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In New York hat jede Jahreszeit ihren ganz eigenen Reiz, aber mein persönlicher Favorit ist nach wie vor die Weihnachtszeit. Ab Thanksgiving sind alle Schaufenster der Stadt festlich dekoriert, und eine prickelnde Vorfreude erfüllt mich, die ich mir wohl noch aus Kindertagen bewahrt habe, obwohl Weihnachten bei uns immer von einer gewissen Traurigkeit überschattet gewesen war, nachdem Dad sich davongemacht hatte. Mum war es trotzdem gelungen, Weihnachten jedes Jahr zu etwas unvergesslich Schönem zu machen – was wohl auch ihr selbst geholfen hat, die Feiertage zu überstehen. Wochen vorher schon hat sie mit den Vorbereitungen begonnen, Kuchen und Plätzchen gebacken, und eine Woche vor Weihnachten das ganze Haus mit Rosen und Weihnachtssternen geschmückt, mit Girlanden aus Efeu und Stechpalmenzweigen.

Ich bin so begeistert von Weihnachten, dass ich mich sogar darauf freue, alle Jahre wieder eine fast zwei Meter große Fichte eigenhändig die drei Stockwerke zu meiner Wohnung hinaufzuschleppen (weil ich nicht einsehe, für die Lieferung fünfundzwanzig Dollar extra zu zahlen oder mich mit einer praktischen Plastiktanne zu begnügen). Mum hatte immer auf einem echten Weihnachtsbaum bestanden, und nachdem ich von zu Hause ausgezogen bin, habe ich diese Tradition fortgeführt.

Und so kam es, dass ich mich auch dieses Jahr wieder (wie schon in den fünf Jahren zuvor) an einem bitterkalten Samstagmorgen zwei Wochen vor Weihnachten bei Chucks Weihnachtsbaumverkauf eingefunden hatte. Um mich warm zu halten, hatte ich gefühlte siebenundzwanzig Schichten Kleidung übereinandergezogen und stampfte mit den Füßen, damit mir die Zehen nicht abfroren. Nachdem ich meinen Baum gefunden hatte – eine absolut perfekte, prächtig gewachsene Blaufichte –, wartete ich auf niemand Geringeren als Chuck höchstpersönlich, damit er mir meinen eingenetzten Baum brachte und ich ihn nach Hause schleppen konnte (wobei mir wenigstens wieder warm werden würde).

Chuck ist in meinem Viertel eine richtige Institution. 1953 hat er angefangen, auf dem Parkplatz des alten Realto-Kinos Weihnachtsbäume von der Ladefläche des Transporters seines Vaters zu verkaufen. Ende der Achtziger wurde das Kino abgerissen, doch da hatte Chuck schon genug verdient, um das ganze Grundstück kaufen zu können und darauf eine Baumschule zu errichten. Das ganze Jahr über verkauft er Sträucher, Balkon- und Topfpflanzen, doch an Thanksgiving verwandelt sich das Gelände wundersam in Chucks berühmten Weihnachtsbaumverkauf. Dicht an dicht reihen sich Fichten und Tannen, dass einem das festliche Herz höher schlägt. Mittlerweile ist Chuck Anfang siebzig, und obwohl er die eigentliche Arbeit zunehmend an seinen Sohn und seinen Enkel übergibt, lässt er es sich nicht nehmen – wie immer mit einem dicken Zigarrenstummel im Mund, der bei jedem Wort lustig auf und ab hüpft –, voller Besitzerstolz über das Gelände zu flanieren und seinen Kunden kluge Ratschläge zu erteilen.

»Aber nicht doch, meine Dame, dieser Baum ist nichts für Sie – der ist nur was für Leute, die keinen Geschmack haben. Sie brauchen einen Baum mit Stil. Doch, vertrauen Sie mir – ich weiß, wovon ich rede. Hier, dieser Baum ist wie für Sie geschaffen. Und wegen dem Preis machen Sie sich mal keine Sorgen. Das Preisschild gilt nur für Kunden, die ich nicht mag. Aber Sie mag ich, und deshalb bekommen Sie diesen erstklassigen Baum für glatte fünfzig Dollar. Na, was sagen Sie dazu?«

Bei Chuck herrscht eigentlich immer reges Treiben, aber heute Morgen kam es mir so vor, als ob jeder im Umkreis von fünf Meilen beschlossen hätte, ausgerechnet an diesem Tag einen Baum zu kaufen. So wie ich.

