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25

Am Tag vor Davids Hochzeit packten Ed und ich den Lieferwagen und fuhren wieder hinaus nach Long Island. Ich wollte bis zum Abend so viel wie möglich erledigt bekommen und hatte mich deshalb sogar dazu durchgerungen, den Laden ausnahmsweise einen ganzen Tag lang zu schließen, damit mein gesamtes Team mit anpacken konnte.

Die Lithgow-Hochzeit gehörte wahrscheinlich zu den größten Feiern, die wir jemals gemacht hatten (abgesehen natürlich von Mimis grandiosem Großen Winterball). Verglichen mit dem letzten Mal hatten George und Phoebe bei den Hochzeitsvorbereitungen für ihren einzigen Sohn noch mal ordentlich zugelegt: Catering von einem der besten Restaurants Manhattans, zehn weiße Pfauen auf dem prächtigen grünen Rasen, ein zwanzigköpfiges Orchester und – ganz exklusiv – das gesamte Servicepersonal aus Georges Lieblingshotel in Boston. Um nur einige der sündhaft teuren Glanzlichter des großen Tages zu nennen. Beim Blumenschmuck hatten David und Rachel sich weiße Lilien, Pfingstrosen und Gardenien gewünscht, die sämtliche Wege säumen sollten, die das Brautpaar und seine Gäste auf dem Anwesen beschreiten würden. In der Orangerie sollte das florale Thema dann seinen Höhepunkt finden mit üppigen Blumenarrangements, deren Opulenz durch dunkelgrünen Efeu und winzige Lichterketten noch unterstrichen wurde. Hinzu kamen Unmengen an Tischschmuck, vier geschmückte Türbögen auf dem Weg zur Orangerie sowie acht raumhohe Prunkstücke für den Bereich, in dem die Gäste während der Zeremonie saßen. Wir hatten also allerhand zu tun.

Als wir am Ort des Geschehens eintrafen, herrschte im und um das Haus herum schon rege Betriebsamkeit. Ed und ich ließen Marnie, Jocelyn und Jack beim Lieferwagen zurück und bahnten uns unseren Weg an Lieferanten, Sicherheitspersonal und aufgeregten Hochzeitsplanerinnen vorbei zum Haus.

In allen Räumen wimmelte es von Arbeitern, die mit den Aufbauten für die Feier beschäftigt waren. Ed pfiff leise durch die Zähne. »Wow … das ist absoluter Wahnsinn! Ich werde nie verstehen, wie man aus seiner Hochzeit so ein Spektakel machen kann. Geht es nicht eigentlich um zwei Menschen, die sich lieben und einfach nur heiraten wollen? «

Ich knuffte ihn leicht in die Seite, als wir uns unter einem Spruchbanner hindurchduckten, das zwei Frauen aufzuhängen versuchten, die zu beiden Seiten der Tür auf kleinen Klappleitern standen. »Du alter Romantiker, du.«

»Ich meine das ernst. Die ganze Hochzeitsindustrie lebt doch nur davon, dass sie den Leuten weismacht, sie müssten aberwitzige Mengen Geld für Dinge ausgeben, die kein Mensch braucht.«

»Wie für unseren Blumenschmuck beispielsweise?«

Ed blieb stehen, um einen der Arbeiter vorbeizulassen, der einen turmhohen Stapel Stühle vor sich herschob. »Schäm dich, Rosie! Wir erfüllen lediglich die Wünsche unserer Kunden – wir drehen ihnen nicht all diesen überteuerten Unsinn an. Und dürfte ich dich daran erinnern, dass man auf einer Hochzeit nie genug Blumen haben kann?«

»Diese Hochzeit dürfte dann wohl die Ausnahme von der Regel sein«, meinte ich grinsend, obwohl mein Magen bei dem Gedanken an den Blumen-Overkill, der uns bevorstand, schon wieder aufgeregte Purzelbäume schlug. Nach einem kurzen Blick auf die Uhr meinte ich: »Okay, so langsam sollten wir mal David und Rachel finden, um den Zeitplan abzustimmen. Wir haben noch richtig viel zu tun, und ich fände es toll, wenn das Team um sechs Feierabend machen könnte. Ab wann können wir ins Hotel?«

