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Ich erinnere mich noch daran, wie ich mit Mum die Sechs-Uhr-Nachrichten schaute, als ich ungefähr acht Jahre alt war. In meiner Kindheit gab es bestimmte Dinge, die wir immer zusammen machten – abends Nachrichten zu schauen gehörte dazu. Mum mochte die »überdrehten Moderatoren-Journalisten« auf ITV nicht, weshalb ich mit den Nachrichtensprechern »der guten alten BBC« mit ihren seriösen Mienen und der makellosen Aussprache aufgewachsen war.
Einer dieser Abende ist mir ganz besonders in Erinnerung geblieben, weil ein eher ungewöhnliches Ereignis die Nachrichten bestimmte: Drei britische Geiseln waren in Beirut freigekommen. Ich erinnere mich noch daran, wie Mum mir erklärte, dass die drei abgemagerten, furchtbar erschöpft aussehenden Männer mit den wild wuchernden Bärten fünf Jahre als vermisst gegolten hatten. Einen von ihnen sahen wir auf der Pressekonferenz sprechen. Er lächelte, als er der Welt erzählte, dass er und seine beiden Leidensgenossen es nie für möglich gehalten hätten, dass dieser Tag einmal kommen werde. Ich weiß noch, dass ich zu meiner Mutter sagte, wie glücklich er aussehe und wie sehr er sich darüber freue, endlich frei zu sein.
»Sein Gesicht mag glücklich aussehen – seine Augen nicht«, hatte Mum erwidert. »Schau dir immer die Augen an, Rosie. Sie erzählen dir die wahre Geschichte.«
Tränen waren ihr in die Augen gestiegen, als sie das sagte, und ich weiß noch, wie sie aufgestanden und zum Fernseher gegangen war. Mit beiden Händen hatte sie die untere Gesichtshälfte des Mannes bedeckt. Und es stimmte: In seinen Augen standen Angst, Schmerz und unbeschreibliche Qual. Als Mum ihre Hände wieder wegnahm, kehrte das Lächeln zurück, aber die Augen blieben seltsam leblos.
Ich habe gelernt, Leuten in die Augen zu schauen, und folglich schon in jungen Jahren teils schreckliche Wahrheiten gesehen. In Mums Augen beispielsweise, als sie das mit Dad erfahren hatte. Oder in Bens Augen, kurz bevor ich Boston verlassen hatte. Am schlimmsten war, dass ich es fast jeden Tag in meinen Augen sah. Manchmal wünschte ich mir, dass Mum mir das nie gesagt hätte. Manchmal ist es besser, wenn die Wahrheit verborgen bleibt.
Eds Augen hatten mir heute richtig Angst gemacht. Sie erzählten eine völlig andere Geschichte – eine Geschichte, von der niemand etwas zu ahnen schien. Aber so ganz schlau wurde ich nicht daraus. Das strahlende Blau seiner Augen war normalerweise warm und freundlich, stets schienen sie ungeduldig auf eine Gelegenheit zu warten, verschmitzt zu funkeln. Aber heute Nachmittag waren seine Augen kalt gewesen, durchdringend, fragend – argwöhnisch gar. Das hatte ich bei ihm nie zuvor gesehen, und es beunruhigte mich. Er hatte gesagt, dass alles okay sei. Sein Lächeln und sein Kuss hatten sagen sollen, dass alles okay sei. Das könnte ich ihm glauben, wenn ich wollte – und ich wollte es ihm glauben –, und doch blieb da ein hartnäckiges Fragezeichen. Denn während er mir beteuert hatte, dass alles okay sei, hatten seine Augen geschwiegen.
Auf dem Heimweg stellte ich fest, dass auch die Augen meines Bruders etwas verbargen. James berichtete mir glückstrahlend, was er den Tag über Schönes gemacht und mit wem er sich alles getroffen habe, doch ich wurde das ungute Gefühl nicht los, dass er mir etwas verschwieg. Dieses Gefühl hatte sich seit gestern stetig verstärkt, und bislang hatte er wenig getan, um meine Befürchtungen zu zerstreuen.
