17
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte ich mich wider Erwarten schon viel besser. Im Licht des neuen Tages sah ich die Dinge auf einmal klarer. Obwohl mir noch immer alles wehtat, als wäre ich gestern einen Marathon gelaufen, war mir so leicht ums Herz wie schon lange nicht mehr. Ich setzte mich im Bett auf und musste lächeln, als ich Ed sah. Tief und fest schlief er in dem Stuhl, der am Fußende meines Bettes stand. Ziemlich verrenkt saß er da, das dunkle Haar zerzaust und meine Patchworkdecke übergeworfen. Ich schnappte mir ein paar Klamotten und huschte auf Zehenspitzen an Ed vorbei ins Bad.
Zwanzig Minuten später fühlte ich mich dank einer herrlich heißen Dusche wie neugeboren. So leise wie möglich hantierte ich in der Küche herum und machte Frühstück. Ich war fast fertig, als ich hinter mir ein verschlafenes Stöhnen hörte und ein noch ziemlich müde aussehender Ed in der Küchentür erschien. Wahrscheinlich schaffte nur er es, in diesem Zustand so gut auszusehen. Kein Wunder, dass halb New York bei ihm Schlange stand, um in den Genuss dieses Anblicks zu kommen.
»Morgen«, murmelte er und fuhr sich durch den zerzausten Haarschopf. »Mir tut alles weh.«
»Kein Wunder. Warum hast du nicht auf dem Sofa geschlafen? Der Stuhl sah ziemlich unbequem aus.«
»War er auch. Aber ich wollte da sein, falls du in der Nacht aufgewacht wärst. Du schnarchst übrigens.«
»Oh, danke.«
Die blauen Augen funkelten. »War nur ein Scherz. Geht es dir besser?« Er folgte mir ins Wohnzimmer und setzte sich an den Tisch, während ich uns Kaffee eingoss.
Ich atmete tief durch, ehe ich antwortete. »Doch, eigentlich schon. Vielleicht war es gut, dass alles endlich mal rausgekommen ist.«
Ed nippte an seinem dampfend heißen Kaffee. »Könnte sein. Klingt zumindest plausibel. Autsch, verdammt …« Er streckte seinen rechten Arm aus und ließ die Schulter kreisen, bis es knackte. »Puh … Sag mal, Celia meinte, dass du Davids Auftrag annehmen willst?« Die Frage war betont beiläufig gestellt, aber ich konnte mir schon denken, was Ed davon hielt.
»Ja, ich glaube … also, ja, ich habe zugesagt. Und um deiner Frage zuvorzukommen: Ich weiß nicht, warum. Vielleicht einfach aus Prinzip. Oder weil ich glaube, dass ich da jetzt durchmuss. David wiederzusehen war bis gestern meine größte Angst. Das wäre jetzt überstanden, und ich werde mich meiner nächstgrößten Angst stellen: nach Antworten zu suchen.«
Ed betrachtete mich nachdenklich. »Du überraschst mich immer wieder, Rosie Duncan.«
»Warum?«
Er stellte seinen Kaffeebecher ab. »Jahrelang hast du aus dieser Sache ein Geheimnis gemacht – ein Geheimnis, das dein Leben bestimmt hat und dich anderen Menschen gegenüber misstrauisch hat werden lassen. Gestern dann das unerwartete Wiedersehen mit David, und mir ist ja nicht entgangen, wie sehr dich das mitgenommen hat. Ich hätte ehrlich gesagt gedacht, dass es dich um Jahre zurückwerfen würde, dass du dich noch mehr zurückziehen würdest, noch weniger Vertrauen in andere hättest, aber schau dich heute an: Du bist voller Zuversicht und schaust sogar hoffnungsvoll nach vorn. Wie schaffst du das bloß?«
Tja, wenn ich das wüsste. »Also, wenn du es genau wissen willst – ich habe total Schiss vor dem, was noch kommt. Aber du hast es ja gerade gesagt: Ich schaue nach vorn, denn das Leben geht weiter. Und du hattest auch Recht mit dem, was du mal vor einer Weile gesagt hattest: Es gab tatsächlich noch eine andere Seite an mir, von der du nichts wusstest. Ich hätte es dir schon vor Ewigkeiten erzählen sollen. Tut mir leid.«
Ed seufzte tief. »Ah, endlich hat sie es verstanden: Der große Ed Steinmann hat immer Recht.« Er beugte sich vor, nahm meine Hand und schloss seine sanft darum. »Und du weißt auch, dass ich immer für dich da bin.«
Ich legte meine andere Hand auf seine und spürte, wie mich eine tiefe Ruhe überkam.