Ed blätterte in den Zetteln auf seinem Klemmbrett. »Ab halb sechs. Abendessen ist um acht – wenn wir wollen.«

»Und es ist kein Problem, dass wir die ganzen Blumen mitbringen und noch an den Sträußen arbeiten?«

Ed schüttelte den Kopf. »Ich habe das gestern nochmal mit dem Manager geklärt: Er hat extra den zweiten Speiseraum für uns reserviert – und er stellt uns eine eigene Kaffeemaschine zur Verfügung.«

»Super. Kaffee werde ich brauchen.«

»Hat hier jemand Kaffee gesagt?«, fragte David, der uns lächelnd aus der Orangerie entgegenkam, seinerseits unzählige Zettel und ein Notizbuch in der Hand. »Ich wollte gerade eine Runde bei Starbucks bestellen – wie viele seid ihr in eurem Team?«

»Fünf, einschließlich Rosie und mir«, erwiderte Ed und schüttelte David die Hand.

»Ehe du gehst, könntest du das bitte noch schnell absegnen? « Ich reichte ihm unseren Zeitplan, wo genau aufgelistet stand, wann wir im Laufe des Tages wo wie lange arbeiten würden. Die kleine Geste genügte, um erneut lebhafte Erinnerungen daran zu wecken, wie wir damals in Boston mit unseren eigenen Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt gewesen waren. Selbst bei den alltäglichsten Kleinigkeiten hatte es immer zwischen uns geknistert. Und ich spürte sie noch immer, diese Chemie – auch jetzt. Doch seit wir uns ausgesprochen hatten, fand ich das nicht mehr bedrohlich. Es fühlte sich einfach nur noch … gut an. Ich bin endlich über ihn hinweg, dachte ich und strahlte David an. Jetzt wird alles gut werden.

»Müsste okay sein«, meinte er und unterschrieb. »Wenn es Probleme gibt, wende dich einfach an Jean-Claude – er leitet das Hochzeitsplaner-Team.«

Jean-Claude war durch und durch Profi: voller schillernder Extravaganz und glühendem Enthusiasmus vor den Kunden, knallhart und unerbittlich seinem Team gegenüber. Er gebärdete sich wie ein allmächtiger Zeremonienmeister und bellte Befehle wie ein französischer Feldwebel, während sein Team auf seine Anweisung hin huschte, sprang und sich beeilte. Wir fanden ihn dabei, wie er drei Arbeiter herunterputzte, die ihn etwas ratlos anstarrten, vor sich eine halbabgeladene Palette mit Tischen.

»Ah non, dann lasst die Tische ’ier stehen. Und du! Was machst du da? Isch ’abe doch gesagt, erst um Viertel nach fünf wird ’ier aufgebaut. Punkt Viertel nach fünf! Hast du keine Uhr? Ah oui, dann guck drauf, imbécile!« Als er mich und Ed kommen sah, schaltete seine Miene auf beflissenes Wohlwollen um. »Ah, Mademoiselle Duncan, wie wunderbar, Sie zu se’en! Isch ’offe, dass alles zu Ihrer Zufrieden’eit ist?«

»Ja, danke, alles wunderbar. Wir würden gern in der Orangerie anfangen, wenn das möglich ist.«

Jean-Claude konsultierte seine Mappe – die nicht umsonst größer und gewichtiger war als die aller anderen. »Gut, gut. Isch werde dafür sorgen, dass Sie nischt gestört werden. « Damit fuhr er wieder zu den armen Typen mit den Tischen herum. »Eh, ’abt ihr ge’ört, non? Die Floristen sollen nischt gestört werden!«

Ed und ich mussten uns das Lachen verkneifen, bis wir außer Hörweite waren.

»Was war denn da so lustig?«, wollte Marnie wissen, als wir zurück zum Lieferwagen kamen.

»Oh, das merkst du schon noch«, versprach ihr Ed und sprang in den Laderaum. »So, Leute – ab an die Arbeit.«

In den letzten Jahren habe ich mich oft gefragt, was Mr Kowalski wohl von den großen Aufträgen halten würde, wie sie bei uns mittlerweile fast an der Tagesordnung sind. Er war immer ein Verfechter des Kleinen gewesen. Sein Kerngeschäft bestand aus Sträußen und kleinen Gestecken, die kurzfristig für die Kundschaft im Laden gefertigt wurden. Als ich bei ihm anfing, hatte er gerade seinen allerersten Großauftrag angenommen – und machte nachts kaum noch ein Auge zu vor Aufregung.