Zwei Stunden später, als James und ich uns auf den Weg ins Blue:One machten – das derzeit angesagteste Restaurant in New York –, hatte sich daran wenig geändert. Es überraschte mich, dass James dort einen Tisch bekommen hatte. Sogar Celia, die normalerweise überall eine Reservierung bekam, hatte sich einen Monat gedulden müssen. Das Restaurant befand sich im unteren Geschoss eines der besten Hotels am Broadway und wurde von Schauspielern, Fernsehstars, Filmleuten und zahlreichen Anwälten frequentiert. Doch nicht nur auf eine Tischreservierung musste man eine Weile warten: Angeblich gab es eine vierseitige Warteliste für Jobanwärter, was sich vielleicht damit erklären ließ, dass das Blue:One bei jungen Schauspielern als die Adresse galt, wo man sich sogar beim Kellnern den wirklich wichtigen Leuten präsentieren konnte.
James und ich wurden zu einem Tisch im hinteren Teil des Restaurants geführt. Das Blue:One machte seinem Namen alle Ehre: Die dunkelblauen Wände wurden von blassblau-grünlichen Bodenlichtern angestrahlt. An der türkisblauen Decke funkelten zwischen weißen Halogenleuchten winzige Lichter wie kobaltblaue Sterne, was ein ziemlich aquatisches, doch erstaunlich gemütliches Ambiente schaffte. Kellner in weißen Hemden und marineblauen Hosen, über dem Arm ein blaues Leinentuch, huschten lautlos und routiniert zwischen den blauweiß eingedeckten Tischen umher. In zwei der Wände war ein riesiges Aquarium eingelassen, in dem sich kleine Fische in allen nur erdenklichen Farben tummelten. Wenn man ihnen eine Weile zuschaute, sah es fast so aus, als bewegten sie sich im Einklang mit den Kellnern.
Als unser Kellner zwei Mojitos brachte, bestellten wir auch gleich das Essen.
James nahm einen Schluck von seinem Drink und schaute mich an. »Okay, Rosie – was ist los?«
»Wie bitte?«
»Tu nicht so. Du hast den ganzen Abend kaum ein Wort gesagt.«
Ich lächelte ihn an. »Gar nichts ist los, James. Ich hatte einfach nur einen anstrengenden Tag.«
»Puh, Glück gehabt! Ich hatte schon Angst, du würdest hier Riesenprobleme wälzen, und ich müsste dich den ganzen Abend ausquetschen, um zu erfahren, was los ist.« Sichtlich erleichtert lehnte James sich zurück. Besonders einfühlsam oder beharrlich war er noch nie gewesen. Aber genau das mag ich ja an meinem Bruder – er stellt keine unangenehmen Fragen. Auch jetzt gab er sich mit meiner Antwort zufrieden und fuhr ohne Umschweife fort: »Ich hatte einen richtig tollen Tag heute …«
»Ach ja?«
»Oh ja. Erst total touristisches Sightseeing – du weißt schon: Empire State Building, Freiheitsstatue, Macy’s –, und danach habe ich mich mit einem alten Freund aus Oxford getroffen.«
»Mit wem?«
»Erinnerst du dich noch an Hugh Jefferson-Jones?« Und wie. Meine Freundinnen und ich haben ihn immer Huge Jefferson-Jones genannt, weil er so groß und imposant war und sein bloßer Anblick einen ziemlich nachhaltigen Eindruck auf unsere empfänglichen Gemüter machte. Und wir waren nicht die Einzigen, die ihn so nannten: Es hieß, dass auch etliche seiner Kommilitoninnen – und sogar zwei Dozentinnen! – ihn »riesig« fanden, wenngleich aus völlig anderem Grund … An den Wochenenden war Huge oft bei uns zu Besuch, um mit James zum Segeln oder Bergsteigen zu gehen. Ich war damals sechzehn, und alle meine Freundinnen waren scharf auf ihn. Huge war der geborene Herzensbrecher, jemand, der von Natur aus einfach umwerfend war. Das wusste er allerdings auch – schon mit neunzehn. Mit seinen ein Meter vierundneunzig überragte er sogar noch meinen Bruder (sehr zu James’ Verdruss) und hatte einen gestählten Körper, wie ich ihn bis dahin nur in Actionfilmen gesehen hatte. Er war der Captain des Ruderteams und der Star der Theatergruppe, ein richtiger Allround-Held. Seine Familie war zudem steinreich, er sprach perfektes Queen’s English mit so tiefer, samtener Stimme, dass mir ganz flau im Bauch wurde. Kurzum: Ich war total in ihn verknallt, aber da mein Vorsatz, niemals nie zu heiraten, damals noch ungebrochen war, beschränkte ich mich aufs Anschauen.
»Wie geht es ihm?«, fragte ich.