Zwei Tage später war ich zurück bei Kowalski’s und wurde willkommen geheißen wie ein lange verlorener Freund. Sogar das Silberglöckchen über der Tür klang ganz verzückt, als es mich wieder begrüßen durfte.
Marnie flog mir entgegen und schlang die Arme um mich. »Oh, Rosie! Wie geht es dir? Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Willst du wirklich schon wieder arbeiten? Schon dich lieber noch ein bisschen …«
Ed lachte. »Nach deiner Umarmung muss sie sich bestimmt erst mal eine Weile erholen.«
Etwas später gesellte Marnie sich zu mir und Old Faithful, die aus Leibeskräften Kaffee filterte.
»Celia hat es mir erzählt … na, du weißt schon – was passiert ist.«
Marnies besorgte Miene verursachte mir leichtes Unbehagen, das ich beherzt zu ignorieren versuchte. »Ich bin froh, dass ihr jetzt Bescheid wisst. Hoffentlich verstehst du, warum ich nicht früher darüber reden wollte.«
Sie nickte so eifrig, dass ihre pinkfarbenen Zöpfe wippten. »Das ist okay. Aber du hättest Ed mal erleben sollen …«
»Wie meinst du das?«
Sie schaute sich verstohlen um und vergewisserte sich, dass Ed nicht in Hörweite war, ehe sie antwortete. »Also … nach Celias Anruf war er wie besessen. Ich habe ihn noch nie so entschlossen erlebt. Ein Mann auf einer Mission. Echt unglaublich – vor allem in Anbetracht dessen, mit wem er an dem Abend eigentlich ein Date gehabt hätte.«
»Er hatte ein Date?« Ich war in den letzten Tagen so sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen, dass mir der Gedanke überhaupt nicht gekommen war, Ed könnte alles stehen und liegen gelassen haben, um zu meiner Rettung zu eilen.
»Mmmmh.« Marnie nickte bedeutungsvoll. »Mit Teagan Montgomery – der Nachrichtensprecherin, die es letzten Monat in die Top Ten der schönsten Frauen Manhattans der New York Post geschafft hat.«
Da staunte ich nicht schlecht. »Sicher?«
Marnie zwinkerte mir verschwörerisch zu. »Ganz sicher. Ich habe ihm sogar noch angeboten, sie für ihn anzurufen, aber er meinte, das wäre ›jetzt nicht weiter wichtig‹ – kaum zu glauben, was?«
»Ed war einfach klasse. Er hat sich wirklich rührend um mich gekümmert. Aber hätten wir etwas anderes von ihm erwartet? Immerhin ist er unser Ed.«
»Tja … ich glaube nicht, dass er das für jede getan hätte«, grinste Marnie und verschwand hinter den Ladentisch, um einen Kunden zu bedienen.
Wieder in meinem Laden zu sein, umgeben von vertrauten Menschen und meinen geliebten Blumen, gab mir neue Kraft und ließ mich Hoffnung schöpfen. Alles würde gut werden.
Den ganzen Tag über und auch noch die folgende Woche merkte ich praktisch stündlich, wie ich wieder zu alter Form auflief. Celia rief mich jeden Tag an, und Ed versprach, bei mir zu Hause vorbeizukommen, wenn mich mal wieder das kalte Grausen überkommen sollte. Aber ich kam erstaunlich gut zurecht. Natürlich überspielte ich auch viel von dem, was wirklich in mir vorging. Tief in meinem Innern herrschte immer noch Gefühlschaos, doch zu wissen, dass andere nun Bescheid wussten und ich jederzeit mit ihnen darüber reden konnte, half mir sehr und ließ alles nur noch halb so schlimm erscheinen.
Was mich jedoch beunruhigte, war, dass Nate in dieser Woche nicht wie gewohnt vorbeikam. Er rief zwar an und entschuldigte sich, dass er nicht kommen könne, und schickte mir jeden Tag SMS, um sich zu erkundigen, wie es mir gehe, aber natürlich fragte ich mich, ob er nach der Geschichte mit David auf Distanz zu mir ging. Der Gedanke lastete schwer auf mir und wollte mir gar nicht mehr aus dem Kopf gehen, so sehr ich auch versuchte, ihn abzutun.
Celia beeilte sich, meine Bedenken zu zerstreuen. »Keine Sorge, Rosie. Ich habe heute mit Nate gesprochen, und er hat sich fast nur nach dir erkundigt. Vor den Feiertagen hat er im Verlag einfach total viel um die Ohren.«
»Und seine geplante Verlobung nicht zu vergessen«, warf ich ein.