»Wenn das hier mal dein Laden ist, ukochana, trau dir ruhig Größeres zu. Aber meine Nerven vertragen so etwas nicht. Ich bin eben doch schon ein alter Mann, und dieser Auftrag hat mir mehr Falten beschert als alles, was mir in den sechzig Jahre zuvor passiert ist.«

Die Lithgow-Hochzeit hätte Mr Kowalski wahrscheinlich ins Grab gebracht. Obwohl mein ganzes Team wie besessen arbeitete, war es plötzlich schon fünf Uhr, und der Blumensaum für die Wege war noch immer nicht fertig. Wir waren gerade im Foyer beschäftigt, und mir entging nicht, wie Marnie, Jocelyn und Jack nicht nur sehr halsbrecherisch auf Leitern und Stühlen balancierten, sondern auch immer wieder verstohlen auf die Uhr schauten, wenn sie sich unbeobachtet glaubten. Ich nahm Ed beiseite.

»Vor sieben werden wir hier nicht fertig – ich habe den dreien aber versprochen, dass sie um sechs gehen können …«

Ed rieb sich seufzend die Stirn. »Ich weiß. Warum fragen wir nicht Jean-Claude, ob er ein paar Leute entbehren kann, die uns beim Auslegen des Blumensaums helfen?«

»Gute Idee«, meinte ich, und während er sich auf die Suche nach dem großen Meister machte, rief ich Marnie, Jocelyn und Jack herüber. »Okay, ihr drei, sowie die Treppe geschafft ist, könnt ihr nach Hause.«

»Aber was ist mit den Girlanden?«, fragte Jocelyn.

»Um die kümmern wir uns. Bis zum Hotel ist es nicht weit – Ed und ich haben also noch den ganzen Abend Zeit. Seht einfach nur zu, dass ihr hier fertig werdet – gute Arbeit! «

Zufrieden sah ich, wie mein Team sich frisch motiviert ans Werk machte, mir kurz nach sechs stolz die Treppe präsentierte und sich verabschiedete. Ihr Talent und ihr Arbeitseifer erfüllten mich mit Freude – und dem fertigen Projekt sah man an, dass sie mit Herz und Seele bei der Sache gewesen waren. Während Ed noch unser »Girlanden-Kommando« organisierte, nutzte ich die Gelegenheit für einen Gang durchs Haus, bei dem ich jedes einzelne Arrangement mit kritischem Blick prüfte. Für einen solchen Kontrollgang versuche ich bei jedem unserer Projekte Zeit zu finden.

Ich inspizierte gerade den Türbogen am Durchgang zur Orangerie, als ich spürte, wie jemand ganz dicht an mich herantrat.

»Du hast dich selbst übertroffen«, sagte David, seine Stimme tief und leise – und ganz nah an meinem Ohr. »Es ist absolut überwältigend.«

Ich drehte mich um und blickte direkt in seine steingrauen Augen. »Danke«, erwiderte ich und fühlte mich auf einmal wieder furchtbar verletzlich. »Mein Team hat wirklich sein Bestes gegeben.«

»Aber der Entwurf, die ganze Konzeption ist von dir.«

»Von mir und von Ed.«

»Aber du bist der Boss, Rosie.«

»Eigentlich sind wir das beide – meistens zumindest.« Ich wandte mich wieder dem Bogen zu und ersetzte eine der weißen Pfingstrosen, deren Blüte schon etwas welk wirkte. »Aber ich stimme dir darin zu, dass das Konzept wirklich perfekt aufgegangen ist.«

»Hast du nachher noch Zeit für einen Drink?«

»Eigentlich nicht. Ed und ich haben heute Abend noch ziemlich viel zu tun.«

David hob bittend die Hände. »Komm schon – nur ein kleiner Drink. So viel Zeit wird doch wohl sein?«

»So, alles erledigt«, berichtete Ed stolz, der plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht war. »Wollen wir los?«

