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21

Nachdem die Aufregung um den Großen Winterball vorbei war, fand ich endlich Zeit für meine ganz persönlichen Weihnachtsvorbereitungen. Obwohl ich sonst in allen Lebenslagen ziemlich gut organisiert bin, macht es mir richtig Spaß, meine Weihnachtseinkäufe so richtig unorganisiert anzugehen. Weil bei Kowalski’s vor den Feiertagen so viel los ist, komme ich meist sowieso erst kurz vor Weihnachten dazu. Und irgendwie hat es ja seinen eigenen, ganz besonderen Reiz, in allerletzter Minute auf Geschenkejagd zu gehen. Die Hektik gehört für mich auch ein bisschen zum Weihnachtszauber. Und folglich findet man mich alle Jahre wieder am Heiligabend durch die Geschäfte hetzen, auf der Suche nach Geschenken für meine Lieben.

So auch dieses Jahr. Den ganzen Vormittag hatte ich in den kleinen Läden, Boutiquen und Buchhandlungen der Upper West Side nach Geschenken, Grußkarten und Geschenkpapier gestöbert, danach noch bei Zabar’s meine Feiertagsvorräte aufgestockt, bevor ich mich mit meinen Tüten und Taschen in ein Taxi plumpsen ließ und mir den Luxus gönnte, mich das kurze Stück bis zu meiner Wohnung chauffieren zu lassen. Während meine betagte Kaffeemaschine sich schnaufend an die Arbeit machte, räumte ich den Esstisch frei, schnappte mir Schere und Klebeband und fing an, meine Funde festlich zu verpacken. Diesen Teil der Weihnachtsvorbereitungen mag ich ganz besonders – es ist ein richtiger kleiner »Produktionsprozess«: Auswahl und Kauf der Geschenke, Einpacken der Geschenke, Schreiben von Grußkarten und Geschenkanhängern. Es ist ein richtiges Weihnachtswunder, dass aus prallgefüllten Tüten und Taschen ein kleiner Stapel weihnachtlich verpackter, wunderbar verlockender Geschenke entsteht. Dieses Jahr schrieb ich die Namen der Empfänger mit Goldstift auf große grün glänzende Stechpalmenblätter, die ich mit brauner Paketschnur an die Päckchen band. Nach einer Stunde eifrigen Schneidens, Einwickelns, Klebens und Beschriftens lehnte ich mich zufrieden zurück und betrachtete mein kleines Weihnachtswunder.

Nach einem schnellen Lunch aus Tomatensuppe und Rosmarin-Focaccia packte ich die fertigen Geschenke vorsichtig wieder in die Tüten, aus denen sie eben gekommen waren, lief nach unten und winkte ein Taxi herbei.

»Soll es auf Geschenketour gehen?«, fragte mich der Fahrer mit Blick auf meine Tüten und strahlte übers ganze Gesicht.

»Ja«, erwiderte ich lächelnd. »Wäre es okay, wenn ich Sie pauschal für den ganzen Nachmittag bezahle?«

»Ob es okay wäre? Ob es okay wäre? Natürlich ist es okay! Sie sind praktisch mein verfrühtes Weihnachtsgeschenk – meine Frau wird sich freuen. Sie liegt mir seit Wochen wegen diesem Hut in den Ohren, den sie bei Bloomingdale’s gesehen hat. ›Tony, entweder du schenkst mir diesen Hut zu Weihnachten, oder ich verlasse dich für Marco.‹ Marco ist mein Cousin. Aber sie wird mich niemals für Marco verlassen, das weiß ich. Marco ist ein Idiot, und ich mache die beste Lasagne außerhalb von Neapel. Außerdem sieht meine Tante Maria wie ein Elch aus, und meine Frau will keinen Elch als Schwiegermutter, darauf können Sie Gift nehmen. Also kein Grund zur Sorge, Tony, sage ich mir immer. Ich bin außer Konkurrenz. Wo soll es denn als Erstes hingehen?«

Allem Anschein nach hatte meine Gewohnheit, meine Geschenke auf den letzten Drücker zu kaufen und zu verteilen, auf meine Freunde abgefärbt: Celia sei nicht zu Hause, sondern besuche heute ihre Familie, teilte mir ihre Nachbarin Mrs Andrews mit, bei der ich auch das Geschenk hinterließ. Mrs Andrews versprach mir, es Celia zu geben, sobald sie zurück wäre. Marnie und ihre Schwester hatten sich in das Getümmel bei Macy’s gestürzt, weshalb ich ihr Geschenk durch den Briefschlitz warf – wie gut, dass ich ihr etwas Kleines und Robustes gekauft hatte. Und Ed war gerade auf dem Sprung, um noch ein paar Sachen zu erledigen, schlug mir aber vor, später bei mir vorbeizukommen und sein Geschenk abzuholen. Also nahm ich sein Geschenk wieder mit, verteilte meine restlichen Päckchen, und nachdem ich mit meiner Runde durch war, fuhr Tony mich wieder nach Hause.