James lächelte. »Ganz der Alte. Immer noch sehr gefragt bei den Frauen. Und immer noch durch und durch ein Schnösel. Er arbeitet jetzt beim britischen Generalkonsulat und geht bei den Vereinten Nationen ein und aus.«
Bei der Vorstellung, dass es jetzt praktisch sein Job war, Damen von Welt mit seinem Charme zu betören, musste ich grinsen. »Ich könnte mir vorstellen, dass er der geborene Diplomat ist. Gut reden konnte er schon immer.«
»Nicht nur reden«, lachte James und ließ die Eiswürfel in seinem Glas klirren. »Er hat übrigens nach dir gefragt.«
»Hat er? Was hat er gesagt?«
»›Wie geht es dem süßen kleinen Pummelchen?‹, hat er gesagt.« James lachte, als er meine Miene sah. »Er konnte kaum glauben, dass du jetzt auch hier lebst. Ich habe ihm gesagt, er soll sich am Samstag die New York Times holen und sich selbst davon überzeugen, wie sehr du dich verändert hast. Deine Karte habe ich ihm auch gegeben und gemeint, dass du Devereau Design zwar nicht das Wasser reichen könntest, aber dass er gut daran täte, seine ehemaligen Landsleute zu unterstützen.«
»Danke, James.«
»Gern geschehen.« Sarkasmus hat mein großer Bruder noch nie kapiert. »Also wir waren zum Lunch, und dann hat er mir das Konsulatsgebäude gezeigt. Er hat sich übrigens gerade von seiner zweiten Frau getrennt.«
»Seiner zweiten? Ich wusste nicht mal, dass er überhaupt verheiratet war.«
»Natürlich war er das – hast du damals auf dem Mond gelebt, Rosie? Das musst du doch mitbekommen haben, oder? Die erste hatte er noch auf der Uni kennengelernt, gleich nach dem Abschluss geheiratet und sich nach anderthalb Jahren wieder scheiden lassen. Dann hat er die Stelle am Konsulat bekommen, wo er sich mit einer Praktikantin aus der Stadtverwaltung eingelassen und sie schließlich geheiratet hat. Das ging immerhin sechs Jahre. Sie hat ihn vor ein paar Monaten für einen seiner Kollegen verlassen.«
»Schön blöd, überhaupt zu heiraten«, meinte ich. Und komisch, aber ich hätte schwören können, dass James kurz zusammenzuckte. Ich sagte nichts, beobachtete ihn aber ganz genau, als er schneller zum nächsten Thema sprang als Celia in Bestform.
»Ah … prächtig. Unser Essen kommt, wurde auch Zeit. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich sterbe vor Hunger …« Zu Hause fand ich eine Nachricht von Celia auf dem Anrufbeantworter, und während James Tee machte, rief ich sie kurz zurück.
»Rosie, Darling, ich habe eben die Fahnen für dein Feature am Samstag bekommen. Es ist wunderbar, du wirst begeistert sein, Honey! Morgen bin ich mit Henrik im The Aviary zum Lunch verabredet – vielleicht können wir uns ja vorher treffen? Du musst mir in aller Ausführlichkeit erzählen, wie es mit Brent gelaufen ist. Und mit Nate Amie.« Ich konnte hören, wie sie lächelte.
»Woher weißt du denn das schon wieder?«, fragte ich ungläubig.
Celia kicherte. »Ich bin Journalistin, Honey – das ist mein Job. Meine Quelle darf ich leider nicht preisgeben, das wäre höchst unprofessionell …« Sie legte eine bedeutungsvolle Pause ein und wartete auf meine Reaktion.
Aber so leicht würde ich es ihr nicht machen. »Stimmt, da hast du Recht. Immer schön deinen Prinzipien treu bleiben.«
Bingo! Celia platzte vor Mitteilungsdrang. »Rosie Duncan, du raubst mir noch den letzten Nerv! Okay, okay, ich sage dir, von wem ich es weiß … aber nur, weil du meine beste Freundin bist und ich dich so sehr mag. Nate hat mich heute Abend angerufen und erzählt, dass er bei dir im Laden war. Und er hat das Wort ›bemerkenswert‹ im selben Atemzug mit deinem Namen genannt!«
Ich überlegte, was er wohl gesagt haben mochte. »Rosie Duncans Laden ist wirklich bemerkenswert« – das wäre okay. »Rosie Duncans Kaffeemaschine macht bemerkenswert guten Kaffee« – auch okay. Aber was, wenn er gesagt hätte: »Schon bemerkenswert, dass Rosie Duncan sich mit diesem Laden über Wasser halten kann«? Oder »Rosie Duncan ist schon bemerkenswert komisch«? Hmmmm.