»So eine Kiefer wäre auch nicht schlecht«, hörte ich auf einmal eine Stimme dicht hinter mir. Ich fuhr herum, und da stand Ed, eine Leinen-Einkaufstasche von Zabar’s lässig über der Schulter, und grinste mich an. »Frohe Weihnachten!«

»Was machst du denn hier?«, fragte ich erfreut.

»Wahrscheinlich dasselbe wie du – mir halbtote, überteuerte Bäume anschauen. Welches arme Geschöpf muss denn dieses Jahr dran glauben?«

»Blaufichte«, erwiderte ich und reckte trotzig das Kinn. »Und ich bin ja der Überzeugung, dass Weihnachten nur mit einem echten Weihnachtsbaum richtiges Weihnachten ist.«

»Hätte ich selbst nicht besser sagen können, junge Dame«, rief Chuck, der grinsend aus dem Baumdickicht hervorkam und mir meinen eingenetzten Baum überreichte. »Blaufichte – klasse Baum für eine klasse Frau. Finden Sie nicht auch, junger Mann?«

»Wenn man so was mag.« Ed gab sich unverbindlich.

Chuck runzelte die Stirn. »Meint er jetzt den Baum oder Sie?«, fragte er mich, die Zigarre zwischen den Zähnen.

Ich lächelte milde. »Armer Ungläubiger.«

Chuck lachte. »Na, dann schöne Weihnachten – Ihnen auch, Sir!« Und damit verschwand er wieder in seinem Nadelwald.

»Und wie bekommst du das Ding jetzt nach Hause?«, fragte Ed mich. »Rufst du dir etwa ein Taxi?«

»Nein, ich laufe.«

Ed musterte den Baum, dann mich. »Du machst Witze.«

»Nein, ich mache das jedes Jahr«, entgegnete ich, packte das Ende des Stamms und schleifte ihn hinter mir her. Fichtennadeln rieselten in den Schnee. »Das gehört alles zum Zauber von Weihnachten dazu.«

Ed zeigte sich wenig beeindruckt. »Na dann … Warte, ich helfe dir.« Er schnappte sich das andere Ende des Baums, fluchte leise, als die Nadeln ihn durch die Handschuhe piksten, und wuchtete ihn auf seine Schulter. »Auf geht’s, Duncan!«

Lachend legten wir die drei Blocks zu meiner Wohnung zurück und freuten uns wie Kinder über die dicken Schneeflocken, die auf unseren Wangen schmolzen. Der Himmel hatte die Farbe von geschmolzenen Marshmallows – weiß mit einem blassrosa Schimmer –, und watteweiche Schneewolken zogen gemächlich über die Wolkenkratzer hinweg. Alle Leute, denen wir unterwegs begegneten, lächelten uns so freundlich an, als ob der Baum, den wir zwischen uns trugen, ein Glücksbringer wäre, der bewirkte, dass meine Nachbarn ihre übliche Zurückhaltung aufgaben und uns allesamt in ihr Herz schlossen.

Den Baum bis in den dritten Stock zu tragen, war zu zweit weit weniger beschwerlich als allein – und das obwohl Ed wirklich ununterbrochen jammerte. Im Treppenhaus war es tatsächlich ein bisschen eng, aber nach mehreren Anläufen schafften wir es schließlich bis zu meiner Tür, manövrierten die Blaufichte hindurch und platzierten sie triumphierend an ihrem angestammten Platz im Wohnzimmer. Ed atmete erleichtert auf und ließ sich fix und fertig auf mein Sofa fallen, während ich uns zur Feier des Tages einen Kaffee machte.

»Und jetzt erzähl mal«, meinte ich, als ich mich neben ihn setzte. »Was hat dich denn heute hierhergeführt?«

»Oh, ich war einfach nur gerade hier in der Gegend.«

»Du bist nie hier in der Gegend«, wandte ich ein und musterte ihn argwöhnisch.

»Doch, bin ich«, erwiderte er.

