vornehmen Gegend«, fuhr Pryce fort. »Sie haben ein sehr schönes Haus und ein teures deutsches Auto …«
»Ja und? Was wollen Sie damit sagen?«
»Nun ja, Häuser wie das Ihre locken nun einmal Einbrecher an.«
»Nein«, fuhr sie ihn an. »Ich habe es Ihnen doch schon gesagt. Dieser Mann war kein gewöhnlicher Einbrecher. Er war verrückt. Er trug Stephens Anzug und tat so, als sei er mein Mann.«
Pryce räusperte sich. »Es tut mir leid, dass ich Sie das fragen muss, aber ich hoffe, Sie werden das verstehen …«
»Was meinen Sie?«
»Nun ja, sind Sie wirklich sicher, dass es der Anzug Ihres Mannes gewesen ist?«
»Ja, ich denke schon.«
»Sie denken es nur?«
Sarah musste schlucken. »Er sah genauso aus wie Stephens Anzug. Der gleiche Stoff, derselbe Schnitt. Und er war diesem Mann zu kurz. Dieser Mann war größer als Stephen, und der Anzug hat … ja, er hat lächerlich an ihm ausgesehen.«
»Vielleicht war es aber auch nur ein Anzug, der dem Ihres Mannes geähnelt hat. Das könnte doch sein? Oder kauft Ihr Mann nur Einzelstücke?«
Sie funkelte ihn zornig an. »Was soll das werden? Glauben Sie mir etwa nicht?«
»Ich versuche nur, Fakten zu sammeln. Jedwede Spekulation könnte uns in die Irre leiten.«
»Aber was ist mit Stephens Auto? Glauben Sie mir das ebenfalls nicht?«
»Haben Sie auf das Kennzeichen geachtet?«
»Natürlich.« Sie lachte verbittert auf. »Ich hatte vorhin nichts anderes zu tun, als mir das Kennzeichen unseres eigenen Wagens zu notieren, damit Sie mir auch ja glauben. Hätte ich vielleicht noch ein Foto machen sollen?«
»Mrs. Bridgewater, bitte.« Pryce machte eine beschwichtigende Geste. »Ich will Ihnen ja gerne glauben. Aber ich muss auf Nummer sicher gehen, und dazu muss ich zunächst einmal alle Eventualitäten ausschließen. Im Moment kann ich diesen Unbekannten höchstens wegen Hausfriedensbruchs belangen, denn wie Sie sagen, hat er nichts aus dem Haus mitgenommen. Und abgesehen von Ihrer Aussage habe ich keinerlei Beweise, dass dieser Verrückte, wie Sie ihn nennen, tatsächlich mit dem Wagen Ihres Mannes unterwegs ist und seinen Anzug trägt.«
Sarah schnaubte verächtlich. »Also glauben Sie mir doch nicht! Wahrscheinlich bin ich für Sie nur ein weiteres hysterisches Einbruchsopfer in Ihrer Statistik. Ist es so? Sie können es mir ruhig sagen.«
»Nein, so ist es nicht.« Pryce stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich glaube Ihnen, dass Sie überzeugt davon sind, Mrs. Bridgewater. Wirklich. Aber auch dann muss das noch nicht heißen, dass Ihrem Mann tatsächlich etwas zugestoßen ist. Dieser Unbekannte kann seinen Schlüssel ebenso gut irgendwo gestohlen haben, ohne dass Ihr Mann davon weiß.«
»Und wie sollte das gehen?«
»Vielleicht hat er das Auto geknackt, während Ihr Mann gerade in irgendeinem Hotel schläft und sein Handy abgeschaltet hat. Es wäre nicht das erste Mal, dass so etwas passiert. Mit einem ähnlichen Fall hatten wir kürzlich in Norbury zu tun. Die Familie war über ein verlängertes Wochenende unterwegs, man hat ihr Auto mitsamt den Schlüsseln gestohlen, und bis sie wieder zu Hause waren, war die Wohnung leer geräumt. Bevor wir also vom Schlimmsten ausgehen, sollten wir auch diese Möglichkeit in Betracht ziehen.«