»Ich … ich will das hier noch eben fertig machen«, sagte ich, und als David mich anlächelte, war meine Entscheidung gefallen. »Geh schon mal vor«, sagte ich zu Ed. »In einer halben Stunde bin ich hier durch.«

Er schaute David an, dann wieder mich. »Sicher?«, fragte er sichtlich besorgt. »Du solltest dich lieber ausruhen, bevor wir die nächste Sache angehen.«

»Das werde ich, versprochen. Du kennst mich doch. Ich will nur kurz meinen Kontrollgang machen.«

»Unverbesserliche Perfektionistin«, meinte Ed und schaute David an. »Könnten Sie dafür sorgen, dass Rosie hier nicht mehr länger als eine Stunde arbeitet?«

David grinste. »Versprochen.«

»Wenn sie einmal mit etwas angefangen hat, vergisst sie schnell mal die Zeit«, plauderte Ed weiter. Er schien mich nur ungern mit David allein zu lassen, und ich sah, wie David kaum merklich mit dem linken Fuß zu wippen begann – erstes untrügliches Anzeichen dafür, dass seine Geduld ziemlich strapaziert war. Ich erinnerte mich noch aus Londoner Agenturtagen daran.

»Keine Sorge, ich brauche nicht mehr lange«, versicherte ich Ed nachdrücklich.

Nach einem letzten Blick auf David nickte er mir kurz zu und ging.

Kaum war er weg, folgte ich David durch unzählige Türen und Zimmerfluchten in eine große Bibliothek im hinteren Teil des Hauses. Er trat an einen antiken Holzglobus, der als Bar diente, und goss uns mit routinierten Handgriffen zwei Drinks ein.

»Southern Comfort mit einem Schuss Wasser«, meinte er lächelnd, als er mir mein Glas reichte. »So, wie du ihn magst.«

Auf einmal hatte ich wieder Schmetterlinge im Bauch. Dass er sich nach sieben Jahren noch daran erinnerte!

»Lass uns in die Orangerie zurückgehen«, schlug er vor. »Dann können wir reden, während du deinen Kontrollgang machst.«

Die Kulisse für die morgige Hochzeit war wirklich atemberaubend. Das prächtige Haus mit seinem Blumenschmuck, den golden schimmernden Stühlen und dem eigens errichteten Hochzeitspavillon bot den perfekten, wenngleich etwas protzigen Rahmen für eine megaromantische Hochzeit. Mit prüfendem Blick ging ich meine Arrangements eines nach dem anderen ab und war mir dabei stets bewusst, dass David mich beobachtete. Um seine Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu lenken, fing ich an, höfliche Konversation zu machen, während ich zügig weiterarbeitete.

»Hat Rachel das eigentlich schon gesehen?«

»Sie möchte, dass es morgen eine Überraschung ist.«

»Und deine Eltern? Hast du sie etwa aus ihrem eigenen Haus verbannt?«

»Sind bei Freunden untergekommen.«

Puh, das war ja anstrengend. Ich versuchte es mit einer anderen Taktik. »Wie fühlst du dich denn so?«

Darauf bekam ich gar keine Antwort, aber ich spürte, wie sein Blick sich in meinen Rücken bohrte.

»Aufgeregt? Zuversichtlich? Gelassen?«

Ich merkte, dass er näher kam. »Ich habe nachgedacht.«

»Worüber?«

Jetzt stand er neben mir, seine Miene todernst, als ich mich zu ihm umdrehte. »Als ich hier heute herumgegangen bin und alles beobachtet habe, diese Betriebsamkeit, den Aufwand, der hier meinetwegen betrieben wird, musste ich daran denken, was ich mir damals habe entgehen lassen …«

Seine Worte durchschlugen meine ohnehin schon geschwächte Abwehr. »David …«

Er ließ seine Hand leicht auf meinem Arm ruhen. »Nein, ich meine nicht das, was du denkst. Eigentlich wollte ich nur sagen, dass ich bei unseren Hochzeitsvorbereitungen so sehr mit der logistischen Planung beschäftigt gewesen war, dass die emotionale Seite, die Vorfreude, etwas zu kurz gekommen ist. Sorry.«

Ich entspannte mich wieder etwas. »Nein, ich muss mich entschuldigen. Du warst für mich all die Jahre der mieseste Mann der Welt, und dich jetzt mit anderen Augen zu sehen, fällt mir noch etwas schwer.«

»Kein Grund, sich zu entschuldigen. Ich habe dir ja einen guten Grund gegeben, mich für den miesesten Mann der Welt zu halten.« Er lächelte reumütig. »Bist du hier durch?«

»Nein, da hinten noch, dann bin ich fertig.«

Wir gingen zum Pavillon hinüber, und ich prüfte kurz die Lichterketten, die um das filigrane Eisenwerk geschlungen waren.