»Ja, wenn du mich besuchst vielleicht.«

»Stimmt. Oder wenn ich zufälligerweise gerade auf der Upper West Side bin.«

»Du hasst die Upper West Side.«

»Tue ich nicht.«

Jetzt wurde ich aber wirklich misstrauisch. Ich schaute Ed prüfend an. »Doch, tust du. Du sagst immer, dass hier nur Leute leben, die mehr Geld als Verstand haben und ihren Lebenssinn ausschließlich im Shoppen sehen.«

Hier musste er sich geschlagen geben. »Okay. Aber wo ich Recht habe, habe ich Recht.«

»Und deshalb kommst du jetzt extra zum Shoppen her, oder was?«

»Der Käse bei Zabar’s ist wirklich gut.«

»Lügner.«

»Nein, es ist eine allgemein bekannte Tatsache, dass Zabar’s eine exzellente Auswahl an Käse hat«, verteidigte er sich. »Und ich mag Käse.«

»Jetzt mal im Ernst, Ed.«

Beschwichtigend hob er die Hände. »Okay, okay, Miss Marple, du hast Recht. Ich bin nur deshalb hier in der Gegend, weil ich mal schauen wollte, ob bei dir alles in Ordnung ist.«

»Alles in bester Ordnung. Da ich jetzt meinen Weihnachtsbaum habe, bin ich wunschlos glücklich.«

Dafür wurde ich mit dem Steinmann-Analytiker-Blick bedacht. Natürlich. »Das hatte ich nicht gemeint.«

»Was dann?«

Ed seufzte. »Eigentlich wollte ich wissen, ob mit uns alles okay ist.«

»Wie bitte?«

»Ich schulde dir noch eine Entschuldigung. Schon wieder. Kommt in letzter Zeit ziemlich häufig vor.« Er verdrehte genervt die Augen. »Ich hatte einfach das Gefühl, dass ich in den letzten Tagen nicht genug für dich da war.«

»Doch, warst du«, sagte ich entgeistert. »Ich meine, im Laden war die Hölle los, wir mussten die Aushilfen einarbeiten, du hattest echt viel zu tun.«

»Aber die Sache mit David …«

»Alles geklärt. Er weiß, wie ich dazu stehe, und mir ist richtig ein Stein vom Herzen gefallen, als ich mit ihm Klartext geredet habe.«

Ed senkte die Stimme. »Und dann die Sache mit Nate …«

»Was für eine Sache mit Nate?«

»Er war in letzter Zeit gar nicht mehr da.«

Abwehrend verschränkte ich die Arme vor der Brust. »Er hat eben auch viel zu tun.«

»Was denn? Dir aus dem Weg zu gehen?«

»Komm, Ed – das ist unfair.«

»Nein, ist es nicht. Du magst ihn, Rosie. Das ist ziemlich offensichtlich.«

»Stimmt. Er ist ein guter Freund.«

»Und ich glaube, er mag dich auch«, fuhr Ed unbeirrt fort.

»Er ist verlobt, Ed. Tut mir leid, aber da liegst du so was von daneben!«

Wieder hob Ed beschwichtigend die Hände. »Schon gut. Tut mir leid, wenn ich dir zu nahetrete. Geht mich ja auch nichts an. Und eigentlich wollte ich mich ja auch nur entschuldigen, weil ich so wenig Zeit für dich hatte. Ich …« Er verstummte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ich war in letzter Zeit mit meinen Gedanken woanders.«

»Kein Problem, Ed«, versicherte ich ihm, doch etwas in seiner Miene irritierte mich. »Worüber hast du nachgedacht? «

Er holte tief Luft und sah mich an. »Das ist jetzt nicht ganz einfach für mich, weil … na, du weißt schon – wegen meinem Eisberg-Komplex …«

Ed schaute mich so ernst an, dass ich lachen musste. »Tut mir leid«, sagte ich und versuchte, nicht mehr zu lachen und genauso ernst zu schauen wie er. »Lass dir ruhig Zeit mit dem Schmelzen – aber hinterher bitte alles ordentlich aufwischen.«

Erleichtert sah ich, dass Eds Augen wieder funkelten. »Spießer. Also, eigentlich wollte ich nur sagen, dass ich eine Offenbarung hatte. Sozusagen. Erinnerst du dich noch, wie du mal meintest, es würde erst dann problematisch werden, wenn man sich nicht mehr nur nach irgendjemandem sehnt, sondern nach jemand ganz Bestimmtem?«