»Fröhliche Weihnachten«, wünschte ich ihm, als ich den vereinbarten Preis plus ein großzügiges Trinkgeld bezahlte. »Ich hoffe, Ihre Frau freut sich über den Hut.«

»Wenn nicht, verlasse ich sie für ihre Cousine Margarita«, grinste Tony. »Schöne Feiertage!«

 

Obwohl es erst am Weihnachtstag die Geschenke gab, mochte ich schon als Kind den Heiligabend viel lieber. Vielleicht hatte das mit meinen Weihnachtsmannfantasien zu tun oder damit, dass nach all der Vorfreude das eigentliche Weihnachtsfest fast immer ein bisschen enttäuschend war. Heiligabend ist für mich nach wie vor der schönste Tag des Jahres: voller kindlicher Vorfreude, sentimentalen Erinnerungen und häuslicher Behaglichkeit.

Zu meinen Heiligabendritualen gehört die alljährliche Zubereitung eines Weihnachtsschinkens, den ich mit Nelken spicke und mit Lorbeerblättern gare, um am Weihnachtsmorgen damit den Truthahn zu füllen. Das mache ich seit meiner Zeit in London, wo ich das Rezept von einer Freundin bekommen habe. Das herzhafte Schinkenaroma lässt einem das Wasser im Munde zusammenlaufen und versetzt mich sofort in Weihnachtsstimmung – ebenso wie Früchtekuchen und Plätzchen. Ich liebe es, aus Mehl, Mandeln und Gewürzen kleine Pasteten und Plätzchen zu zaubern, die sich zum Auskühlen blecheweise in meiner Küche stapeln und mit ihrem Weihnachtsduft die ganze Wohnung erfüllen.

Als Früchtekuchen und Plätzchen aus dem Ofen waren und dafür der Schinken darin schmorte, ging ich hinüber ins weihnachtlich geschmückte Wohnzimmer. James hat mich als Kind immer »lamettasüchtig« genannt – und das nicht ohne Grund. Mittlerweile bin ich ein bisschen zurückhaltender, was das Lametta angeht, habe aber immer noch eine Schwäche für Weihnachtskitsch. An meinem Weihnachtsbaum hängen Nostalgiekugeln mit pausbackigen Engelchen, an meinem Fenster blinken bunte Weihnachtslichter, und dazu erschallt meine Lieblingsweihnachts-CD, auf der Frank Sinatra und Bing Crosby unvergleichliche Klassiker dahinschmachten. Schinkenduft, Zimt, Lebkuchengewürz und frischer Kaffee, stimmungsvoll untermalt von Frank und Bing, dazu der erhebende Anblick meines prachtvoll geschmückten Weihnachtsbaums: Jetzt war wirklich Weihnachten!

Gegen acht Uhr klopfte es an meine Wohnungstür – und da stand Ed, seine braune Lederjacke bis zu den rot gefrorenen Ohren hochgezogen, um den Hals einen dicken Schal, die Jeans in dicke Wollsocken gesteckt und Schnee an den Sohlen seiner Stiefel.

»Komm rein und wärm dich erst mal auf«, begrüßte ich ihn, und das ließ er sich nicht zweimal sagen.

»Wow«, staunte er, nachdem er sich die Stiefel ausgezogen hatte. »Du ziehst wirklich das volle Weihnachtsprogramm durch, was?«

»Natürlich«, meinte ich lächelnd. »Möchtest du einen Kaffee?«

»Nein, ich kann leider nicht lange bleiben«, erwiderte er entschuldigend. »Auf mich wartet noch das zweifelhafte Vergnügen, im Kreise der Familie Steinmann Weihnachten zu feiern. Eigentlich sollte ich schon längst da sein.«

»Wird bestimmt ganz lustig«, grinste ich und verschwand kurz in der Küche, um nach dem Schinken zu sehen.