»Wunderschön, nicht wahr? Mein Vater hat ewig nach so etwas gesucht – und ist dann in Maine fündig geworden. Man mag es gar nicht glauben, aber ausgerechnet in Maine sitzt eine kleine Firma, die solche Hochzeitspavillons herstellt und sie in aller Welt vertreibt!«

Ich lachte. »Überrascht mich gar nicht. Die Hochzeitsindustrie treibt die bizarrsten Blüten. Wenn du wüsstest, wie viele Leute damit ihr Geld verdienen.«

»Hier zum Beispiel«, bemerkte David und rieb sich verlegen den Nacken.

»Tja, das ist mir auch schon aufgefallen«, grinste ich und spürte, wie es auf einmal wieder zwischen uns knisterte. »Jetzt mal ganz im Ernst: weiße Pfauen – wer kommt auf so was?«

»Jean-Claudes Geniestreich.« Davids Augen funkelten, als er den großen Meister zu imitieren begann: »›Pfauen sind de rigueur, Monsieur Lithgow! Sie müssen Pfauen ’aben. Ohne Pfauen ist mein Werk nischt vollendet.‹ Und dann fing auch Rachel an: ›Darling, Pfauen sind ein absolutes Muss!‹ Et voilà – vierhundert Dollar später hatten wir Pfauen.«

»Du konntest schon immer gut Leute nachahmen.«

»Ja, nur mit dem Bräutigamspielen hat es ein bisschen gehapert.«

»Allerdings. Geplatzte Generalprobe sozusagen.« Während ich es sagte, ging mir auf, dass seine Bemerkung mich vor wenigen Monaten noch völlig aus der Fassung gebracht hätte. Es tat gut, jetzt darüber lachen zu können.

Eine Weile schaute er mich an, ein seltsames Lächeln im Gesicht. »Mit uns ist jetzt wirklich wieder alles okay, oder?«

»Doch, ich glaube schon.«

»Darf ich dir etwas sagen?«

»Ja, klar.«

Unverwandt schaute er mich an, dann holte er tief Luft. »Dich nach all den Jahren wiederzusehen war wirklich eine Offenbarung. Ich wusste schon immer, dass du etwas Besonderes bist, und jetzt … du hast dich verändert. Du bist stärker geworden. Doch, ich glaube, das ist es. Ich war dumm, das nicht gleich gemerkt zu haben.« Er griff nach meiner Hand, und mir schlug das Herz bis zum Hals. »Es tut mir unglaublich leid, dir das Herz gebrochen zu haben. Ich habe dich damals im Stich gelassen und werde das nie wiedergutmachen können.«

Als er ergriffen meine Hand drückte, schüttelte ich rasch den Kopf. »Lass es gut sein, David. Das ist längst vergessen und vorbei. Lass uns nicht mehr daran denken und nach vorne schauen. Ich verzeihe dir, was du damals getan hast. Und es tut mir leid, all die Jahre so schlecht von dir gedacht zu haben. Du hast mich sehr verletzt, aber es war ein Fehler, sich an dieser Erinnerung festzuklammern und dir an allem die Schuld zu geben, was seitdem war.«

»Du musst dich wahrlich nicht entschuldigen.«

»Ich möchte es aber.«

»Oh, Rosie … du bist wirklich unglaublich …«

Er streichelte meine Wangen und zog mich an sich. Ich spürte seinen Atem warm auf meinen Lippen, als sein Mund den meinen suchte. Und das Schlimmste war, dass ich es zuließ , dass er mich küsste. Ganz kurz nur, einen einzigen Moment, gab ich dem Verlangen nach, das ich so lange in den Schatten der Vergangenheit verdrängt und das tief in mir verborgen geschlummert hatte. Erinnerungen an unser gemeinsames Leben stürmten auf mich ein.