»Ähm, ja … doch, ich erinnere mich.«

»Tja, jetzt ist es so weit.«

»Wie?« Ich konnte es kaum glauben. »Wirklich?«

Ed nickte und wirkte auf einmal seltsam verletzlich. »Ganz sicher.«

Eine Weile starrte ich ihn nur ungläubig an, und tief in mir machte sich – ich weiß eigentlich gar nicht warum –, eine leise Wehmut breit. Vielleicht lag es daran, dass jemand, von dem ich geglaubt hatte, er bliebe auch immer allein – so wie ich –, den Sprung gewagt hatte, vor dem ich immer zurückgeschreckt war. Was es auch sein mochte, ich versuchte es zu verdrängen und lächelte stattdessen mein strahlendstes Lächeln. »Wow! Das ist ja … toll. Wie hat sie es denn geschafft, den Eisberg zu durchbrechen? Hat die Glut ihrer Liebe dich dahinschmelzen lassen?«

Ed hob spöttisch eine Braue. »Du liest zu viele schlechte Romane, Rosie. Nein, so ist es nicht. Ganz im Gegenteil – sie … sie weiß nichts davon.«

»Noch nicht.«

»Wie bitte?«

»Sie weiß es noch nicht. Du wirst es ihr doch bestimmt sagen, oder?«

Entsetzt schüttelte er den Kopf. »Auf gar keinen Fall! So weit bin ich noch nicht. Ich habe ja gerade erst angefangen zu schmelzen. Jetzt bloß nichts überstürzen.«

»Das kann ich verstehen, aber denk immer schön an Billy Whitman und das Mädchen vom Wasserautomaten. Warte nicht zu lange, bis du es ihr sagst.«

Ed seufzte. »Ich weiß. Und ich werde es ihr sagen – wenn die Zeit gekommen ist. Noch ist es dafür zu früh.«

Lächelnd legte ich ihm meine Hand auf den Arm. »Das ist wirklich toll, Ed. Ich bin so stolz auf dich. Du schaffst das schon, glaub mir.«

»Kein Grund, sich lustig zu machen«, erwiderte er gereizt.

»Tue ich doch gar nicht. Ich freue mich für dich. Und – wer ist sie?«

»Streng geheim«, verkündete er in militärisch knappem Ton.

»Wenn das so ist, werde ich zu anderen Mittel greifen müssen«, meinte ich, schnappte mir ein Kissen und attackierte Ed.

Grinsend duckte er sich weg. »Erst angreifen, Fragen kommen später. Du bist schon so was von amerikanisch, Rosie!« Er zog sich das Kissen hinter seinem Rücken hervor und holte nach mir aus. Geschickt ging ich in Deckung und landete einen Gegenschlag mitten auf seiner Brust. »Aber hallo – wenn das mal keine Kriegserklärung war!«, schrie er, schnappte sich ein zweites Kissen und ging mit beiden auf mich los. Kichernd holte ich mit meinem Geschoss so weit wie möglich aus. Dummerweise verlor ich dabei das Gleichgewicht, fiel rückwärts von der Couch und landete ziemlich unheroisch auf dem Boden.

Ed bekam sich kaum noch ein vor Lachen und half mir wieder hoch, dann zog er mich an sich und schloss seine Arme um mich, als wir beide laut prustend kapitulierten. Langsam beruhigten wir uns wieder – doch Ed hielt mich noch immer in seinen Armen. Sein Kinn ruhte auf meiner Schulter, meine Wange war an seinen Hals geschmiegt. Es fühlte sich wunderbar an, so sicher. Instinktiv wichen wir zurück und saßen uns gegenüber, die Wangen erhitzt vom Gelächter, und strahlten übers ganze Gesicht.

Dann schaute Ed auf die Uhr. »Ich muss los. Auf dem Rückweg wollte ich nochmal im Laden vorbeischauen und gucken, wie die Aushilfen sich machen. Und du schmückst jetzt schön deinen Weihnachtsbaum.«

»Werde ich machen«, erwiderte ich lächelnd und brachte ihn zur Tür. »Tja, Mr Eisberg …«

Ed drehte sich nach mir um. »Ja?«

»Frohes Schmelzen.«

Kurz blitzte sein schiefes Grinsen auf, ehe er zum Abschied salutierte und eilig die Treppe hinunter verschwand.