Celia verdrehte die Augen. »Seine für ihn geplante Verlobung – wenn es stimmt, was ich so höre.«
»Wenn du das sagst, wird es wohl stimmen«, lachte ich.
»In der Tat. Hat David dich jetzt eigentlich angerufen?«
Schon sein Name bereitete mir Unbehagen. Ich schluckte schwer. »Nein, noch nicht.«
Celia grinste. »Willst du wissen, was ich so gehört habe? Mr Lithgow soll bei diversen Abendveranstaltungen mit einem stilechten Accessoire gesichtet worden sein.«
»Muss ich das jetzt verstehen?« Ich hatte wirklich keine Ahnung, was sie meinte, aber ihre Begeisterung war so ansteckend, dass ich dennoch lachen musste.
»So ein Prachtexemplar von einem blauen Auge!« Sie spreizte Daumen und Zeigefinger weit auseinander, beugte sich vor und flüsterte verschwörerisch: »Da frage ich mich doch wirklich, warum Nate sich in den letzten Tagen nicht bei dir hat blickenlassen …«
»Oh nein, Celia, du glaubst doch nicht allen Ernstes …?«
Celia tat meine Frage mit einem Achselzucken ab, lächelte aber höchst bedeutungsvoll. »Wer weiß? Ich fühle mich ja stets den Fakten verpflichtet und würde mich niemals zu derartigen Spekulationen hinreißen lassen – was zudem sehr unprofessionell wäre, meine Liebe –, aber du wirst gewiss zugeben müssen, dass es durchaus eine Möglichkeit wäre und die Vermutung sich geradezu aufdrängt. Und Nate war wirklich sehr, sehr wütend, als er mein Büro letzte Woche verlassen hat.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht … Nate macht auf mich eigentlich nicht den Eindruck, als würde er Leute zusammenschlagen. Wie auch immer … Ehrlich gesagt graut es mir ziemlich davor, David wiederzusehen.«
»Mach dich nicht verrückt, Honey – das wird schon. Warte einfach ab.«
Und wie sich zeigen sollte, musste ich gar nicht lange warten.
Das Weihnachtsfieber hatte New York mittlerweile fest im Griff, und es war einer dieser völlig verrückten Tage im Laden gewesen. Wir hatten so viel zu tun, dass wir irgendwann nicht mehr wussten, wo uns der Kopf stand. Bestellte Weihnachtsdekorationen mussten pünktlich fertig werden, und es rannten uns so viele Kunden den Laden ein, dass das kleine Glöckchen über der Tür kaum noch zur Ruhe kam. Wir hatten für das Weihnachtsgeschäft vier Aushilfen eingestellt – Jocelyn, Heidi, Brady und Jack –, alles frisch ausgebildete Floristen, die uns tatkräftig zur Hand gingen. Zusammen mit Ed arbeiteten sie hinten in der Werkstatt die Bestellungen ab, während Marnie und ich vorne im Laden die Stellung hielten.
»Habe ich dir eigentlich schon erzählt, dass ich eine neue Wohnung habe?«, fragte Marnie mich, als sie einer recht beleibten, freundlich lächelnden Dame einen roten Weihnachtsstern in Papier einwickelte.
»Das ist ja toll!«, erwiderte ich vergnügt, während ich einen mürrisch dreinblickenden Mann abkassierte.
Marnie strahlte. »Und fast in SoHo – ein Freund meines Onkels hat sie mir zum Spezialpreis besorgt.«
»Wie schön, dass Sie rechtzeitig zu Weihnachten eine neue Wohnung gefunden haben«, meinte die beleibte Dame und lächelte noch herzlicher als zuvor.
»Ja, nicht wahr?«, meinte Marnie und fügte noch ein fröhliches »Schöne Weihnachten!« hinzu, als die Dame sich verabschiedete. An mich gewandt fuhr sie fort: »Sie ist wirklich total cool. Mack meint, mit der passenden Einrichtung ließe sich richtig was draus machen.«
»Mack? Ah, der Typ aus deiner Theatergruppe … Sorry, Marnie. Ich habe total vergessen, dich danach zu fragen.«
»Schon okay. Ich habe es so gemacht, wie du mir geraten hast, und ihn gefragt, ob wir mal was trinken gehen wollen. Und es war … gut. Wir haben den ganzen Abend über alles Mögliche geredet. Er ist wirklich ein toller Typ.«
Irgendwie klang das nach einem großen Aber. »Aber?«
»Er ist schwul. Aber so was von.«
»Oh nein«, seufzte ich voller Mitgefühl.