Doch dann wurde mir mit einem Schlag bewusst, was ich da gerade tat, und ich landete sehr unsanft wieder in der Wirklichkeit. Ich empfand tiefe Abscheu vor mir selbst, als ich mich von David losriss und ihn von mir stieß. »Sag mal, spinnst du?«

Völlig entgeistert machte David einen Schritt auf mich zu. Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Ich … ich dachte, du wolltest es auch …«

»Nein. Nein, verdammt nochmal! Du heiratest morgen! Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?«

»Rosie, bitte hör mich an. Ich liebe dich. An dem Tag, als wir uns in Nates Büro getroffen haben, habe ich mich wieder in dich verliebt. Wie dumm ich damals war! Mir war überhaupt nicht klar, was ich an dir hatte. Aber jetzt … jetzt bist du hier. Jetzt sind wir hier. Und wir haben Zeit.«

»Zeit? Wir haben keine ›Zeit‹, David – und es gibt auch kein ›wir‹.«

David packte mich bei den Schultern und sah mich flehentlich an. Tränen standen in seinen Augen. »Rosie, ich liebe dich. Lass uns von hier verschwinden. Jetzt gleich. Wir können nochmal von vorn anfangen. Ich werde mein ganzes Leben lang wiedergutmachen, was ich dir damals angetan habe. Ich werde dir die Liebe geben, die du verdient hast. Komm mit mir, Rosie. Noch bleibt uns Zeit.«

Seine Worte widerten mich an. Brüsk wandte ich mich von ihm ab, schnappte mir meine Tasche und lief zur Tür. »Sieh dich mal hier um, David«, meinte ich dann mit einem Blick auf die romantische Dekoration. »Alles ist bereit, damit du Rachel morgen heiraten kannst. Du solltest heute an sie denken, nicht an mich.«

»Und was, wenn ich nur an dich denken kann?«

»Sei nicht albern.«

»Bin ich nicht, Rosie. Du willst mir einfach nicht aus dem Sinn. Ich kann an niemand anderen mehr denken.«

»Hör auf damit, David. Hör auf, so dummes Zeug zu reden! Du … du weißt doch überhaupt nicht, was du da sagst …«

Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Doch, weiß ich. Nie in meinem Leben war ich mir einer Sache so sicher. Du verfolgst mich bis in meine Träume, Rosie. Ich ertrage den Gedanken nicht, dass wir nicht zusammen sind – dass du mit jemand anderem zusammen sein könntest. Es könnte doch wieder so sein wie früher. Ich habe es ganz deutlich gespürt – eben, als wir uns geküsst haben. Und du hast es doch auch gespürt, oder?«

»Nein, ich …«

»Oder? Du kannst mir doch nichts vormachen, Rosie! Du hast meinen Kuss erwidert. Du hast es gewollt! Komm schon, sei wenigstens ehrlich zu dir selbst. Nichts hat sich zwischen uns verändert. Der alte Zauber ist noch immer da. Und das hier …«, meinte er und zeigte auf das weiße Blütenmeer, »… das wird in zwei Tagen sowieso verschwunden sein. Es bedeutet mir nichts. Du bist alles, was ich jetzt will. Heute Nacht schon könnten wir wieder zusammen sein, und all das hier wäre morgen vergessen und vorbei.«

Entsetzt starrte ich ihn an. Ein schrecklicher, unvorstellbarer Gedanke kam mir. »So war es auch damals, oder?«

Er wollte etwas erwidern, fand aber keine Worte.