Ed folgte mir ins Wohnzimmer und bewunderte kurz den Baum, der am Fenster stand. »Ja, furchtbar lustig – drei ganze Tage unter Psychiatern. Die Tischgespräche sind analytischer als bei Ally McBeal. Und was könnte mich da besser vor dem sicheren Wahnsinn bewahren, als vorher Rosie Duncan – New Yorks gefeierter Floristin! – einen kurzen Besuch abzustatten?«

Ich folgte ihm ins Wohnzimmer und drückte ihm einen meiner frisch gebackenen kleinen Früchtekuchen in die Hand. »Hier, was Süßes zum Aufwärmen.«

»Oh du patente Engländerin«, grinste Ed, steckte sich die ganze Pastete auf einmal in den Mund und schnaufte und prustete, als ihm die dampfend heiße Fruchtfüllung die Zunge verbrannte. »Mmmmh … köschtlich«, murmelte er mit vollem Mund. »Die sind ja lecker«, meinte er dann. »Wow. Du bist wirklich der menschgewordene Weihnachtsgeist. «

»Der bin ich«, grinste ich. »Willkommen in Rosie Duncans Weihnachtswunderland.« Ich hockte mich auf die Armlehne meines Sofas, und Ed ließ sich in den Sessel gegenüber plumpsen. »Schön, dass du da bist.«

»Na ja, eigentlich wollte ich nur mal schauen, was aus dem armen Baum geworden ist, nachdem du dich künstlerisch an ihm verausgabt hast. Immerhin verdankt er es mir, dass er hier ist.«

»In der Tat – ohne dich hätte er es niemals so weit geschafft. Ich hoffe, sein Anblick erfüllt dich mit Stolz.«

Ed legte sich die Hand aufs Herz und gab sich ergriffen. »Es … es ist wirklich mehr, als ich jemals zu träumen gewagt hätte«, schwärmte er, und seine Augen funkelten verschmitzt. »Was ist eigentlich mit deiner Familie? Vermisst du sie nicht?«

»Doch, ein bisschen. Mum ist bei der Verwandtschaft – eine Cousine von mir wohnt noch in der Nähe, und die beiden treffen sich immer für das Weihnachtsessen. Meine Oma lebt in einem Altenheim in Newcastle und wird da feiern und bestimmt mal wieder viel zu viel Sherry trinken. Und mein Bruder … so weit ich weiß, bleibt James dieses Jahr über Weihnachten in Washington. Ehrlich gesagt bin ich ganz froh, es mir über die Feiertage hier gemütlich machen zu können und ruhige, beschauliche Weihnachten zu haben.«

Ed grinste. »Wem sagst du das? Ich würde gern mit dir tauschen.« Dann holte er ein kleines, wunderschön verpacktes Geschenk aus seiner Jackentasche und reichte es mir. »Hier, für dich. Fröhliche Weihnachten.«

»Oh … danke. Das sieht aber schön aus.«

»Na ja, ich habe es nicht selbst eingepackt. Ich habe die Verkäuferin mit meinem Charme bezirzt und sie es einpacken lassen«, gab er zu und grinste. »Aber hey, sie hat das wirklich toll gemacht.«

Ich holte sein Geschenk unter dem Baum hervor und gab es ihm. »Dir auch fröhliche Weihnachten.«

»Oh, Rosie, das wäre doch nicht nötig gewesen … Ach, was rede ich da? Natürlich war es nötig! Immerhin bin ich der allerbeste Freund der Welt, ganz zu schweigen davon, dass ich dein übertalentierter Co-Designer bin. Aber erst morgen aufmachen, okay? Das ist bei uns Steinmanns so Tradition.«

»Okay. Das gilt dann aber auch für dich. Ich will schließlich nicht, dass du meinetwegen mit der Tradition brichst.«

»Gut, dann wäre das ja geklärt: Morgen Geschenke aufmachen und keinen Tag eher.«

Eine Frage, die mir schon den ganzen Tag immer mal wieder durch den Kopf gegangen war, tauchte ausgerechnet in diesem Moment wieder auf. »Und, bekommt … du weißt schon … jemand Bestimmtes dieses Jahr auch ein Geschenk von dir?«

Ed schaute mich an und schien kurz sprachlos zu sein. »Ja«, meinte er schließlich. »Ja, doch, bekommt sie.«