»Wenn du morgen im Laden vorbeikommst, erzähle ich dir alles über Nates Besuch«, versprach ich ihr und fügte hinzu: »Du hast mir wahrscheinlich auch Einiges zu berichten. «
»In der Tat«, erwiderte sie süffisant. »Zumal ich heute Abend auch Mimi Sutton gesehen habe.«
»Ah, jetzt wird es spannend.«
James kam mit zwei dampfenden Teetassen ins Wohnzimmer. »Ist das deine durchgeknallte Freundin? Sag ihr schöne Grüße.«
Ich grinste. »Schöne Grüße von James.«
Celias Ton veränderte sich schlagartig. »James? Dein Bruder? Er ist da?«
»Dreimal ja. Stand gestern Abend ganz überraschend bei mir auf der Matte.«
»Aber ich dachte, er wäre in Washington …« Celia klang nachdenklich.
»Ja, war er auch. Er ist nur auf einen kurzen Besuch hier. Samstag früh ist er wieder weg. Alles okay, Celia?«
Kurze Pause. Ich hörte sie atmen. »Ja, kein Grund zur Sorge, Rosie«, meinte sie dann. »Alles okay … Aber ich muss jetzt Schluss machen. Die Zwillinge reisen morgen ab – du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh ich bin. Wir wollen heute Abend Pizza bestellen und uns irgendeinen schrecklichen Film anschauen, den die beiden besorgt haben. Gut möglich, dass ich die Nacht nicht überleben werde … Aber wenn doch, sehen wir uns morgen. Mach’s gut, Honey!«
Ich runzelte verwundert die Stirn und legte auf.
»Und, wie geht es der unvergleichlichen Ms Reighton?«, wollte James wissen.
»Gut, glaube ich.« Sicher war ich mir da ehrlich gesagt nicht. »Sie schien ziemlich überrascht, dass du hier bist.«
James ließ sich neben mich aufs Sofa fallen. »Du weißt, dass Celia und ich nicht gerade dicke Freunde sind, Rosie. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, haben wir uns mächtig in die Wolle gekriegt – erinnerst du dich noch?«
Und ob. Obwohl ich es gern vergessen würde. Es war eine dieser gut gemeinten, aber leider furchtbar dummen Ideen gewesen, auf die man mit den allerbesten Absichten kommt, um sie dann zeitlebens zu bereuen. Wäre es nicht toll, wenn Celia und James sich kennenlernten?, hatte ich mir überlegt und die beiden in argloser Naivität zum Essen eingeladen. Das war ein Jahr nach meinem Umzug nach New York gewesen. Meine Wohnung war endlich fertig renoviert und eingerichtet – unter anderem mit einem großen Esstisch aus den Zwanzigern, den ich auf dem Flohmarkt aufgetrieben und eigenhändig aufgearbeitet hatte. Also, dachte ich mir, was wäre schöner, als meinen Bruder, meine beste Freundin und deren Lebensgefährten anlässlich der Wohnungseinweihung zu einem gemütlichen Essen einzuladen?
Hatte ich schon erwähnt, dass ich eine unverbesserliche Optimistin bin? Aber selbst mir fällt es schwer, den Ereignissen dieses Abends etwas Gutes abzugewinnen. Soweit ich mich erinnere, fing alles damit an, dass Jerry meinte, es sei ja hinlänglich bekannt, dass Oxford und Cambridge nicht an den akademischen Standard von Harvard und Yale heranreichten – worauf James einen Generalangriff auf die Selbstüberschätzung der Amerikaner startete (»Große Klappe, nichts dahinter«), was Celia zum Anlass nahm, schnell das Thema zu wechseln und von ihrem jüngsten Autorentreffen zu berichten, aber James hatte sich jetzt so richtig eingeschossen und bezeichnete alle amerikanischen Autoren nach Steinbeck als »prätentiöse Abschreiber«. Als ich das Dessert servierte, hatten die Gemüter sich etwas abgekühlt, und meine Gäste saßen sich in eisigem Schweigen gegenüber. Beim Kaffee wagte keiner mehr, den anderen anzuschauen. Kalte Wut brodelte unter dem Tisch. Dennoch hatte ich die Hoffnung nie aufgegeben, dass Celia und James sich eines Tages doch noch prächtig miteinander verstehen würden. Bislang eine allem Anschein nach vergebliche Hoffnung.