»Ich habe Recht, nicht wahr?«

»Nein … also, da war nichts, Rosie.«

Ich spürte siedend heiße Wut in mir aufsteigen. »Wer war sie?«

»Rosie, ich …«

»Wer war sie?«

»Niemand. Niemand, der weiter wichtig wäre.«

»Na ja, immerhin schien sie dir wichtig genug, um deine Hochzeit zu verpassen.«

David stöhnte und vergrub den Kopf in den Händen. »Oh nein, bitte, Rosie – nicht das schon wieder. So viel also dazu, dass du mir großherzig verziehen hättest. Sind wir damit noch immer nicht durch?«

»Ich schon. Aber du anscheinend nicht.«

»Okay, Rosie, ich habe einen Fehler gemacht. Ich hatte damals Panik. Nachdem du ins Haus gegangen warst, war ich noch was trinken und habe an der Bar eine Frau kennengelernt. Um vier Uhr morgens bin ich in ihrem Bett aufgewacht und hatte so einen Brummschädel. Was hätte ich tun sollen? Ich bin total durchgedreht. Ich konnte unmöglich zu dir zurückkehren – nicht nachdem ich das getan hatte. Ich bin zu einem Diner am Stadtrand gefahren, habe Asher angerufen und ihn gebeten zu kommen. Während ich draußen auf dem Parkplatz auf ihn wartete, schrieb ich dir den Brief. Ich hatte sonst nichts dabei, also nahm ich den Zettel mit der Liste, die du mir geschrieben hattest. Ja, ich weiß, das war so ziemlich das Letzte – aber was hätte ich denn tun sollen? Asher bat mich inständig, es mir nochmal zu überlegen, aber ich konnte nicht mehr zurück. Ich konnte es einfach nicht. Ehe er mich aufhalten konnte, bin ich auf und davon. Auf Asher ist Verlass. Ich wusste, dass er dir die Nachricht geben würde, obwohl er mein Verhalten absolut unmöglich fand. Die nächsten drei Tage bin ich einfach nur durch die Gegend gefahren. Ich war völlig fertig. Als ich kein Geld mehr hatte, rief ich meinen Vater an. Er war stinksauer und hat mir befohlen, sofort nach Hause zu kommen. Wie sich herausstellte, hatte er schon alles mit dir geklärt … tja, und das war es dann. Bitte glaub mir, dass ich dich nicht wegen dieser Frau verlassen habe – ich wusste nicht mal ihren Namen! Ich habe mich damals aus dem Staub gemacht, weil mir klargeworden war, dass du etwas Besseres als mich verdient hast.«

»Und was ist mit Rachel? Hat sie nicht auch etwas Besseres verdient? Und wenn du morgen früh in meinem Bett aufwachen würdest, was dann?«

Er ließ sich auf einen der zierlichen Stühle fallen und starrte mich mit leerem Blick an. Alle Leidenschaft war in ihm erloschen, und auf einmal sah ich das ängstliche Kind, das er im Grunde seines Herzens war. Wahrscheinlich wäre es verständlich und sogar verzeihlich gewesen, wenn ich jetzt zum verbalen Todesstoß angesetzt hätte, doch auch meine Wut war plötzlich verflogen, und er tat mir nur noch entsetzlich leid. Ich ging zurück und setzte mich neben ihn.

»Sieh nur, welch trauriges Paar wir abgeben«, meinte ich betont leichthin. »Er bindungsgestört, sie beziehungsgeschädigt. «

Er nickte müde und brachte nicht mal mehr ein Lächeln zustande. »Es tut mir leid, Rosie.« Seine Stimme brach sich.

»Liebst du Rachel?«

»Ja … ja, ich liebe sie.«

»Dann heirate sie morgen.« Wie seltsam, dass ausgerechnet ich ihm das sagen musste.

Er ließ den Kopf hängen. »Aber wie soll ich wissen, ob es das Richtige ist?«

Ich legte ihm beschwichtigend die Hand aufs Knie. »Deshalb«, erwiderte ich und deutete auf die opulent geschmückte Orangerie.

Er blickte auf und sah sich um. »Was meinst du?«

»Weil dir Rachel wichtig genug zu sein scheint, dass du trotz der schlechten Erfahrungen mit unserer Hochzeit nochmal einen Versuch wagst – mit ihr. Du hast es gerade selbst gesagt: Du warst völlig fertig, nachdem du damals weggelaufen bist. Trotzdem traust du dich noch einmal – ihr zuliebe. Mach also nicht wieder denselben Fehler, nur weil du jetzt Angst hast. Wenn du sie liebst, wirst du morgen hier stehen und auf deine Braut warten. Tu ihr das nicht an, dass sie vergeblich kommt. Das hat sie nicht verdient. Das hat niemand verdient.«

Ohne ein weiteres Wort stand ich auf und ging.