Ich verspürte einen leisen Anflug von Enttäuschung, den ich mit Begeisterung zu überspielen versuchte. »Oh, das ist ja wunderbar, Ed! Gut gemacht. Weiß sie denn mittlerweile, was du für sie empfindest?«

Er lachte. »Nein! Sie ahnt es nicht mal.«

»Vielleicht solltest du es ihr langsam mal sagen.«

Mein Vorschlag schien ihn wenig zu überzeugen. »Meinst du?«

»Aber ja. Das sollte dein guter Vorsatz fürs neue Jahr werden: Sag ihr, dass du sie magst. Wie willst du denn sonst wissen, ob sie für dich dasselbe empfindet?«

Nachdenklich schaute er mich an. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie das nicht tut. Sonst dürfte ich das mittlerweile wohl bemerkt haben.«

»Sag das nicht – manche Leute können ihre Gefühle ziemlich gut verstecken.«

»Du meinst, so wie du

Seine Frage brachte mich ein bisschen aus dem Konzept. »Ähm … ja. Beispielsweise. So was kommt doch vor – schau mich an: Sechseinhalb Jahre meines Lebens habe ich damit zugebracht, die Wahrheit darüber, was in Boston passiert ist, vor aller Welt zu verbergen, und erst als der Mann, der mich damals sitzengelassen hat, plötzlich wieder in meinem Leben aufgetaucht ist, konnte ich darüber reden.«

»Willst du damit sagen, ich müsste ein mieser Typ mit massiver Bindungsangst und emotionaler Reifestörung sein und mich hinterrücks an sie heranpirschen, um die Wahrheit aus ihr herauszubekommen?«

»Nein, das wollte ich nicht damit sagen, du Spinner. Aber du kannst kaum von ihr erwarten, dass sie weiß, dass du sie magst, wenn du es ihr nicht sagst. Vielleicht würde ihre Reaktion dich ja überraschen. Auf angenehme Weise, meine ich.«

Ein feines Lächeln spielte um seine Lippen. »Okay, Boss – ich werde es versuchen.« Er schaute auf seine Uhr und stand auf. »Jetzt muss ich aber los, damit meine besorgte Familie auf der Suche nach dem verlorenen Sohn nicht noch sämtliche Krankenhäuser der Stadt abtelefoniert. Komm, lass dich drücken.« Er legte seine Arme um mich und zog mich an sich. »Versprich mir, immer du selbst zu bleiben, Rosie Duncan. Du sollst nie wieder das Gefühl haben, etwas vor mir verbergen zu müssen.« Ich spürte seinen Atem warm in meinem Haar, als er mich mitten auf den Kopf küsste.

»Versprochen«, flüsterte ich an seiner Brust und erlaubte mir, das wunderbare Gefühl der Geborgenheit zu genießen, das ich in seinen Armen empfand, und dem Schlag seines Herzens zu lauschen.

Dann ließ er mich los, schaute mich noch einen Moment an und wandte sich wortlos ab. »Fröhliche Weihnachten, Rosie«, rief er mir über die Schulter zu, schnappte sich seine Stiefel und war verschwunden.

 

Über die Feiertage telefoniere ich immer wahnsinnig viel. Ich telefoniere mit Mum, mit meiner Oma, mit James, mit Celia (die mich meistens dann anruft, wenn ihre Familie sie gerade mal wieder in den Wahnsinn treibt, was über die Weihnachtstage eigentlich andauernd der Fall ist) und mit alten Schulfreundinnen. Aber am meisten freue ich mich immer darauf, mit Ben zu sprechen. Obwohl wir das ganze Jahr über E-Mails schreiben und oft auch am Wochenende telefonieren, sind mir unsere stundenlangen Weihnachtsgespräche immer die liebsten. Meistens reden wir über ihn: was in Boston so los ist, wie es in Harvard läuft, welche wahnwitzige, wunderbare Extremsportart er entdeckt hat und wie seine letzten, derzeitigen oder künftigen Beziehungen waren, sind oder sein werden. Dieses Jahr hatte allerdings auch ich ziemlich viel zu erzählen. Sowie Ben sich von dem Schock über Davids plötzliches Wiederauftauchen erholt hatte, bombardierte er mich geradezu mit Fragen.