»Nein, so schlimm ist es eigentlich gar nicht, denn du hattest Recht – immerhin habe ich jetzt einen wirklich netten neuen Freund gewonnen. Und weißt du was? Er hat ein absolutes Händchen für Inneneinrichtung. Er hat mir angeboten, mich bei meiner Wohnung zu beraten. Am Samstag gehen wir shoppen.« Sie kicherte und wandte sich vergnügt dem nächsten Kunden zu.
Ich schüttelte den Kopf und musste doch lächeln. In meinem Leben ging gerade so viel drunter und drüber, dass es beruhigend war zu wissen, dass manches sich niemals ändern würde – wie beispielsweise Marnies turbulentes Liebesleben.
Mein Handy klingelte. Ich zog es aus der Hosentasche und runzelte die Stirn. Die Nummer kannte ich nicht. »Rosie Duncan, hallo.«
»Ja, hallo, Rosie Duncan«, erwiderte eine Stimme, die mir eisige Schauder über den Rücken jagte. »Hier ist David.«
Auf einmal fiel mir das Atmen schwer. »Ja … hallo.«
Es folgte eine kurze Pause, dann lachte er. »Ja, hallo. Ich muss mit dir reden, Rosie – also wegen dem Auftrag, über den wir gesprochen hatten. Meine Verlobte hatte da noch ein paar neue Einfälle für die Dekorationen, du weißt ja, wie das immer so geht …« Wieder eine Pause. Ich wappnete mich schon mal für eine weitere Welle des Schmerzes, die auch prompt über mir zusammenschlug. »Ähm, ja … könnten wir … uns heute Abend treffen? Vielleicht eine Kleinigkeit essen … Wie wäre es um sieben im Rochelle’s?«
Mir wurde so schwindelig, dass ich mich an den Ladentisch lehnen musste, doch ich versuchte ruhig und gefasst zu klingen. »Das halte ich für keine gute Idee.«
Für den Bruchteil einer Sekunde meinte ich einen flehenden Unterton in seiner Stimme zu hören. »Bitte, Rosie. Es gibt ein paar Dinge, die ich … die ich mit dir besprechen möchte.«
Auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte, aber er hatte natürlich Recht. Es gab ein paar Dinge, die wir besprechen mussten. Und je eher ich es hinter mich brachte, desto besser. »Gut. Dann um sieben im Rochelle’s.« Ich drückte das Gespräch weg, ehe er etwas erwidern konnte.
»Alles in Ordnung?« Marnie kam hinter den Ladentisch gehuscht und schaute mich besorgt an.
Ich rang mir ein Lächeln ab. »Ja, alles in Ordnung.«
Einmal, als ich ungefähr vierzehn Jahre alt war, bin ich einem echten Entdecker begegnet. Er war kürzlich erst von einer erfolgreichen Expedition an den Nordpol zurückgekehrt, und meine Schule hatte ihn eingeladen, uns von seinen Erlebnissen zu berichten. Er brachte Dias von endlos weiten Schneefeldern und Eisbären mit, von Polarforschern, die sich gegen die Kälte in leuchtend orangefarbene Schneeanzüge eingemummelt hatten, und Nachtaufnahmen, die eine nur von Polarlichtern erhellte weiße Wüste zeigten.
Unter anderem wurde er gefragt, warum er ausgerechnet Polarforscher geworden war. Seine Antwort war überraschend. »Ich war ein ängstliches Kind«, sagte er. »Meine Mutter hatte große Angst vor Spinnen, und ihre Angst hat sich auf mich übertragen. Meine Großmutter hat sich bei Gewitter immer unter der Treppe verkrochen. Ich machte es ihr nach und begann mich auch vor Gewittern zu fürchten. Irgendwann hatte ich dann vor allem Angst, was neu und anders war, als ich es kannte. Ich fürchtete mich vor allem, was ich nicht verstand. Und dann fing ich an, mich für Naturwissenschaften zu interessieren – vor allem für Biologie und Meteorologie. Während ich mich auf diese Weise den Dingen näherte, die mir Angst machten, begriff ich auf einmal, was ich mir alles entgehen ließ – die Wunder dieser Welt, die mannigfaltige Schönheit der Natur. Vielleicht bin ich ja Entdecker geworden, um Verpasstes nachzuholen. Alles, wovor ich mich früher gefürchtet hatte, wurde nun erst recht zum Gegenstand meiner Forschungen.«
Wahrscheinlich machte ich es jetzt gerade genauso.