»Meine Wohnung ist nicht leer geräumt«, gab Sarah zurück. »Im Gegenteil, dieser Kerl hat Geschenke mitgebracht, für mich und meinen Sohn. Warum ziehen Sie also nicht auch in Betracht, dass dieser Wahnsinnige meinem Mann etwas angetan hat? Warum wollen Sie das nicht einsehen?« Sarah zögerte. Dann fuhr sie fort: »Außerdem gibt es einen Beweis, dass es wirklich die Sachen meines Mannes waren.«
Pryce sah sie irritiert an. »Was meinen Sie?«
»Stephens Gepäck und seinen Mantel! Er hat den Koffer im Flur abgestellt.«
»Im Flur? Nein, da war nichts.«
»Was? Das kann nicht sein! Ich habe Stephens Koffer doch gesehen.«
»Wann?«
»Als dieser Mann in der Küche stand.«
Der Police Inspector runzelte die Stirn. »Und vorhin, als wir Ihren Sohn aus dem Haus geholt haben, war der Koffer immer noch da?«
Sie überlegte kurz und zuckte dann mit den Schultern. »Ich … weiß es nicht mehr. Ich wollte nur zu Harvey. Der verdammte Koffer hat mich nicht interessiert. Aber ja, er muss noch da gewesen sein.«
»Einen Moment«, entgegnete Pryce und rief über Funk einen der Kollegen, die im Haus der Bridgewaters mit der Spurensicherung beschäftigt waren.
»Nein, da ist nichts«, quäkte die Antwort aus dem Funkgerät. »Kein Koffer.«
Sarah ballte ihre gesunde Hand zur Faust. »Dann muss er ihn wieder mitgenommen haben, gottverdammt! Er will, dass Sie mir nicht glauben. Verstehen Sie das denn nicht?«
Wieder kämpfte sie gegen die Tränen an, und diesmal verlor sie.
Pryce zog ein zerknittertes Päckchen Papiertaschentücher aus seiner Uniformjacke und hielt es ihr hin. »Bitte beruhigen Sie sich, Mrs. Bridgewater. Ich verspreche Ihnen, wir werden tun, was wir können.«
Sie nahm die Packung, nestelte ein Taschentuch heraus und putzte sich die Nase. »Wissen Sie was? Das sagen die Polizisten in jedem beschissenen Krimi. Und zwar immer dann, wenn sie mit ihrem Latein am Ende sind.«
»Das sind wir noch lange nicht«, entgegnete Pryce und erhob sich. »Vertrauen Sie mir.«
Ein weiteres Polizistenklischee, dachte Sarah, aber sie verkniff sich diese Bemerkung. Beiß niemals eine helfende Hand, auch wenn sie dir gerade keine Hilfe ist.
»Das würde ich gerne, Inspector. Aber bitte glauben Sie mir, dass mein Mann in Gefahr ist. Ich habe zwar keine Beweise, aber ich weiß es trotzdem.«
Der Polizist nickte ihr zu. »Kommen Sie, ziehen Sie sich etwas an. Ich bringe Sie in die Klinik. Ihr Arm muss behandelt werden.«
»Danke.« Sie winkte ab. »Ich habe eine Freundin angerufen, die mich fahren wird. Sie müsste eigentlich gleich hier sein.«
»In Ordnung«, sagte Pryce. »Wir melden uns umgehend bei Ihnen, sobald wir mehr wissen. Bis dahin halten Sie bitte die Augen offen. Melden Sie sich, sobald Ihnen irgendetwas verdächtig erscheint.« Damit gab er Sarah eine Visitenkarte. »Und wechseln Sie Ihre Schlösser aus, ja?«
Sarah hatte sichtlich Mühe, ihre hilflose Wut zu unterdrücken. »Mehr werde ich im Augenblick ja wohl nicht tun können.«
Da war sie wieder, diese namenlose Angst.
14.