»Wie oft habt ihr euch gesehen?«

»Dreimal. Das letzte Mal waren wir einen Kaffee trinken, und es war echt okay.«

»Und – hat er irgendwelche Erklärungen abgegeben? Hat er sich entschuldigt? Oder war er ganz der alte arrogante David Lithgow, wie wir ihn alle kennen und lieben? Oder hassen.«

»Er hat sich entschuldigt. Auf seine Art. Er war ziemlich zerknirscht. Er hat mir erklärt, was passiert war, und gesagt, dass es ihm leidtäte. Er ist nicht mehr so wie früher – er ist reifer und nachdenklicher.«

»Und was hast du zu ihm gesagt?«

»Ich habe ihm ziemlich genau erklärt, wie ich mich damals gefühlt habe. Leicht habe ich es ihm nicht gemacht.«

»Aber du warst mit diesem Typen einen Kaffee trinken! Was um alles in der Welt hast du dir dabei gedacht?«

»Ben, entspann dich! Das hatte sich einfach so ergeben. Aber es war gut. Wir hatten endlich Gelegenheit, offen über alles zu reden, und ich hatte das Gefühl, dass etliche Geister der Vergangenheit nun ruhen können.«

»Oh, Rosie … du klingst, als fändest du ihn noch immer toll.«

Wie bitte? Ich konnte es kaum fassen, dass Ben das auch nur denken konnte! »Spinnst du? Nein, natürlich nicht. Durch unsere Gespräche ist mir vielmehr klargeworden, dass ich nichts dergleichen mehr für ihn empfinde. Außerdem habe ich den Auftrag für seine Hochzeit angenommen – das hätte ich wohl kaum getan, wenn ich immer noch in ihn verliebt wäre, oder?«

»Wahrscheinlich nicht. Pass bloß auf, Rosie. Es freut mich, dass ihr euch ausgesprochen habt – es freut mich wirklich. Aber ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass er sich groß verändert hat. Leute wie David ändern sich nicht.«

»Jeder macht mal einen Fehler, Ben. Ich muss ihm einfach glauben, was er mir erzählt hat. Ich will es ihm glauben! Wie sollte ich sonst je einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen?«

Ein langer, tiefer Seufzer bahnte sich seinen Weg von Boston direkt in mein Ohr. »Ich will nur nicht, dass du jemals wieder so etwas wie damals durchmachen musst, okay?«

»Ja, ich weiß. Danke.«

»Und wie geht es Ed so?«

Das war eine komische Frage, fand ich. Ben hatte Ed zwar ein paarmal getroffen, als er in New York war, und sie hatten sich ganz gut verstanden – nicht zuletzt weil sie sich beide für Baseball begeisterten. Aber Ben hatte sich noch nie nach Ed erkundigt, schon gar nicht an Weihnachten. »Ähm … ganz gut, glaube ich.«

»Ich frage nur, weil du ihn in deinen letzten Mails ziemlich oft erwähnt hast.«

»Echt?«

Ben lachte. »Nö, nur ungefähr in jedem zweiten Satz. Läuft da was zwischen euch?«

»Quatsch. Natürlich nicht!«

»Ich meinte ja auch nur, dass du häufiger von ihm erzählt hast.«

Obwohl Ben es nicht sehen konnte, schüttelte ich den Kopf. »Wir arbeiten zusammen, Ben. Und in letzter Zeit war wirklich viel los. Vielleicht deshalb.«

»Na ja. Dann erzähl mir doch mal von diesem Nate.«

Viel zu erzählen gab es da nicht. Seit dem Großen Winterball hatte ich nicht viel von ihm gehört oder gesehen – und das kam mir ehrlich gesagt auch ganz gelegen. Ben und ich plauderten noch ein bisschen, und später am Abend rief dann noch Mum an. Sie erstattete wie üblich darüber Bericht, was sie so gemacht und wen sie gesehen hatte, was sie über Weihnachten vorhatte und so weiter – aber irgendwie klang sie anders als sonst.

Als sie fertig war, fragte ich sie, was los sei.

»Oh, gar nichts«, erwiderte sie wenig überzeugend.