Ich stand an der West 70th Street und schaute zum prächtigen Eingang des Rochelle’s hinauf, das sich über der von Bäumen gesäumten Straße erhob.
Höchste Zeit, Verpasstes nachzuholen, sagte ich mir und lief die Marmortreppe hinauf.
Der Maître d’ lächelte erfreut, als er mich kommen sah. »Ah, Ms Duncan, wie schön, Sie zu sehen.«
Ich lächelte zurück. »Hallo Cecil. Wie geht es Ihrer Frau?«
Cecils buschiger schwarzer Schnauzbart hob sich, als er mich anstrahlte. »Sehr gut, Ms Duncan. Und sie war ganz hingerissen von dem Strauß, den Sie zu ihrem Geburtstag gemacht haben.« Er deutete hinüber zum Restaurantbereich. »Mr Lithgow wartet bereits – wenn Sie mir bitte folgen würden.«
David stand auf, als ich an den Tisch kam. »Rosie.« Er reichte mir die Hand und zog sie rasch zurück, als ich seinen Gruß nicht erwiderte.
Nachdem wir uns gesetzt hatten, fiel mir auf, dass er mit dem Daumen der einen über die Fingerknöchel der anderen Hand rieb – etwas, das er immer machte, wenn er nervös war. Ich runzelte die Stirn. Am Telefon hatte er so selbstsicher gewirkt, weshalb es mich wunderte, ihn auf einmal so angespannt zu sehen. Andererseits gab mir das einen gewissen Vorteil. Ein Kellner brachte uns die Karte, und wir waren eine Weile damit beschäftigt zu bestellen. Doch dann waren es nur noch wir beide. Zu dieser recht frühen Stunde war das Restaurant nicht einmal zur Hälfte besetzt, und die meisten der anderen Gäste saßen auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Folglich waren wir noch mehr allein, als ich es vorhergesehen hatte.
David nahm einen Schluck Wasser, dann sah er mich an. Das Licht war gedämpft, doch ich konnte noch deutlich einen langsam verblassenden Bluterguss um sein rechtes Auge erkennen. Celias zuverlässige Quellen hatten wieder einmal Recht gehabt.
Er räusperte sich, dann sagte er endlich etwas. »Ich hätte nicht gedacht, dass du tatsächlich kommst. Ich hätte auch nicht gedacht, dass du den Auftrag annimmst.«
Ich war auf der Hut und antwortete so kühl wie möglich: »Ehrlich gesagt weiß ich selbst nicht, warum ich das getan habe.«
Seine steingrauen Augen verengten sich kaum merklich. »Ich bin froh, dass du zugesagt hast. Ehrlich, ich bin wirklich froh darüber. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schön es ist, dich wiederzusehen.«
Seine herzlichen Worte brachten mich etwas aus dem Konzept, und ich griff nach meinem Wasserglas, um seinem Blick auszuweichen.
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dich endlich gefunden zu haben«, fuhr er fort, lehnte sich vor und senkte seine Stimme. »Ich musste dich finden, Rosie. Ich … ähm, ich wollte … ein paar Dinge klarstellen …«
Glücklicherweise kam in diesem Moment unser Wein und verschaffte mir einen kleinen Aufschub. David setzte sich auf, und während er ein paar Worte mit dem Sommelier wechselte, nutzte ich die Zeit, um mich zu sammeln und für das zu wappnen, was da kommen mochte. Sobald wir wieder allein waren, ergriff ich die Initiative und wechselte das Thema.
»Nate meinte, es wäre ein sehr großer Auftrag«, fing ich an, und mir entging nicht, dass David sich bei der Erwähnung von Nates Namen unwillkürlich an sein geschundenes Auge fasste. Das war ja wirklich spannend … Ehe David etwas erwidern konnte, fuhr ich rasch fort: »Es wäre ganz gut, wenn wir heute schon mal abklären könnten, wie viele Arrangements ihr braucht, damit mein Team sich rechtzeitig darauf einstellen kann. Ich müsste ungefähr wissen, wie viele Tischdekorationen, wie viel Raumschmuck und in welcher Größenordnung wo genau geschmückt werden soll, wie viele Sträuße und Knopflochblumen benötigt werden, und – natürlich –, an welche Blumen und Farben ihr beim Brautstrauß gedacht habt.«
»Natürlich«, erwiderte David und zog einen Umschlag aus seiner Jackentasche. »Hier habe ich alles aufgelistet.« Er schob ihn mir zu. Als ich die Hand danach ausstreckte, streiften seine Finger kurz meine. Es war nur eine flüchtige, federleichte Berührung, doch ich zuckte dennoch zurück. Aber David fuhr fort, als hätte er es gar nicht bemerkt. »Wäre es hilfreich für dein Team, vorab Zugang zu den Räumlichkeiten zu haben?«
»Ja, das … das ist das übliche Prozedere«, brachte ich mit Mühe hervor, und diesmal entging es ihm nicht. Er beugte sich vor.