Zur großen Erleichterung der Spencers klingelte Sarahs Freundin Gwen kurze Zeit nachdem die Polizisten gegangen waren. Bis dahin war das Wohnzimmer des Rentnerpaares von bedrückendem Schweigen erfüllt gewesen.
Fionuala Spencer begleitete ihre ungebetenen Gäste noch bis zur Tür und schloss gleich hinter ihnen ab. Sarah hörte das zweimalige Schnappen des Türschlosses, als sie noch keine drei Schritte vom Haus entfernt waren.
Die Illusion der Sicherheit in den eigenen vier Wänden, dachte sie und fröstelte. Glaubt lieber nicht daran.
Dennoch ging sie noch einmal zurück in ihr Haus, um sich umzuziehen, während Gwen mit Harvey im Auto auf sie wartete.
Sarah beeilte sich und atmete auf, als sie wieder im Freien war.
15.
In der Notaufnahme musste Sarah nicht lange warten.
»Sind Sie Rechtshänderin?«, fragte der Arzt, während er ihren Arm behandelte.
Sie nickte.
»Na, dann haben Sie ja Glück im Unglück gehabt«, sagte er und betrachtete ihren geschienten Unterarm. »Es ist ein glatter Bruch. Sie werden sehen, das ist schon bald wieder vergessen.«
Daraufhin brach Sarah in schallendes Gelächter aus. Es war ein unheimliches, hysterisches Lachen, und sie konnte nichts dagegen tun.
16.
Als er dieses Mal aus der Ohnmacht erwachte, wusste er sofort, wo er sich befand. Beim letzten Mal war er noch zu kaum einem klaren Gedanken fähig gewesen – zumindest zu keinem, der ihm Aufschluss gegeben hätte, wo er gefangen gehalten wurde –, aber diesmal war es ihm schlagartig klar.
Die Wirkung der Spritze, die ihm dieser Scheißkerl hinterrücks verabreicht hatte, war nun völlig verflogen.
Nun spürte er deutlich den harten Untergrund und den filzartigen Stoff, der an seiner Wange rieb, sobald er den Kopf zu drehen versuchte. Und er roch den vertrauten Geruch von Metall, Gummi und Benzin, der irgendwann den süßlichen Geruch jedes Neuwagens verdrängt.
Kein Sarg, meldeten seine Sinne, die in der allumfassenden Dunkelheit seines engen Gefängnisses auf Hochtouren liefen. Es ist ein Auto. Ich liege in einem Kofferraum. Einem verdammt engen Kofferraum!
Das war nun also geklärt, und auch wenn ihm dieses Wissen nicht viel nutzte, verschaffte es ihm ein klein wenig Erleichterung. Wenigstens lag er nicht sechs Fuß tief in irgendeinem Wald verscharrt.
Es gab also einen Funken Hoffnung, hier wieder herauszukommen.
Doch mit der Rückkehr seines klaren Denkens setzten auch die Schmerzen ein. Sein ganzer Körper meldete, dass er die eingekeilte Haltung nicht mehr lange ertragen konnte. Sein unnatürlich gebeugtes Rückgrat schien in Flammen zu stehen, und seine angewinkelten Arme und Beine kribbelten, als würden Heerscharen brennender Ameisen durch sie marschieren. Außerdem spürte er seinen Puls in den Kniekehlen. Wie glühende Messerklingen, die mit jedem Herzschlag zustachen.
Aber ganz gleich, wie sehr er sich auch wand und auf den Rücken zu drehen versuchte, das Brennen wollte nicht aufhören.
Ihm schoss eine Erinnerung durch den Kopf, ein Hinweis, den man Fluggästen auf Langstreckenflügen gab: Die Passagiere sollten sich ausreichend bewegen, da andernfalls Thrombosegefahr bestand. Ihm war, als sähe er das Innere seiner Venen und Arterien wie in einem animierten Fernsehspot vor sich, wie sie mehr und mehr von Blutgerinnseln verstopft wurden, ehe sich eines dieser Gerinnsel von den Gefäßwänden löste, um sich auf den Weg zu seiner Lunge, seinem Herzen oder seinem Gehirn zu machen und ihm einen tödlichen Infarkt zu bescheren.