»Komm schon, Mum – ich weiß, dass du dir wegen irgendetwas Sorgen machst.«

Schweigen. Und dann: »Ich glaube, James steckt in Schwierigkeiten.«

Meine gute Heiligabend-Laune war wie weggeblasen. »Wie kommst du darauf? Hat er was gesagt?«

»Nein, natürlich hat er nichts gesagt, Rosie, es ist nur … Als ich heute Morgen mit ihm gesprochen habe, war er sehr … ausweichend.«

»Inwiefern?«

»Als ich ihn fragte, was er über Weihnachten mache, hat er nur vage geantwortet. Und du kennst deinen Bruder: Normalerweise erzählt er einem immer lang und breit, zu welchen tollen Partys er eingeladen ist und mit welchen tollen Frauen er sich trifft und so weiter. Aber heute nichts dergleichen. Mir kam es fast so vor – und nenn mich ruhig paranoid, wenn ich das sage –, aber mir kam es so vor, als wäre er sauer, dass ich ihn überhaupt gefragt hatte. Und dann hat er mich unter einem absolut lächerlichen Vorwand abgewimmelt – er wäre gerade auf dem Sprung zu einem Meeting, hat er gesagt. An Heiligabend, ich bitte dich! Weißt du, was da los ist? Hat er vielleicht etwas gesagt, als er dich besucht hat?«

Ich entschied mich, Mum Weihnachten nicht vollends zu verderben, und erzählte ihr nichts von dem nächtlichen Telefonat, das ich mitangehört hatte, oder von den rätselhaften Andeutungen, die Celia hatte fallenlassen. »Nein, er hat mir nichts erzählt, Mum. Mach dir keine Sorgen, es ist bestimmt halb so wild. Wahrscheinlich hat er gerade Stress mit einer seiner Freundinnen und wollte nicht darüber reden.«

»Hoffentlich hast du Recht«, seufzte meine Mutter. »Versprichst du mir, mich auf dem Laufenden zu halten, wenn du was von ihm hörst? Du bist näher dran als ich. Ach, ich fühle mich schrecklich, weil Washington so weit weg ist und ich mich so gar nicht um ihn kümmern kann!«

Ich versprach ihr, ein Auge auf James zu haben, und bald danach legten wir auf. Schweren Herzens ließ ich mich in meinen Sessel zurücksinken und rieb mir die Augen. Es war Weihnachten! Ich wollte meine Ruhe und mich nicht mit all den Problemen befassen müssen, die meine Gedanken vereinnahmten: Davids plötzliche Rückkehr in mein Leben, das in letzter Zeit seltsame Verhältnis zu Ed – und jetzt noch James! Ich wollte ruhige und beschauliche Weihnachten, ich wollte die Feiertage genießen, bevor das neue Jahr mit alter Betriebsamkeit begann.

 

Der Weihnachtsmorgen zog sonnig und klar herauf, aber in der Nacht musste es sehr kalt gewesen sein, denn der Schnee war von einer feinen Eisschicht überzogen, die im blassen Dezemberlicht funkelte. Ich war schon früh wach, denn obwohl ich den Tag allein verbringen würde, wollte ich ihn bis zur letzten Minute auskosten. Ich schlüpfte in meinen superweichen weißen Bademantel, der mir ein paar Nummern zu groß und somit extra kuschelig war, und schlurfte in Pantoffeln hinüber ins Wohnzimmer, wo ich erst mal die Lichter am Weihnachtsbaum anmachte und mich einen Moment an meinem schönen, nach Fichtennadeln duftenden Baum erfreute. Dann schnappte ich mir den Stapel Weihnachtskarten vom Kaminsims und schlurfte weiter in die Küche, wo ich Hissy unbarmherzig aus dem Schlaf riss und zu morgendlicher Aktivität zu überreden versuchte. Meinen dampfenden Kaffeebecher in der einen, ein paar Früchtekuchen in der anderen Hand, kehrte ich ins Wohnzimmer zurück und machte es mir am Esstisch bequem.

Dann fiel mir Eds Geschenk wieder ein. Ich stand auf, holte es unter dem Weihnachtsbaum hervor und setzte mich wieder, um es auszupacken. Unter dem Papier kam eine kleine, mit rotem Samt bezogene Schatulle zum Vorschein. Vorsichtig öffnete ich den Deckel. Auf einem Kissen aus schwarzem Samt lag eine antike Brosche in Form einer Rose – die Blüte aus Rosenquarz, Blätter und Stiel aus grünem Strass. Ich musste daran denken, wie wir vor ein paar Monaten an einem unserer Sonntage in einem kleinen Antiquitätenladen in Greenwich Village gewesen waren und Ed sich köstlich darüber amüsiert hatte, wie ich beim Anblick einer ganzen Vitrine dieser teils kitschigen, teils wunderschönen, bunt schillernden und funkelnden Schmuckstücke ganz aus dem Häuschen gewesen war vor Entzücken.