»Wäre es hilfreich, wenn du dir die Räumlichkeiten so bald wie möglich ansehen könntest? Ich könnte es noch vor Weihnachten einrichten. Vielleicht willst du ja auch erst mal ohne dein Team vorbeikommen – um einen ersten Eindruck zu gewinnen?«
»Nein!« Meine Antwort kam fast zu schnell, um glaubwürdig zu sein. »Nein, danke, das ist nett, wird aber nicht nötig sein. Irgendwann im Januar reicht völlig. Für unsere Planung wäre es vor allem wichtig zu wissen, wie vielfältig ihr euch die Auswahl an Blumen und welche Farben ihr euch vorstellt.«
Davids Blick war unverwandt auf mich gerichtet. »Das steht alles auf der Liste, Rosie. Ich hatte gehofft, dass wir das nicht unbedingt hier … jetzt …«
Als unser Essen kam, aßen wir zügig, obwohl ich das Gefühl hatte, dass David ebenso wenig Hunger hatte wie ich. Er erklärte mir dabei kurz die Anlage des Hauses seiner Eltern in den Hamptons, und ich beantwortete seine Fragen nach der Art der Events, die Kowalski’s bislang ausgestattet hatte. Während des ganzen Essens bewahrten wir eine gut einstudierte professionelle Distanz – fast wie damals in London.
Wehmütige Erinnerungen an unsere erste gemeinsame Arbeitswoche stürmten auf mich ein. Erinnerungen an unsere ersten Gespräche, bei denen jedes Wort sorgsam gewählt war und keiner von uns sich als Erstes aus der Deckung hatte wagen wollen. Wir waren in ein kleines, feines Spiel verstrickt, ein kompliziertes Manöver, bei dem jeder die Oberhand behalten wollte, insgeheim aber von dem anderen fasziniert war. Und wenn wir nicht aufpassten, würden wir jetzt genau dort anknüpfen. Obwohl wir beide darauf bedacht schienen, uns bedeckt zu halten, blitzte doch diese prickelnde Energie in unserer Unterhaltung auf. Ich fragte mich nur, ob David es auch spürte.
Als wir mit dem Essen fertig waren, lächelte David mich an. »Noch immer ganz die unbestechliche Geschäftsfrau. Genau wie damals, als ich dich kennengelernt habe.« Musste er das jetzt sagen? Die Erinnerung an unsere erste Begegnung fuhr mir messerscharf durchs Herz. Seine Augen funkelten, und um seine Lippen spielte ein feines Lächeln. Als ich den Blick abwandte, hörte ich ihn leise seufzen. »Okay. Ich lasse uns die Rechnung bringen.«
Nachdem wir gezahlt hatten, ließ Cecil es sich nicht nehmen, uns persönlich zur Tür zu bringen. »Ich hoffe, Sie bald wiederzusehen, Ms Duncan, Mr Lithgow.« Lächelnd sah er uns zu, wie wir uns in unsere warmen Mäntel hüllten. »Sie haben unsere Bestellung bekommen?«, fragte er mich.
»Wird wie immer pünktlich an Heiligabend bei Ihnen eintreffen«, versicherte ich ihm lächelnd.
Cecils Schnauzbart machte einen kleinen Freudensprung. »Wunderbar. Dann wünsche ich Ihnen schon schöne Weihnachten, Ms Duncan.«
»Ihnen auch schöne Weihnachten, Cecil«, erwiderte ich, als David und ich hinaus in die winterliche Kälte traten. Unten an der Straße winkte ich einem Taxi, erstarrte jedoch, als ich Davids Hand auf meiner Schulter spürte.
»Rosie, warte. Könnten wir nicht noch ein Stück zusammen gehen?«
Langsam drehte ich mich um. »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.«
Mit großen, fast hilflos dreinblickenden Augen sah er mich an. »Bitte.«
Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf, der mir noch nie gekommen war. Vielleicht ist er ja ebenso verletzt wie du. Wütend verdrängte ich den Gedanken. Warum sollte David verletzt sein?