Wie lange mochte es dauern, bis es so weit war? Seinen Schmerzen nach zu urteilen, nicht mehr lange.
Wieder versuchte er, sich auf den Rücken zu drehen, doch etwas stach ihn und blockierte ihn. Irgendein harter Gegenstand, der mit ihm das enge Gefängnis teilte – vielleicht der Wagenheber, das Radkreuz oder der Verbandskasten.
Also drückte er von seitwärts mit aller Kraft gegen den Kofferraumdeckel, so gut es mit zusammengebundenen Beinen ging – ein immenser Kraftakt.
Doch nichts rührte sich.
Er hämmerte mit den gefesselten Fäusten dagegen.
Nichts.
Nur Stille.
Er vernahm nicht einmal mehr das weit entfernte Brummen vorbeifahrender Autos, das er beim letzten Mal zu hören geglaubt hatte.
War der Wagen in der Zwischenzeit womöglich umgeparkt worden?
Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
Da er jegliches Zeitgefühl verloren hatte, konnte es ebenso gut sein, dass nun wieder tiefe Nacht war und sein gegenwärtiger Standort sich außerhalb der Stadt befand. Und dass dieser Wagen nicht in der Innenstadt parkte, war so gut wie sicher.
Das einzige Geräusch, das noch gelegentlich zu ihm in die Dunkelheit drang, war ein entferntes Tropfen. Es konnte von einem Wasserhahn stammen oder von einer undichten Rohrleitung, und jedes Mal wurde es von einem Echo begleitet. Es ließ darauf schließen, dass das Auto womöglich in einer großen leeren Halle stand.
Dieser Gedanke machte ihm sofort wieder Angst. Wahrscheinlich stand er an irgendeinem gottverlassenen Ort, an dem ihn niemand finden würde.
Dann hätte ihn dieser Mistkerl ebenso gut in einem Sarg verscharren können.
Obwohl er sich wie ausgetrocknet fühlte und ihm seine Zunge wie ein totes Pelztier im Mund lag, rannen Tränen über seine Wangen. Zum Weinen schien sich der Körper immer noch ein wenig Flüssigkeit aufzubewahren.
Er wollte nicht sterben. Dazu war er noch nicht bereit. Er hatte Familie. Was, wenn sie nie erfahren würden, was aus ihm geworden war?
Mit der Verzweiflung kochte gleichzeitig unbändige Wut in ihm hoch. Warum, zum Teufel, tat man ihm das an? Es gab doch keinen Grund, ihn hier elendiglich krepieren zu lassen! Er hatte doch niemandem etwas getan!
Ruhig, ganz ruhig, redete er sich zu. Wenn er jetzt in Panik geriet, würde er seine Situation nur noch verschlimmern.
Denk an die Blutgerinnsel, die der erhöhte Pulsschlag von den Gefäßwänden reißen wird. Wenn das passiert, ist es aus, noch ehe jemand überhaupt die Chance hat, dich zu retten!
Aber wie sollte er jetzt ruhig bleiben? Seine Klaustrophobie war längst wieder zu ihm zurückgekehrt. Jetzt fehlte nur noch das Gefühl, ersticken zu müssen, und dann wäre die Panik perfekt.
Er spürte bereits, wie sich seine Kehle zuzog und …
Schluss damit!, befahl er sich. Ich will überleben! Ich muss überleben!
Und tatsächlich ließ der Angstschub ein wenig nach. Nicht viel, aber genug, um bei Verstand zu bleiben.
Er bemühte sich, seine Gedanken auf das zu lenken, was geschehen war, bevor er sich in dem Kofferraum wiedergefunden hatte. Doch alles, was ihm in Erinnerung kam, waren Fragmente. Puzzleteile, die nicht recht zusammenpassen wollten.
Ein plötzliches Brennen in seinem Nacken.
Er war gestürzt.