»Du bist eben doch ein richtiges Mädchen«, grinste er.

»Stimmt«, erwiderte ich lächelnd. »Ich bin ganz verrückt nach diesem alten Kram. Meine Oma meinte immer, dass man solchen liebevoll gearbeiteten Schmuck heutzutage gar nicht mehr bekommt, und da muss ich ihr Recht geben. Moderner Modeschmuck sieht oft nur billig aus, aber das hier … das ist zauberhaft. Wenn du so etwas trägt, fühlst du dich wirklich wie eine kleine Prinzessin.«

Als ich die Brosche nun in den Händen hielt, überkam mich dieselbe kindliche Begeisterung, die ich auch damals im Laden empfunden hatte. Das war das ungewöhnlichste Geschenk, das Ed mir je gemacht hatte, und es rührte mich zu Tränen. Ich war wirklich ein richtiges Mädchen! Lachend wischte ich mir die Tränen von den Wangen und nahm mir wieder meine Weihnachtskarten vor.

Ich hatte gerade mal die Hälfte aufgemacht, als es an meine Wohnungstür klopfte. Ich ging zur Tür, doch als ich öffnete, war niemand da. Vielleicht ein paar Kinder aus dem Haus, die sich den Weihnachtsmorgen mit kleinen Scherzen vertrieben, dachte ich mir und wollte die Tür gerade wieder zumachen, als ich zu meinen Füßen einen kleinen Weidenkorb entdeckte, darin ein wunderschönes Arrangement aus winterweißen und weihnachtsroten Rosen und tannengrünen Palmblättern. Als ich mich bückte, um es aufzuheben, entdeckte ich zwischen den Blumen eine Karte. Ich machte den Umschlag auf, ging zurück in meine Wohnung und las verwundert den getippten Gruß:

Mögen deine Weihnachtstage voller Freude sein, denn du hast das schönste und glücklichste aller Feste verdient.

Während ich noch las, hörte ich unten die Haustür ins Schloss fallen. Ich sprintete zum Fenster und sah gerade noch ein Taxi die schneegesäumte Straße hinabfahren. Auf der Rückseite der Karte stand die Anschrift eines Ladens aus Lower Manhattan – Turner’s –, den ich nicht kannte. Etwas ratlos setzte ich mich wieder, stellte den Blumenkorb vor mir auf den Tisch und unterzog die Komposition einer fachmännischen Untersuchung, doch der Stil sagte mir auch nichts. Mum ist nämlich der Ansicht, dass jeder Florist seine ganz persönliche Handschrift hat. Nach sechs Jahren in New York kenne ich eigentlich den Stil fast aller Floristen in der Stadt. Aber dieses Arrangement war mir ein absolutes Rätsel. Dann ging ich im Geiste eine Liste der möglichen Absender durch. James konnte ich gleich streichen (derartige Aufmerksamkeiten liegen ihm völlig fern), Celia auch (sie macht keine anonymen Geschenke, weil sie sich gern im Glanz ihrer Großzügigkeit sonnt), ebenso David (sehr unwahrscheinlich, außerdem weiß er nicht, wo ich wohne) und Marnie (sie würde mir eher ein Zeitschriftenabo schenken oder knallbunten, selbst gemachten Schmuck) oder Ed (warum sollte er woanders Blumen kaufen?). Blieb also nur noch Nate, obwohl ich mir nicht erklären konnte, warum er mir ausgerechnet an Weihnachten Blumen schicken musste, nachdem ich seit Mimis Ball gerade mal drei SMS von ihm bekommen hatte. Es sei denn, er wollte sich damit entschuldigen? Oder wollte er mir zu verstehen geben, dass seine auf dem Ball zur Schau gestellte Verliebtheit eben nur das war – eine gelungene Inszenierung?

Viel zu viele Gedanken, die ich mir da machte, noch dazu an Weihnachten. Also verdrängte ich alles, was mir gerade so durch den Kopf ging, schaltete den Fernseher ein, suchte und fand einen Sender, auf dem White Christmas lief, und machte es mir für einen wunderbar ruhigen Tag gemütlich.