Aber etwas in seiner Miene traf bei mir einen Nerv, den ich längst abgestorben geglaubt hatte. »Na schön. Du hast genau zehn Minuten. Dann gehe ich nach Hause.«
Wir liefen ein Stück, bis wir zu einem kleinen Park kamen, der fast völlig im Schatten eines wuchtigen Gebäudes aus den Zwanzigern verschwand. Viel war von seiner einstigen grünen Pracht nicht geblieben, doch bewahrte er sich stolz seinen etwas angestaubten Charme. David ging ein paar Schritte bis zu einer schmalen Holzbank, setzte sich und sah mich an.
»Würdest du dich einen Moment zu mir setzen?«
Ich zog meinen Mantel fester um mich. »Nein, danke. Ich stehe lieber.«
David atmete tief aus. Wie weißer Nebel hing sein Atem in der frostigen Nachtluft. »Hör zu, Rosie. Ich weiß, wie dir zumute sein muss, aber …«
Ich fiel ihm ins Wort. »Wie bitte? Könntest du das bitte nochmal sagen, David – mir war gerade so, als hätte ich dich sagen hören, du wüsstest, wie mir zumute ist?«
Er wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, doch ich kam ihm zuvor.
»Du weißt überhaupt nicht, wie mir zumute ist. Du hast überhaupt keine Ahnung, wie ich mich fühle! Also bilde dir nicht ein, du würdest es wissen, denn du wirst es nie verstehen. Nie!«
»Okay, okay, schon gut. Tut mir leid«, versuchte er mich zu besänftigen und streckte die Hand nach mir aus. »Nur … bitte … es wäre wirklich besser, wenn du dich kurz setzen würdest. Mehr wollte ich ja gar nicht sagen. Bitte.« Wieder war da dieser hilflose Ausdruck in seinem Gesicht. Ich zögerte kurz, dann gab ich nach und setzte mich so weit wie möglich von ihm entfernt. »Danke«, flüsterte er. Ich sah auf meine Uhr. Als er wieder sprach, war seine Stimme fast flehentlich. »Bitte, Rosie, sieh mich an.«
»Nein, warum sollte ich? Immerhin habe ich mich schon hingesetzt. Und überhaupt – ich habe mich heute mit dir getroffen, was wohl auch keine Selbstverständlichkeit ist. Sag einfach, was du zu sagen hast, und dann lass mich gehen. « Stur hielt ich meinen Blick auf den Boden gerichtet.
David fluchte leise. »Okay. Zu deinen Bedingungen natürlich. «
Zu meinen Bedingungen?, fragte die kleine Stimme in meinem Kopf entgeistert. Die letzten sechseinhalb Jahre hast du mir die Bedingungen vorgegeben …
Nur mit Mühe gelang es mir, eine ruhige Miene zu bewahren und mir meine Empörung nicht anmerken zu lassen, als David fortfuhr. »Puh, ist das schwer … Okay, pass auf … Mir wird langsam klar, dass ich wirklich keine Ahnung habe, was du meinetwegen durchgemacht hast. Ich weiß, dass nichts, aber auch wirklich gar nichts, was ich jetzt sage, wiedergutmachen kann, was passiert ist – was ich dir angetan habe … Aber versuchen darf ich es doch, oder?«
Ich merkte, wie er mich ansah. So, wie er mich immer angesehen hatte.
»Klar, es steht dir völlig frei zu schweigen. Schließlich habe ich all die Jahre ja auch nichts von mir hören lassen. Aber zu schweigen heißt ja nicht, dass man nichts zu sagen hätte, Rosie. Obwohl wir danach nie miteinander gesprochen haben, gab es immer ein paar Dinge, die ich dir unbedingt sagen wollte – das musst du mir glauben. Ich habe oft an dich gedacht – wie es dir wohl geht, wie du so zurechtkommst, wo du jetzt bist … Ich hatte angenommen, du wärst nach England zurückgekehrt … Ja, es stimmt, dass ich nie versucht habe, dich zu finden, aber ich wusste ehrlich gesagt auch nicht, wo ich dich suchen sollte … Oder nein … ähm, nein, das stimmt so nicht. Ich hatte Angst, dich zu finden. Die Vorstellung, mit Ben zu reden, oder mit Rosemary, war mir unerträglich. Die beiden hätten mir die Hölle heißgemacht. Und irgendwann schien es mir dann zu spät, so viele andere Dinge waren passiert, anderes war dazwischengekommen – Rachel beispielsweise … Aber von ihr willst du jetzt wahrscheinlich eher nichts hören. Natürlich nicht. Oh Mann, ich rede vielleicht dummes Zeug! Ich hätte nicht gedacht, dass ich das überhaupt mal sagen würde, aber ich hätte auch nicht gedacht, dich überhaupt nochmal wiederzusehen, aber dann … tja, da bist du jetzt … da sind wir jetzt …«
Unbehaglich rutschte ich auf der Bank nach vorn. Mein Magen krampfte sich zusammen.