Jemand hatte ihn aufgefangen und auf den Boden gelegt.
Dann ein Stich in die Schulter.
Die Straße, die sich wie ein Karussell zu drehen begann.
Finsternis.
Aber davor? Was war davor gewesen?
Ein Kiosk.
Ein Becher Tee, so heiß, dass er sich fast die Zunge daran verbrannt hätte, mit einem Schuss Zitronensaft. Das ideale Getränk an kalten Wintertagen.
Die neueste Ausgabe des Observer.
Auf der Titelseite ein weiterer Artikel über den Mann, der am helllichten Tag vor den Augen zahlreicher Zeugen von der Millennium Bridge gesprungen war. Das anhaltende Rätselraten über die Gründe seines Selbstmords. Er war eine angesehene Persönlichkeit gewesen. Irgendein Direktor. Nein, ein Professor. Oder doch ein …
Ein metallisches Rumpeln riss ihn jäh aus seinen Gedanken. Ein Rolltor, das in einiger Entfernung geöffnet wurde.
Dann näherten sich Schritte. Vielleicht war das die Rettung!
Er stieß einen Schrei aus, der jedoch von dem Klebeband zu einem Grunzen gedämpft wurde. Dann hämmerte er mit den Fäusten gegen den Kofferraumdeckel.
Ja, da kommt jemand! Endlich! Ich kann hier raus!
Erst als die Schritte unmittelbar vor dem Wagenheck endeten und für eine Weile nichts geschah, verstummte er.
Er hörte das Klimpern von Schlüsseln, das ihm merkwürdig vertraut schien, und dann wurden ihm schlagartig zwei Dinge klar.
Erstens: Er lag in seinem eigenen Fahrzeug. Dieses Schlüsselklimpern hätte er unter Tausenden anderen herausgehört.
Und zweitens: Die Person, die jetzt mit seinen Schlüsseln vor dem Kofferraum stand, war auch die Person, die ihn hier gefangen hielt.
Dieser Mann – denn aus irgendeinem Grund war er überzeugt, dass es ein Mann war – würde ihn nicht retten. Nein, dieser Mann war eine Gefahr!
Noch während er fieberhaft überlegte, wie er sich gegen seinen Entführer wehren konnte, öffnete sich das ferngesteuerte Kofferraumschloss mit einem metallischen Klacken. Gleich darauf wurde der Deckel aufgerissen, und das grelle Licht einer Handlampe blendete ihn. Eine Weile sah er gar nichts. Dann tauchte eine schemenhafte Hand auf. Sie hielt etwas Dünnes, so viel konnte er erkennen.
Etwas Spitzes!
Eine Nadel!
Nein! Nein! Nein!
Wieder schrie er, und wieder dämpfte das Klebeband den Schrei.
Die Nadel drang in seine Schulter. Ein kurzes Brennen, dann wurde die Hand mit der Spritze zurückgezogen.
In einer unsinnigen Bewegung versuchte er, mit seinen gefesselten Händen danach zu schlagen, aber die Hand mit der Spritze war schon wieder verschwunden.
»Es tut mir leid«, hörte er eine Männerstimme aus dem Licht. »Ich hoffe, Sie werden mir das nachsehen, aber mir blieb keine andere Wahl.«
Was, zur Hölle, redet dieser Scheißkerl?, durchfuhr es ihn, und dann breitete sich erneut das dumpfe Gefühl in seinem Kopf aus.
»Bleiben Sie ruhig«, sagte die Männerstimme. »Ich verspreche Ihnen, Sie haben es bald hinter sich.«
Dann wurde der Kofferraumdeckel wieder geschlossen, die Schritte entfernten sich, und er hörte das Schlagen der Fahrertür.
Jetzt werde ich sterben, war sein letzter Gedanke.
Als der Motor angelassen wurde und der Wagen sich in Bewegung setzte, verlor er erneut das Bewusstsein.
17.
Eine halbe Stunde später saß Sarah am Esstisch in Gwens offener Küche und starrte auf ihr Handy.