James tat Celias überraschte Reaktion – wie eigentlich alles, was von Celia kam – mit einem genervten Stöhnen ab und verdrehte die Augen, aber mir entging nicht, dass er Angst hatte. Er versuchte es zu überspielen, konnte es jedoch schlecht verbergen (so ähnlich wie die Schmuddelmagazine, die er als Teenie stapelweise unter seinem Bett gehortet hatte – man wusste zwar, dass da etwas war, doch was genau, konnte man nur raten).
Ich beschloss, die Sache direkt anzugehen und bot ihm ein paar Oreos an, um ihm meine Frage ein bisschen zu versüßen: »Jetzt mal raus mit der Sprache, Jim – was ist los?«
»Was soll denn los sein?«, fragte er unschuldig.
»Dein plötzlicher Besuch hier, das tolle Essen heute Abend, Celias Reaktion eben – was hast du dir diesmal eingebrockt? «
James lächelte mich strahlend an, doch es war kaum zu übersehen, wie nervös er war.
»Nichts …« Die Stimme versagte ihm. Er räusperte sich. »Nichts, Schwesterherz. Ich wollte nur mal ein Weilchen aus Washington weg und … Auch wenn du mir das nicht glaubst, aber ich habe dich wirklich vermisst.«
»Ich weiß, dass Mum dich für unfehlbar hält, aber ich mache mir Sorgen um dich. Jetzt mal ganz im Ernst: Wir wissen doch beide, dass du Probleme geradezu magisch anzuziehen scheinst.« Ohne ihn aus den Augen zu lassen, fuhr ich fort: »Als ich vorhin vom Heiraten sprach, bist du kurz zusammengezuckt. Was sollte das bedeuten?«
Wieder räusperte er sich. »Das verstehst du nicht, Rosie. Das verstehen nur Männer.« Er grinste, doch ich sah, dass ihm der Schweiß ausbrach. »Ich bin vierunddreißig – da denkt man nicht mal ans Heiraten! Nein, jetzt mal im Ernst, ich habe gerade viel zu viel Spaß im Leben, um mir darüber Gedanken zu machen. Außerdem finde ich das eine ziemlich seltsame Bemerkung – ausgerechnet von dir …« Autsch, das saß. Ich sah beiseite. Da verging auch ihm das Lächeln, und er griff nach meiner Hand. »Glaub mir, es ist alles in Ordnung. Machen wir uns doch einfach ein paar schöne Tage zusammen … Du weißt, dass du als Erste davon erfahren würdest, wenn ich Hilfe bräuchte.«
Ich musste lächeln und umarmte ihn. Noch immer langten meine Arme nicht ganz um ihn herum – genauso wie früher. Seine breiten Schultern entspannten sich, und er hielt mich eine Weile in den Armen. »Danke, kleines Schwesterchen«, murmelte er.
Als ich später im Bett lag, meinte ich plötzlich Stimmen zu hören. Ich ließ meine zerfledderte Ausgabe von E. F. Bensons Mapp & Lucia sinken (ein Geschenk von Marnie, das sie in ihrem Lieblingsantiquariat aufgestöbert hatte) und kletterte aus dem Bett. Auf Zehenspitzen schlich ich zur Tür, unter der noch Licht aus dem Wohnzimmer durchschien. Und jetzt hörte ich es ganz deutlich: James unterhielt sich in gedämpftem Flüsterton. Vorsichtig öffnete ich die Tür einen Spaltbreit und spähte hinaus. James hockte vornübergebeugt auf seinem Couchbett und sprach eindringlich in sein Handy. Er flüsterte mit heiserer Stimme, und obwohl er mir den Rücken zukehrte, war mehr als offensichtlich, dass es wohl kein sehr erfreuliches Gespräch war.
»… ist doch egal, was ich gesagt habe … ich will aus der Sache raus, kapiert? … Ja, tu, was getan werden muss … Ich … Nein, ich kann so nicht weitermachen … Ich kann es einfach nicht, okay? … Ja, ja, egal … Hör zu, ich bin Samstag zurück … Genau, reden wir dann … Ähm, nein … Ja, du auch. Gute Nacht.« Er schaltete das Telefon aus, ließ sich aufs Bett fallen und schlug die Hände vors Gesicht.
Lautlos schloss ich meine Tür wieder.