»Und jetzt sind sie alle weg, die schönen Worte, die ich sagen wollte und die mir jetzt völlig unangebracht vorkommen. Nate hatte schon Recht: Ich habe es nicht verdient, dass du mir verzeihst. Ich habe es nicht mal verdient, dass du mir zuhörst.«
»Hat er dir das blaue Auge verpasst?« Eigentlich hatte ich diese Frage für mich behalten wollen, aber dann war meine Neugier doch mit mir durchgegangen.
Auch David schien überrascht. Er lachte. »Ja, Nate hat mir einfach eine reingehauen. Hätte ich ihm gar nicht zugetraut. In Yale haben wir immer gescherzt, dass er wahrscheinlich der einzige Mensch ist, der einen Boxkampf rein rhetorisch bestreiten würde.« Sein Ton wurde ernst. »Aber da habe ich mich anscheinend getäuscht. Manchmal macht er wohl auch eine Ausnahme. Für dich beispielsweise.« Seine Worte trafen mich völlig unvorbereitet, und ehe ich es mich versah, drehte ich mich zu ihm um. Als ob er einen Sieg errungen hätte, funkelten seine Augen triumphierend, und er strahlte übers ganze Gesicht. »Sieh an, Ms Duncan … Jetzt kannst du mich ja doch anschauen.«
Wütend stand ich auf. »Ich gehe jetzt nach Hause. Wahrscheinlich hätte ich mich überhaupt nicht mit dir treffen sollen. Gute Nacht, David.«
Ohne einen Blick zurück vergrub ich die Hände tief in meinen Manteltaschen und verließ eilig den Park. David rief mir etwas nach, und ich hörte seine Schritte hinter mir. Kopfschüttelnd lief ich noch schneller, rannte fast um den Block, bis ich endlich die Lichter des U-Bahn-Eingangs vor mir auftauchen sah. Noch immer rief David meinen Namen, diesmal war er schon ganz nah.
»Lass mich in Ruhe!«, rief ich zurück. Fast hatte ich die U-Bahn erreicht – nur noch ein paar Meter … Doch seine Schritte kamen näher, jetzt konnte ich sogar schon seinen Atem dicht hinter mir hören. Ich versuchte es mit einem kleinen Endspurt, doch zu spät. Er packte meinen rechten Arm und hielt mich so fest, dass ich zu ihm herumfuhr.
»Schlag mich«, stieß er atemlos hervor.
»Spinnst du?«, entgegnete ich ebenso außer Atem und versuchte, mich von ihm loszureißen. »Lass mich los.«
»Schlag mich …«, wiederholte er keuchend. »Schlag einfach zu, Rosie. Lass deine Wut raus, und dann lass uns wie vernünftige Menschen reden. Los, worauf wartest du noch? Komm schon, zeig mir, was du draufhast!«
Ich kochte vor Wut, doch meine Stimme war eiskalt. »Ich denke ja gar nicht daran. Warum musst du immer alles ins Lächerliche ziehen? Glaubst du vielleicht, dass sich so die Probleme zwischen uns aus der Welt schaffen lassen? Dass ich mich nur mal ordentlich abreagieren muss, und dann ist alles vergessen? Das wäre ziemlich praktisch für dich, was? Eine kurze Auseinandersetzung, und alles ist vorbei. So wie damals, als du mit einer schnellen Entscheidung dein kleines Problem mit mir aus der Welt geschafft hast. Glaubst du wirklich, dass das reicht?«
Ehrliche Bestürzung stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Ich … ich …«
»Ich habe den Auftrag angenommen, David, und werde ihn wie vereinbart ausführen und in diesem Rahmen mit dir zusammenarbeiten. Du bekommst den besten Service, den Kowalski’s zu bieten hat – so wie alle unsere Kunden. Denn genau das bist du für mich: ein Kunde von Kowalski’s.« Ich machte eine Pause, um Luft zu holen. Schweigend standen wir uns gegenüber. Ich merkte, wie mein Ärger langsam verflog, doch an meiner Haltung David gegenüber änderte das wenig. »Und jetzt will ich nach Hause. Lass mich bitte los.«
Noch immer fassungslos ließ David die Hände sinken. »Kann ich dich anrufen?«
»Warum?«
Seine Lippen bewegten sich stumm, doch er brachte kein Wort heraus.
»Gute Nacht, David.« Ich drehte mich um und ging davon.