Was hätte sie dafür gegeben, wenn Stephen sich endlich melden würde. Wenn er ihr erzählen würde, dass man ihm tatsächlich den Mercedes und seine Schlüssel gestohlen hatte. Stattdessen erreichte sie nur immer wieder seine Mailbox und bekam seine knappe Aufforderung zu hören, nach dem Signalton eine Nachricht zu hinterlassen.
»Das wäre Glück im Unglück«, murmelte sie und dachte an die Formulierung, die der ahnungslose Arzt gebraucht hatte. »Wenn ich endlich wüsste, dass ihm nichts geschehen ist.«
Aber ihr Glück beschränkte sich weiterhin nur auf ihren Arm. Ein glatter Bruch, eine blaue Plastikschiene, die Aussicht auf baldige Genesung – damit war ihr Glücksguthaben wohl fürs Erste aufgebraucht.
Nein, das stimmt nicht, musste sie sich korrigieren. Harvey ist nichts geschehen. Und ich habe Gwen. Sie ist jetzt mein größtes Glück.
Gwen hatte darauf bestanden, dass Harvey und Sarah bei ihr wohnten, bis der Fall geklärt war, und Sarah war ihr unendlich dankbar dafür. In ihr Haus wollte sie auf keinen Fall zurückkehren. Sie würde schnellstmöglich die Schlösser auswechseln lassen, ja, aber dort wohnen? Nein.
Nicht, solange der Narbenmann mit Stephens Anzug auf freiem Fuß war.
Und es war Stephens Anzug gewesen. Dabei blieb sie, auch wenn ihr dieser Polizist versucht hatte einzureden, der Verrückte habe nur einen ähnlichen Anzug getragen. Warum trug er dann nicht einen Anzug in seiner Größe, statt in albernen Hochwasserhosen herumzulaufen?
Gwen kam ins Wohnzimmer und trat zu ihr.
»Die beiden schlafen jetzt«, sagte sie leise. »Diana hat Harvey ihren heiß geliebten Winnie Pooh geschenkt, kannst du dir das vorstellen? Ich sage dir, das ist wahre Liebe.«
»Danke.« Sarah lächelte müde. »Euch beiden.«
»Keine Ursache, wozu sind beste Freundinnen sonst da? Außer zum Shoppen.«
Gwen zwinkerte ihr zu. Sie trug wieder die selbstbewusste Brünette zur Schau. Nur sehr wenige Leute außer Sarah wussten, dass dies bloß Maskerade war. Die beiden Frauen hatten sich in einer Gesprächsgruppe kennengelernt, kurz nachdem Sarah ihre Kündigung eingereicht hatte. Damals hatte Sarah sich gefragt, was diese selbstbewusste Frau mit der sportlichen Figur und den Mandelaugen, die die Blicke sämtlicher Männer im Raum auf sich zog, in einer Gruppe Angsterkrankter verloren hatte.
Sarah und Gwen hatten sich auf Anhieb verstanden, und nur drei oder vier Sitzungen später waren sie zu dem Schluss gelangt, dass ihnen die Gruppengespräche nicht annähernd so viel gaben wie ihre privaten Unterhaltungen. Also hatten sie die Therapie abgebrochen und sich fortan abwechselnd bei sich zu Hause oder in Pubs getroffen. Sarah erfuhr die Geschichte ihrer Freundin. Vor acht Jahren war Gwen während ihrer Schwangerschaft depressiv geworden, sie hatte sogar an Selbstmord gedacht. Schließlich ließ sie sich in eine Psychiatrie einweisen. Der Vater ihrer Tochter hatte sie daraufhin im Stich gelassen. Seither kämpfte Gwen sich allein durch. Längst ging es ihr wieder gut, aber aufgrund ihrer Vorgeschichte hatte sie ihren Job als Erzieherin verloren und fand auch keine neue Anstellung mehr. Offenbar wollte niemand seine Kinder einer Person anvertrauen, die schon einmal psychiatrisch behandelt worden war. So schlug sie sich seit Jahren mit Gelegenheitsjobs durch, die sie ebenso häufig wechselte wie ihre Affären.
»Du solltest dir ein Beispiel an Harvey nehmen und ebenfalls ein wenig schlafen«, sagte Gwen und ging zum Kühlschrank. »Unter uns gesagt, du siehst schlimm aus.«
»Ich weiß«, seufzte Sarah. »Aber ich kann nicht. Nicht, solange ich nichts von Stephen gehört habe.«
»Nun komm schon.« Gwen kam mit zwei Flaschen und zwei Gläsern an den Tisch zurück. »Die beiden Jungs hier werden dir helfen, ein bisschen Schlaf zu finden. Darf ich vorstellen: Mr. Gordon und Mr. Tonic.«
Sie goss ihnen ein und sparte dabei nicht mit Gin. Sarah nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. »O Gott! Damit gebe ich mir jetzt den Rest.«
»Mach dir nicht so viele Sorgen«, sagte Gwen. »Harvey schlägt sich wirklich tapfer. Er hat vorhin sogar schon wieder gelacht, als Diana ihm den Teddy in den Arm gedrückt hat. Sie tut ihm gut, du wirst sehen. Und sicher wird die Polizei diesen Kerl bald schnappen.«
»Aber Stephen …«
»Ihm ist bestimmt nichts passiert, glaub mir«, fiel Gwen ihr ins Wort. »Wahrscheinlich hat der Polizist recht. Stephen wird in irgendeinem Hotel schlafen und von dem Diebstahl gar nichts mitbekommen haben.«
Sarah drehte gedankenverloren ihr Glas in der Hand. »Nein«, flüsterte sie. »Dieser Kerl hatte Stephens Koffer. Was ist, wenn … wenn er ihn umgebracht hat?«
Gwen ergriff ihre Hand. »Daran darfst du nicht einmal denken, Liebes! Warum sollte er das tun? Das ergibt doch keinen Sinn.« Gwen winkte ab, aber sie klang nicht wirklich überzeugend. »Mag sein, dass er Stephens Sachen gestohlen hat, aber deswegen bringt er ihn doch nicht gleich um. Ich denke, dieser Spinner wollte dich einfach nur erschrecken. Von solchen Freaks hört man immer wieder.«
Sarah blinzelte gegen die Tränen an. Noch nie zuvor hatte sie sich derart erschöpft und gleichzeitig aufgewühlt gefühlt.
»Das Schlimmste ist, dass ich nichts tun kann. Wenn ich doch nur wüsste, wohin Stephen gefahren ist. Ich hätte ihn fragen sollen, aber wir haben nur kurz zwischen Tür und Angel miteinander gesprochen.« Sie schnaubte vorwurfsvoll. »Weil ich dämliche Kuh noch einkaufen gehen wollte.«
Gwen trank einen Schluck, dann sah sie Sarah prüfend über den Rand ihres Glases an. »Ist das die ganze Wahrheit, oder gab es noch einen anderen Grund, warum ihr nicht darüber gesprochen habt?«
Sarah wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. »Nein, du hast recht, ich mache mir etwas vor. In letzter Zeit haben Stephen und ich nur wenig miteinander gesprochen.«
»Und warum?«
»Wegen seiner Arbeit. Weißt du, ich freue mich ja, dass seine Projekte so gut laufen, wirklich. Stephen überlegt sogar, einen Mitarbeiter einzustellen. Aber ich war auch gereizt, weil er nur noch für seine Arbeit lebt. Für Harvey oder mich hat er kaum noch Zeit. Und er scheint nicht einmal zu merken, dass er uns fehlt.« Sie griff nach ihrem Glas und trank es in einem Zug leer. »Ich wollte es ihn spüren lassen. Deshalb habe ich ihn nicht mehr gefragt, wohin er fährt. Ich dachte, irgendwann muss er es doch merken.«
»Okay, verstehe.« Gwen deutete zu der Couch am anderen Ende des Zimmers, auf der sie mehrere Wolldecken und ein Kopfkissen für Sarah bereitgelegt hatte. »Jetzt schlaf erst einmal. Es bringt nichts, wenn du hier herumsitzt und dir Vorwürfe machst. Denk an Harvey, er braucht dich jetzt. Ich bin oben im Schlafzimmer, falls etwas ist.«
Damit stand sie auf, ging zur Tür und sah sich noch einmal zu Sarah um. »Hast du mich verstanden? Du wirst jetzt schlafen. Das war kein freundschaftlicher Rat, sondern ein Befehl.«
»Aye, Ma’am.«
Gwen nickte ihr lächelnd zu und verschwand nach oben.
Sarah blieb allein am Esstisch zurück und sah aus dem Fenster. Es dämmerte bereits, und der Regen hatte aufgehört. Der versprochene Schnee blieb aus, dafür war es nun zu kalt.
Irgendwo dort draußen war Stephen.
Aber wo?
Eine Joggerin lief vor dem Fenster vorbei. Sie trug enge schwarze Laufkleidung und riesige Kopfhörer, deren weiße Kabel vor ihrer flachen Brust hin und her hüpften.
Kopfhörer, wie wir sie früher hatten, dachte Sarah, und zunächst schien ihr dieser Gedanke zusammenhanglos – beinahe so, als sei er ihr von einer fremden Stimme zugeflüstert worden. Doch schon im nächsten Moment erschien ein Bild vor ihrem inneren Auge. Eine Erinnerung, die der Anblick der Joggerin und der Kopfhörer in ihr geweckt hatte.
Mark, ihr Freund aus Kindertagen, hatte ihr vor vielen Jahren mal einen Walkman geschenkt.
Hier, hörte sie ihn sagen, das hilft, wenn einem alles zu viel wird.
Sarah sah sein schmales, sonnengebräuntes Gesicht vor sich wie auf einem Foto. Seine blauen Augen und die dichten dunklen Locken, die immer ein wenig verstrubbelt aussahen.
»Merkwürdig«, murmelte sie in die Stille der Küche. In den letzten Tagen musste sie immer wieder an jene Zeit denken, die so weit zurücklag, dass sie ihr fast wie ein früheres Leben schien. An ihre Kindheit und Jugend und an Mark, den Jungen aus der Nachbarschaft, der wie sie in Oxford studiert hatte. Aber nach dem Studium hatte sie ihn aus den Augen und irgendwann auch aus dem Sinn verloren. Erst ein Zeitungsartikel über den spektakulären Tod eines ehemaligen Professors aus Oxford, der Anfang letzter Woche erschienen war, hatte die Erinnerungen an Mark wieder aus der Dunkelheit ihres Unterbewusstseins zurückgeholt. Auch vorhin, als sie auf dem Höhepunkt ihres Albtraums an die Flucht aus dem Fenster gedacht hatte, war ihr Mark wieder erschienen.
Wäre sie abergläubisch gewesen, hätte sie dies für ein Zeichen halten können. So aber schob sie diese Bilder auf die Übermüdung und die Schrecken der letzten Stunden.
Dennoch wollte Mark ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen.
Hier … das hilft, hatte er damals gesagt, und beinahe war es so, als sagte er es gerade wieder zu ihr.
Sie schüttelte den Gedanken ab und legte sich auf die Couch. Sicherlich würde sie wieder nicht einschlafen können, fürchtete sie, aber kaum hatte sie die Augen geschlossen, dämmerte sie auch schon in eine traumlose Dunkelheit.
So lag sie eine Weile, ehe sie erschrocken hochfuhr, weil sie glaubte, Stephens Stimme vor dem Fenster gehört zu haben.
Mit rasendem Herzen sprang sie auf und sah nach. Doch es war nur der Milchmann, der sich mit Gwens Nachbarn unterhielt.
Zitternd ließ sie sich wieder auf die Couch sinken und starrte ihr Handy an.
»Bitte ruf an«, beschwor sie das Telefon. »Sag, dass dir nichts passiert ist.«
Doch das Handy schwieg.